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Ausgabe:

1991

Spalte:

280-282

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fiore, Benjamin

Titel/Untertitel:

The function of personal example in the socratic and pastoral epistles 1991

Rezensent:

Roloff, Jürgen

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als Gefangenschaftsbrief der letzte Brief des P. ist, liegt ihm besonders. Nach
einem Exkurs über Hypothesen anderer Exegetcn zur Chronologie der Pau-
lusbricfe bringt F. im 6. Kap. eine Interpretation von Gal 2,19-21; hier zeige
sich der mystische Höhepunkt der geistlichen Entwicklung des P. Ein Abschnitt
„Conclusion" rundet die Ausführungen ab.

Die Kritik an F.s Begründung seiner Konzeption kann hier nur
symptomatisch geschehen. Zunächst zur Frage der „Authentizität".
Sein Resultat ist das heute allgemein akzeptierte. Seine recht genauen
Analysen unter dem Gesichtspunkt des bei Paulus erscheinenden
„Ich" dürften also in dieser Hinsicht ihre methodische Zuverlässigkeit
erwiesen haben.

Nicht ohne Interesse liest man auch den Abschnitt (im 3. Kap.),
in dem F. das Ich in den alttestamentlichen Zitaten untersucht. Der
Leser bekommt manche interessante Anregung. Zuweilen ist er aber
ein wenig verwundert, und zwar genau da, wo F. in seine Argumentation
psychologische Überlegungen einträgt, wo er durch die Kombination
von linguistischen und psychologischen Argumenten ein
Urteil über das Unbewußte des P. fällt. So „gleitet" nach seiner
Auffassung z. B. im Zitat Ps 17,50LXX in Rom 15.9 das Ich des P.
in ein bereits existentes Ich, es geschieht eine einfache Aktualisierung
des Ichs im Zitat durch das paulinische Ich. Also erkenne
man, wie sich im linguistischen Ich der innere Konflikt zwischen reellem
und existentiellem Ich spiegelt. Nach F. zögert P. ein wenig;
doch gerade dieses Zögern des linguistischen Ichs liefere recht exakt
eine psychologische Auskunft « sur le 'je' en conflict dans sa recher-
che de soi-meme » (92). Es sei höchst bezeichnend, daß das ich des
P. sich wie ein Prophet, wie Elia, wie David und schließlich wie Jesus
Christus zu definieren suche. Freilich sage Paulus nirgends „Ich
bin ein Prophet" oder „ich bin Elia".

An sich ist der Ansatz bei der Frage nach der Funktion des Ichs
bei P. äußerst fruchtbringend. Ich bin auch der Meinung, daß die
psychologische Fragestellung an die Person des P. aufgrund von autobiographischen
und anderen seiner Äußerungen im Prinzip möglich
ist, wobei jedoch äußerste Behutsamkeit und Vorsicht unbedingt
geboten sind. Im Text eines Toten kann man sicherlich
einiges über seine psychische Konstitution entnehmen. Aber man
kann einen Toten nicht einer tiefenpsychologischen Analyse unterziehen
. Um es drastisch zu sagen: Keiner vermag heute P. auf die
Couch zu legen! F. weiß also mehr, als man wissen kann.

Die größten Bedenken werden die meisten Leser wegen der Sequenz
„Rom - Gal" haben. Auch hier ist die psychologische Argumentation
im hohen Maße federführend. Entscheidend ist aber
auch das angeblich aus der Analyse des von P. gebrauchten Ichs zu
gewinnende Ergebnis, daß - einmal abgesehen von den Zitaten -
dieser sich damit immer selbst meint, also auch in Rom 7! Aber
diese Hypothese kann F. nicht einsichtig machen; hier bleibt das
Entscheidende reine Behauptung. Gegen Werner Kümmel wird das
Ich in Rom 7 autobiographisch und zudem noch auf den Augenblick
der Niederschrift des Briefes gedeutet. Das Ich-Kriterium allein
tut's aber nicht! Die Argumente Kümmels und all der seither
an der Diskussion an Rom 7 beteiligten Autoren werden keiner
wirklichen Diskussion gewürdigt. Auf diese Weise kann F. dann sagen
, daß P., nachdem er in IKor 13 eine Art Euphorie und Quasienthusiasmus
dokumentiert habe, in Rom 7 in seinem Inneren
tief gespalten sei. Das Ausbleiben der Parusie und vor allem die
Probleme mit seinen Gemeinden, von Judenchristen bewirkt, hätten
ihn vor die Frage nach dem Gesetz gebracht. Und genau diese
Frage habe auf ihn zurückgewirkt «jusqu'au point de le diviser tres
profondement » (262). Rom 7 also als Ausdruck dafür, daß er mit
dem Problem des alttestamentlichen Gesetzes nicht zu Rande gekommen
ist! Im danach geschriebenen 2Kor zeige er sich « comple-
tement transforme malgre les adversites subies » (262). Hier habe
also P. wieder etwas von seiner inneren Ruhe zurückgewonnen.

Im Gal schließlich zeige er, vor allem in Gal 2,19-21, daß er die
Krise von Rom 7 überstanden habe (214): « A ce moment, Rm 7
est totalement depasse. » P. ist zwar im Gefängnis, aber es ficht ihn

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nicht mehr an. Er lebt jetzt in der Einheit mit Christus, er ist auf
der Höhe seiner spirituellen und mystischen Erfahrung. Und so lesen
wir dann (275): «Sans contestc, apres de telles parolcs, Paul est
maintenant plus proche de sa mort physique. En Gal 2,19-21, nous
sommes bien au dernier Stade de l'experience paulinienne: il ne lui
manque plus que la duree eternelle! Le 'je' linguistique. utilise par
Paul, apres bien des etapes que l'on peut reperer dans les textes.
s'est replie sur lui-meme au niveau conscient (les 'je' reflexifs), mais
cela n'a pas abouti ä une sorte de recroquevillement psychologique
sur soi ou ä un eclatement du sujet. »

Eines ist vor allem ärgerlich an dieser psychologischen Konstruktion
: Die weltweit geführte Debatte um das Gesetz bei P. - von
England bis Deutschland, von Deutschland bis Finnland, von Finnland
bis Amerika und wieder zurück nach England - und in diesem
Zusammenhang auch die Diskussion, ob der Apostel in der Gesetzesfrage
eine theologische Entwicklung durchgemacht habe - all
dies wird ignoriert, die Autoren (in chronologischer Reihenfolge
Georg Strecker. John Dräne, Hans Hübner, Ulrich Wilckens. Heik-
ki Räisänen. Ed P. Sanders, James Dunn) werden in dieser Hinsicht
nicht genannt. Wie will man über die theologische und religiöse
Entwicklung des P. reden, ohne sich in diese internationale Debatte
einzureihen? Dabei sagt F. selber, daß P. mit der Gesetzesfragc „an
das Herz des Problems" herangekommen wäre (208). Aber die Literatur
dazu ignoriert er.

Alles in allem: Ein enttäuschendes Buch. Die Diskussion um das
Ich bei Paulus muß also ab ovo neu geführt werden. Schade, daß
dadurch auch das, was in F.s Buch gut ist, in Mißkredit gerät!

Göttingen Hans Hübner

H. D. Beiz, Der Galaterbrief. München 1988. 230. Anm. 82.

Fiore, Benjamin, S. J.: The Function of Personal Example in the
Socratic and Pastoral Epistles. Rom: Biblical Institute Press
1986. XVIII, 283 S. gr. 8 = Analecta Biblica, 105. Lire 50.000.

Manche Anzeichen sprechen dafür, daß die exegetische Arbeit an
den Pastoralbriefen nach längerer Stagnation in einer neuen Phase
begriffen ist. Endlich wird die Engführung auf die Diskussion über
das Pro und Contra paulinischer Autorschaft aufgebrochen zugunsten
weiterführender Fragestellungen, von denen vor allen zwei in
den Vordergrund treten. Die erste geht, die offenkundigen theologischen
Intentionen des Briefcorpus gleichsam beim Wort nehmend,
den Zusammenhängen mit der genuin paulinischen Tradition nach:
Wie und in welchem Sinn werden Themen und Aussagen aus Paulusbriefen
aufgenommen und in eine neue Situation hinein transformiert
? Die zweite Fragestellung sucht den Ort der Pastoralbriefe
innerhalb der zeitgenössischen hellenistischen Literatur genauer zu
bestimmen, indem sie rhetorische Muster und inhaltliche Motive,
die auf diesen Bereich verweisen, in den Blick nimmt.

Die Studie von Fiore, die als von A. J. Malherbe betreute Dissertation
an der Yale University entstanden ist, weiß sich vornehmlich
dieser zweiten Fragestellung verpflichtet. Sie sucht die paräneti-
schen Strukturen der Pastoralbriefe zu erhellen, indem sie die der
frühen römischen Kaiserzeit entstammenden Sokratiker-Bricfe als
Vergleichsmaterial heranzieht. Dieses Pseudonyme Briefcorpus. das
zum kleineren Teil Briefe des Sokrates (ep. 1-7). zum größeren
Briefe der - als eine Art von Gemeinde gedachten - Schüler des Sokrates
(ep. 8-29) enthält, verfolgt das Ziel, die Gedankenwelt eines
milden Kynismus zu propagieren und zu verteidigen. Dabei spielt
neben der Verpflichtung zur Bewahrung der von Sokrates herkommenden
Tradition die Einübung in jene Lebenspraxis eine Rolle,
die durch das persönliche Beispiel des Sokrates und seiner Schüler
vorgeprägt ist.

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang Nr. 4