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Ausgabe:

1991

Spalte:

293-295

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Smid, Marikje

Titel/Untertitel:

Deutscher Protestantismus und Judentum 1932/1933 1991

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang Nr. 4

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Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichts- Der umfangreichere Teil II der Untersuchung befaßt sich mit
Treiber betrachtet" stellen den Versuch dar, aus dem vorliegenden dem Verhältnis von Protestantismus und Judentum, wobei auch die
bibelkritischen Material des Deismus, wie es von Reimarus und an- Nachkriegshistoriographie kurz gewürdigt wird,
deren polemisch aufbereitet worden war, unter Berücksichtigung Im Blick auf die Stellung der protestantischen Universitätstheolo-
Patristischer Quellen eine neue Theorie der Kanonsgeschichte auf- gie wird punktuell auf die verschiedenen Disziplinen eingegangen,
zustellen, die es ermöglicht, die Entstehung der Evangelien im Ver- Exemplarisch steht für die alttestamentliche Disziplin Johannes
hältnis zur mündlichen Jesusüberlieferung zu erklären. Obwohl Les- Hempel, für die neutestamenthche Gerhard Kittel. Auch die Hal-
s'ngs Thesen zu einem Teil der späteren historischen Überprüfung tung von Emanuel Hirsch als Vertreter der Holl-Schule steht zur
nicht standgehalten haben, liegt hier doch eine Konzeption vor, die Debatte. Bei der Systematik ist auf Paul Althaus, der s.ch ausführh-
« erstaunlichem Maße Einsichten der Evangelienforschung vorweg- eher zur Judenfrage geäußert hat (301), sowie auf Karl Barth Bezug
nimmt, die inzwischen zum Grundgerüst der Einleitungswissen- genommen. „Politische Weitsicht und theologische Unsicherheiten
schaft gehören Lessing war sich dabei dessen bewußt, daß er mit in der Beurteilung des völkischen Antisemitismus" werden bei der
seiner Hochschätzung der mündlichen Tradition (vor der schriftli- praktischen Theologie diagnostiziert. Ein gewichtiges Wort zur Jüchen
Fixierung) der katholischen Bibelwissenschaft näher stand als denfrage fehle dort, wenn man von Karl Fezers redigierten DC-
der protestantischen. Helmut Göbel ist in seinem Editionskommen- Richtlinien von 1933 absieht.

tar zur Göpfertschen Lessingausgabe (Bd. VII, 919-940) darauf aus- Hermeneutisch wichtig ist die mehrdimensionale Sicht: religiöser
fuhrlicher eingegangen. In einer Zeit, in der die Bibelwissenschaft Antijudaismus, sozio-kulturelle Judenfeindschaft und Rassenantise-
in einer früher unvorstellbaren Weise das ökumenische Gespräch mitismus werden unterschieden, aber auch in ihrer korrelativen Beaufgenommen
hat, würde es lohnen, diesen frühen, unkonventionel- deutung erkannt (188, 199, 317 u. ö.). Daß christlicher Antijudais-
'en Versuch Lessings wissenschaftlich gründlicher zu würdigen. Of- mus auch Zugänge freilegen konnte, auf Volkstumsideologie
fenbar handelt es sich dabei um ein Defizit der Lessingforschung leichter einzugehen, und Aversionen gegen jüdisch-liberahst.sche
überhaupt Lessing hat sich selbst nicht als Fachtheologen verstan- Einflüsse im Kulturleben auszulösen vermochte, ist unbestritten,
den. Als engagierter Laientheologe und als Historiker mit einer pro- wenngleich hier jedes zwanghafte Moment ferngehalten werden
funden patristischen Bildung hat es ihn aber gelockt, den Fachtheo- muß. Das wird an Harnack deutlich, der bei Bestreitung der genuin
'°gen nicht nur kritisch, sondern auch konzeptionell Gegenposi- kanonischen Geltung des Alten Testaments für die evangelische
'ionen zu präsentieren. Kirche auf der politisch- kulturellen Ebene für Gleichberechtigung

So bietet diese vorliegende Lessing-Ausgabe ungemein hilfreiches der jüdischen Mitbürger eintrat.

Material für die Weiterführung der Forschung nicht nur zu Lessing Gegen G. L. Mosse, der die antisemitische Grundhaltung der

selbst, sondern auch zur Theologiegeschichte der Aufklärung. Konservativen zu stark generalisiert, wird der besondere Charakter

des nationalsozialistischen Rassenideologie betont. Auch die Beob-

Bcriin Harald Schultze achtung, daß die Ablehnung des Nationalsozialismus nicht immer

gleichbedeutend war mit der Ablehnung des Antisemitismus, legt
die von der Autorin geforderte differenzierte Begrifflichkeit bei der

. , . , , . ,mn Beurteilung nahe (198).

^mid. Mankje: Deutscher Protestantismus und Judentum 1932/ ^ Smid favorjsjert jm Anschluß an E Bethge eing theo,ogj.

1933. München: Kaiser 1990. XXX, 547 S. 8 = Heidelberger Un- ^ Aufarbeitung des christiichen Antijudaismus als Gegenwarts-

tersuchungen zu Widerstand, Judenverfolgung und Kirchen- aufgabe Ausgangspunkt einer re|ativ f^hen realistischen Sichtwei-

kampf im Dritten Reich, 2. Kart. DM 110,-. se dje dje kirchliche Schutzfunktion gegenüber den Juden im

Dritten Reich ohne introvertierte Beschränkung auf die juden-
Die Heidelberger Dissertation von Marikje Smid, im Rahmen cnristlicnen Glieder der christlichen Gemeinde mit der theologi-
der von H. E. Tödt initiierten Forschungen erarbeitet, zielt thema- schen Besinnung verbindet, ist ßonhoeffers Haltung in der Juden-
t'sch auf das Verhältnis von Protestantismus und Judentum im Jah- frage Qhne ein£n biographisch aufwejsbaren Lernprozeß in den
fe 1932/33 unter besonderer Berücksichtigung der Position Bonho- Jahren ,932 und 1933 (perSpektivisch auch fur Später) zu überse-
efTers in der Judenfrage. Danach vertrat Bonhoeffer „grundsätzlich ^ wird konstatiert daß Bonhoeffer schon damals nicht das Verandere
Orientierungen und Optionen, als sie zu jenem Zeitpunkt def Kjrche zum Staat sondern das Verhältnis des Staates zu
gemeinhin im deutschen Nationalprotestantismus gesucht und ver- ^ }udm zum Kriterium des nStatus confessionis" gemacht hat,
treten worden sind" (468). In informatorischem Aufriß wird neben während sdbst Karl Barth hier zur Zurückhaltung mahnte (473),
der Beschreibung der Forschungslage zunächst eine ausführliche wejl ihm def staatlicne Arierparagraph im Verhältnis zur grundsätz-
^oblemanzeige vermittelt. Dabei kommt das „Judentum und die Hchen Bekenntnisfrage a]s Kampfmotiv im Kirchenstreit sekundär
Judenfrage vor 1933" im Blick auf innerjüdische Auseinanderset- erschien Das „Grundübel" sei vielmehr „das theologische System
zungen ins Visier und werden „Ausbau und Verfall der rechtlichen, ^ Neuprotestantismus mit der Uroffenbarungslehre" (292).
w'rtschaftlichen und politischen Stellung der deutschen Juden in Banh habg (rotz grundsatzlicher Ablehnung des Arierparagra-
der Nachkriegszeit bis zur Jahreswende 1932/33" nachgezeichnet. ^ ^ dem Ansinnen versagt im Frühjahr 1933 öffentlich zu-
Neben demographischen Angaben (550000 Juden in Deutschland, gunsten verfemter judenchnsten zu protestieren, weil „angesichts
"nter 2 Prozent der Bevölkerung) wird facettenreich die Bedeutung ^ Kompromißlosigkeit der Nationalsozialisten gerade in der Juder
jüdischen Intellektuellen im Kulturleben der Weimarer Repu- denfrage ein öffentiicher Protest seinerseits unweigerlich den völli-
bl'k zur Sprache gebracht, auch in der Kunstszenerie. Selbstdarstel- ^ auch unserer legitimen Bewegungsfreiheit in dem uns
'ungen des modernen Judentums im damaligen Deutschland wer- zugewiesenen Bezirk der Kirche> nach sich ziehen würde - ein
den skizzenhaft reproduziert (Leo Baeck, Martin Buber, Franz preis den ^ zah,en ßarth nQch a,s zu hoch abweisr (296). Auch
Kosenzweig). Eine wichtige Information bietet die ebenfalls aus der bej Bonhoeffer der die judenfrage nach ihrer politischen Seite von
Literatur gewonnene Darstellung der Weimarer Parteien zu den Ju- Anfang gn m sejne uberIegung einbezog, sieht die Vfn. anfangs
den ,n der Spätphase der Republik. Galt zunächst die Deutsche De- noch gewjsse züge eings rdigiösen Antijudaismus wirksam. Er habe
mokratische Partei, zuletzt als Staatsparte, nahezu einflußlos, als entscheidende reIigiös. antijudaistische Traditionen des Protestan-
ausgesprochene „Judenpartei", so nahm die Zahl der jüdischen tjsmus ,933 ^ njch( hjnter sjch ge,assen^ (479) Doch wird an
^PD-Wähler später stark zu. Auch das die Weimarer Staatlichkeit dem Aufsatz Bonhoeffers ^ Kjrche vor der Judenfrage" analy-
m'ttragende Zentrum hat Vertrauen bei jüdischen Wahlern gefun- ^ aufgewiesen daß er bereits singu|are Entscheidungen getroffen