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Ausgabe:

1991

Spalte:

365-368

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Luther, Martin

Titel/Untertitel:

Luthers Geistliche Lieder und Kirchengesänge 1991

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 5

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und Armut in Ulm (270-306). Auch hier macht sie auf die Notwendigkeit
differenzierter Betrachtung im Verhältnis von propagierter
Norm und durchgeführter Praxis aufmerksam. Überhaupt
sind die Ergebnisse der Untersuchung für die Erforschung
der Geschichte der Predigt eindrucksvoll und wichtig, sofern sie
a"f ähnliche Differenzen auch im Blick auf realpolitische Bera-
tung aufmerksam machen, wie sie von einem Theologen wie
Conrad Dieterich geleistet worden ist (vgl. 240-244).

Besonders aufmerksam gemacht sei auf die S. 75-77 notierten
vorüberlegungen zur Interpretation von (gedruckten) Predigten
der frühen Neuzeit und den speziellen Hinweis auf die notwendige
Berücksichtigung der in Anlehnung an die biblische Terminologie
formulierten Topoi (140).

Der Anhang der Arbeit bietet neben den bibliographischen
Beigaben Textbeispiele aus Predigten Dieterichs in fotomechanischer
Wiedergabe sowie Tabellen zur Quote illegitimer Geburten
"i Ulm zwischen 1561 und 1650 und zu Hochzeiten nach vollzogenem
Beischlaf zwischen 1616 und 1640. Ferner sind dem Band
'0 Abbildungen beigegeben.

Die Bedeutung des Buches für die Kirchen-, Frömmigkeitsund
Predigtgeschichte liegt sowohl im exemplarischen und maßstabsetzenden
Vorstoß in eine weitgehend unerschlossene Epoche
, der noch dazu aus der Perspektive einer Profanhistorikerin
unternommen worden ist, als auch, in der mustergültigen Erschließung
von Zusammenhängen zwischen Theologie und So-
z'algeschichte, deren die Forschung so sehr bedarf. Nur auf diesem
Wege ist den Pauschalisierungen zu begegnen, die für das
17-Jh. noch allzu gängig sind. Um nun auch noch den letzten
Satz der Arbeit zustimmend und unterstreichend zu zitieren:
" Daß ihre neuen Erkenntnisse noch der Verifikation durch ähnlich
gelagerte Studien bedürfen, versteht sich von selbst" (318).
Hinzuzufügen ist noch, daß sie nach Anlage und Durchführung
auch zu solchen Studien ermutigt. Dies dürfte die beste Empfehlung
für sie sein.

Zwei Versehen sind zu berichtigen: S. 29: Es handelt sich nicht um die
Formula Concordiae, sondern um die Wittenberger Konkordie von 1536;

46 Anm. 189: Hutter ist Wittenberger, nicht Jenaer Theologieprofessor
gewesen (richtig S. 48 Anm. 196).

Leipzig Ernst Koch

[Luther. Martin:] Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge.
Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Band 35 der Weimarer
Ausgabe, bearb. von M. Jenny. Köln-Wien: Böhlau 1985.
IX. 389 S.. 1 Falttaf. 4 = Archiv zur Weimarer Ausgabe der
Werke Martin Luthers. Texte und Untersuchungen, 4. Lw. DM
165,-.

Als „ein besonderes Schmerzenskind" bezeichnete Karl Drescher
den Band WA 35 bei seinem Erscheinen 1923. In welchem
Ausmaß dieses Urteil zutraf, wurde der Lutherforschung erst mit
der Zeit bewußt. Otto Albrecht, selbst mit Nachträgen und Ergänzungen
an WA 35 beteiligt, formulierte bereits nach drei Jahren
die Kritik: „die Durcharbeit unseres Liederbandes ist sehr
mühsam" (Theol. Studien und Kritiken 98/99, H. 1,111).

In seiner Einleitung weist Jenny zu Recht daraufhin, daß eine
Revision von WA 35 durch die 71 inzwischen bekannten weiteren
Quellen, den Fortschritt der hymnologischen Forschung und
die Fehlerhaftigkeit der musikalischen Bearbeitung durch Hans
•Joachim Moser überfällig war (4). Bereits bei seiner Beschreibung
der Mängel von Mosers Bearbeitung aber stutzt der Leser:
Moniert wird die fehlende Übertragung der Melodien in die heu-
t'ge Notation. Eine zuverlässige Ausgabe von Lutherliedern mit
Texten und Melodien zusammen, „ so daß man diese Lieder auch
wirklich singen kann" (4), sei nicht vorhanden. Bewegt sich J.
damit noch im Erwartungsbereich, der für eine kritische Ausgabe
gilt? Weitere Fragen fügen sich an, so zum Verzicht auf die Wiedergabe
einiger mehrstimmiger Sätze aus der Überlieferung bis
1546, (50, zu den recht allgemein ausgefallenen Argumenten für
die Beschränkungen bei der Revision (60 und die nicht sehr übersichtlich
wiedergegebenen Editionsprinzipien. Der knappe
Überblick „Der Beginn von Luthers Liedschaffen" (120 führt zu
wenig in die Tiefe. Beispielsweise gibt es auf die Frage, warum
Luther gerade „die Psalmen und unter diesen erst noch fast
zuerst die Bußpsalmen" (13) als Vorlage nahm, in der Lutherforschung
(z. B. Klaus Burba) durchaus Antworten. Festzuhalten ist,
daß J. dem Reformator 14 Liedweisen, 7 liturgische Weisen und
11 Melodiebearbeitungen zuschreibt.

Das 2. Kap. „Zu den Quellen" (19-52) enthält Ausführungen
zur Quellenlage 1524 (J. vertritt eine mittlere Position zwischen
Lücke und Blankenburg: Walters Chorgesangbuch als 3. Entwicklungsstufe
nach den Einzeldrucken bzw. dem Achtliederbuch
und dem Erfurter Enchiridion), zum ersten Wittenberger
Gemeindegesangbuch (J. hält das von L£26 für die 2. oder 3.
Aufl.), zum Weiss'schen Sangbüchlein von 1528 (J. möchte es mit
einer verschollenen Neuausgabe des Walterschen Chorgesangbuches
identifizieren), zum nicht mehr vorhandenen zweiten Wittenberger
Gemeindegesangbuch von 1529 (J. rekonstruiert die
Ausgabe, „die sicher wesentlich von Luther betreut wurde„). In
der Konsequenz seiner Einsichten verhilft J. dem üblichen
Grundsatz, von dem Lücke u. a. abgewichen waren, wieder zu
seinem Recht: Editionsvorlage ist stets die älteste Quelle. Walters
Chorgesangbuch kann deshalb nur den Lied-Nrr. 19-24 zugrunde
gelegt werden. Für die Lied-Nrr. 1-18 sind Einblattdrucke
bzw. das Erfurter Enchiridion die Vorlagen. Für die nach
1524 entstandenen Lieder werden ebenfalls die neuen Forschungsergebnisse
in Ansatz gebracht. So ist z. B. Nr. 28 (Ein
feste Burg) nach dem Erfurter Druck von 1531 wiedergegeben, da
er nach J. ein Nachdruck des verlorenen Wittenberger Gesangbuchs
von 1529 ist. J. läßt mit seiner editorischen Entscheidung
den von Lücke im WA 35 erreichten Stand der Forschung hinter
sich. Er setzt sich aber selbst wiederum dem kritischen Blick weitergehender
Forschung aus, die seine einfallsreichen Vergleiche,
Abhängigkeitsnachweise und Rekonstruktionen wird im einzelnen
überprüfen müssen. Auf unerklärliche Reste hat J. selbst hingewiesen
(z. B. 49).

Im 3. Kap., den „Einleitungen zu den einzelnen Gesängen"
(53-135) bietet J. einen „Kommentar..., der die Einzeluntersuchungen
Luckes ... und die Angaben Mosers zu den Melodien
vereinigt, ergänzt und, soweit nötig, korrigiert" (6). Bei Nr. 1
(Gebotelied) fällt die im Text nicht begründete Erwägung auf,
Luther sei von dem Gedanken mitbestimmt gewesen: „Die
wahre Wallfahrt ist unser Lebensweg" (55). Die Neigung zu einer
nicht immer nachzuvollziehenden Argumentation wird schon
bei Nr. 2 (Nun freut euch, lieben Christen gmein) deutlicher erkennbar
, z. B.: „ Im übrigen: Wer soll diese Weise gemacht haben,
wenn nicht Luther?" (57). Zu dieser Argumentation gehört auch
die Ablehnung der Datierung Luckes von „Komm, Heiliger
Geist, Herre Gott" um Pfingsten 1524 mit der Begründung:
„was mir nicht so ohne weiteres stichhaltig erscheint" (73). Bei
den Textinterpretationen werden die Schwächen der Neubearbeitung
augenfälliger. Hier wird auch die neuere Sekundärliteratur
(z. B. Burbas Ansätze) wenig genutzt. So erinnert die Kennzeichnung
von Nr. 2 als „ein ganz persönliches poetisches
Glaubenszeugnis Luthers" (57) an Friedrich Spittas Orientierung
an den Poetikvorstellungen des 19. Jhs. Zu Nr. 8 vermutet
J., Luther habe die drei Psalmlieder Nr. 8, 9, 11 auf die Melodie
des Osterwallfahrtsliedes Nr. 2 gedichtet, um etwas von der
„österlichen Getrostheit ...in diese einander inhaltlich recht
nahe stehenden, eher düsteren Psalmen mit einfließen " zu lassen
(63). Die immer wieder erörterte Kontrafakturthese weist J. mit
musikgeschichtlicher Begründung zurück. Wozu muß dann erneut
schwankender Boden betreten werden, wenn die Be-