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Ausgabe:

1991

Spalte:

276-277

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Genesis 1991

Rezensent:

Schreiner, Stefan

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang Nr. 4

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Unterricht eingeführt werden, die es erlaubt, „unseren Jesaja" als
großen Schriftsteller, „als eine Art Shakespeare" zu sehen. Ahad
Ha'am auf der anderen Seite lehnt die Bibelkritik grundsätzlich ab
und versucht, die jüdische Tradition durch die Jahrhunderte als nationale
Kultur zu definieren. Einig sind sich beide Ansätze aber darin
, den Tenach mit Volk, Land und Sprache zu verbinden, denn
das „Nationalbuch" ist zugleich „das heilige Buch der Nation". Ohne
Tenach kann ein Jude nicht sein. Diese grundlegende Erkenntnis
wird selbst vom „Bibelunterricht im sozialistischen Trend" nicht
geleugnet, der doch sehr „merkwürdige Blüten" getrieben hat: So
möchte z. B. Joseph Waschnitz neben dem Land und der Arbeit
auch die Bibel von religiöser Bevormundung „erlösen" und Morde-
chai Segal hat gar einen „Tenach ohne Gott" herausgebracht, der es
fertigbringt, sogar den Gottesnamen aus biblischen Erzählungen zu
eliminieren. Die Beispiele für die Behandlung von Bibelabschnitten
zeigen „alle" denkbaren Unterschiede eindrücklich auf. Dabei wird
auch ein grundsätzliches Problem biblischer Exegese und Hermeneutik
aufgezeigt: das Verhältnis des Textes einerseits zum Kommentar
und seiner Interpretation andererseits. Es kann geschehen,
daß Kommentar und Interpretation eine größere Bedeutung erlangen
als der zugrunde liegende Text. Die Exegese hat also immer
wieder die Aufgabe, den Text aufstrahlen zu lassen, wobei freilich
der Kontext von Zeit, Politik und Geellschaft nicht übersehen werden
darf und kann, der seinerseits ebenso der Kritik bedarf wie der
Überlieferungsvorgang der Textgeschichte. Auch hier heißt Auslegen
Verstehen und Verstehen ist Auslegung. Diese hermeneutische
Aufgabe obliegt nun sowohl Juden als auch Christen; gegenüber
dem Tenach und der Verantwortung für die Welt sind wir zum Dialog
und zur Kooperation aufgerufen. Diese Kooperation ist um so
sinnvoller und umfassender, ,je wichtiger und selbständiger die
Rolle des Alten Testaments im christlichen Denken ist" (p 242)!
Das heißt m. E. z. B. auch, daß wir auf die jüdische Auslegung des
Tenach mehr hören als bisher. Die Hiob-Interpretation von Isaa-
char Jacobson (pp 206ff) könnte dabei hilfreich sein und uns zu einem
„neuen Denken" fuhren. „Jacobson begreift den Unterschied
zwischen den Reden Gottes und den vorausgegangenen Reden
Hiobs und seiner Freunde als eine, wie er es nennt, Kopernikani-
sche Wende im biblischen Denken" (p 207). Nicht mehr der
Mensch steht im Mittelpunkt, sondern die Schöpfung, die der
Mensch nicht nach „ihrem Nutzwert" beurteilen darf. Nicht Reichtum
und Erfolg sind wichtig, sondern „nur ein Wert bleibt: Gott nahe
sein." Sollten das nicht Juden und Christen gemeinsam der Welt
künden?

Sowohl der Auftrag der Verkündigung als auch die Hermeneutik
der Schrift führen Juden und Christen zum Dialog.

Der Vf. findet vier hermeneutische Strukturen, um die Beziehung
des Tenach als Quelle zu beschreiben, die gemeinsame Voraussetzungen
von Betrachtung der Schrift und der Situation in der Welt
sind (pp 228ff): „1. Modernes Selbstverständnis kann sich den alten
Quellen unterwerfen ... 2. Bei der zweiten Art der Beziehung wird
modernes Selbstverständnis auf die alte Quelle projiziert ... 3. Eine
dritte Art der Beziehung ergibt sich, wenn das moderne Selbstverständnis
der Bibel gegenübertritt . 4. Die vierte Möglichkeit der Beziehung
ist die Loslösung des modernen Selbstverständnisses von
der Bibel..."

Von diesen hermeneutischen Strukturen scheint die dritte, die
Gegenüberstellung von Tenach und modernem Selbstverständnis,
die „brauchbarste" für die Pädagogik in Israel zu sein: einzudringen
in die Schrift und ihre Relevanz für den sog. modernen Menschen,
für uns also, zu prüfen, um neuen Sinn in der alten Bibel zu finden.
Obwohl der Tenach eine Quelle jüdischer Identität ist und das Alte
Testament eine Quelle christlicher Identität bleibt, ist das Hören
und Auslegen der Schrift als des Wortes Gottes bleibender und verbindender
Auftrag von Juden und Christen. So ist des Vf.s Buch ein
Aufruf zum nötigen Dialog.

Berlin Gerhard Begrieh

Townsend, John T.: Midrash Tanhuma. Translated into English
with Introductions, Indices, and Brief Notes (S. Buber Recen
sion).I. Genesis. Hoboken, NJ: KTAV 1989. XVII, 334 S. gr. 8.
1W.$ 39,50.

Es ist eine Pionierarbeit, die John Townsend - laut Klappentext
ist er Professor of Judaism and Biblical Language at the Episcopal
Divinity School und "long active in the movement to improve Je-
wish-Christian relations" - mit seiner Übersetzung des Midrash
Tanchuma (ferner: MidrTari), deren erster Teil nunmehr vorliegt,
in Angriff genommen hat; denn während mit H. Bietenhards Übersetzung
"Midrasch Tanhuma B. R. Tanhuma über die Tora, genannt
Midrasch Jelammedenu", 2 Bde (Bern-Frankfurt/M.-Nan-
cy-New York 1980-82 = Judaica et Christiana, Bd. 5/6) seit einigen
Jahren nun schon eine deutschsprachige Version zugänglich ist, war
eine englische bislang ein Desiderat geblieben.

MidrTan - in einem Geleitwort zu Townsends Übersetzung charakterisiert
ihn Yaakov Elman als "one of the jewels of early medie-
val Jewish literature, exceptional not only in the limpid purity of its
Hebrew, its lofty sentiments and insightful exegesis of the biblical
text, but also in its skillful blending of material from many earlier
collections of aggadah" (. IX) - steht dabei für eine Mehrzahl voneinander
höchst verschiedener Rezensionen eines homiletischen
Midrasch zum Pentateuch, von denen drei zum gesamten Penta-
teuch, andere hingegen - wie die hierher gehörenden Midraschim
DevR (Standardausgabe und ed. Lieberman), ShemR XV-LII zu
Ex 12-40, BemR XV-XXIII zu Num 8-36 u. a. - nur zu einzelnen
Teilen daraus überliefert sind. Die drei zum gesamten Pentateuch
vorhandenen Rezensionen sind die Standardausgabe des MidrTan
(editio princeps Mantua 1563, letzter Neudruck Jerusalem 1970),
die auf dem Codex Oxon. Opp. 20 basierende Ausgabe Solomon
Bubers (Midrasch Tanchuma: Ein agadischer Commentar zum Pentateuch
von Rabbi Tanchuma ben Rabbi Abba, 2 Bde, Wilna 1885.
letzter Neudruck Jerusalem 1964) sowie der Codex Vaticanus
Ebr. 34, die ebenfalls alle voneinander stark abweichen und je für
sich eine "distinct textual group" repräsentieren.

Hatte H. Bietenhard seiner Übersetzung den Codex Vaticanus
Ebr. 34 zugrunde gelegt, so bildet für Townsends Übersetzung S.
Bubers Ausgabe die Textgrundlage. Über Entstehungszeit und -ort
dieser Rezension ebenso wie über ihr Verhältnis zu den anderen
Rezensionen liegen trotz vielfältiger Forschungen im Grunde wenig
verläßliche Daten vor. Was bekannt ist, hat der Vf. in der Introduc-
tion (Xlff) zusammengefaßt. Trotz der Untersuchung von Felix
Böhl (Aufbau und literarische Formen des aggadischen Teils im Je-
lamdenu-Midrasch, Wiesbaden 1977) hält er dabei an der bis heute
allgemein üblichen Spätdatierung (Süditalien, 2. Hälfte des 8. Jh.s)
fest, ohne sich allerdings auf eine eingehende Diskussion aller Argumente
einzulassen. Dies hat er auch nicht als seine Aufgabe angesehen
. Seine Aufgabe ist es (gewesen), den hebräischen Midrasch dem
englischsprachigen, des Hebräischen nicht kundigen Leser nahezubringen
. Über die Verfahrensweise gibt er in der Introduction
(XIII-XVII) hinreichend Auskunft.

Die Übersetzung, die sich in der Mitte "between slavish litera-
lism and an excessively free rendering" bewegt (XV), ist sehr sorgfältig
, stets genau der Buberschen Textausgabe folgend, gearbeitet
und sehr gut zu lesen. Zum Verständnis unbedingt notwendige Zusatzinformationen
sind in Fußnoten untergebracht, in denen zugleich
auch die Parallelstellen in der rabbinischen Literatur aufgelistet
werden, sofern vorhanden. Ausführliche Indices der Biblical
References (303-326) und der Namen und Sachen (327-334) bieten
dem Benutzer eine willkommene Hilfe beim Wiederauffinden gesuchter
Auslegungen resp. Kommentierungen. In der Gliederung
des Textes folgt der Übersetzer der üblichen Parascheneinteilung.
der der einjährige synagogale Lesezyklus zugrunde liegt. Während
diese Paraschen jedoch üblicherweise nach ihren hebräischen Anfangsworten
zitiert werden, nennt der Übersetzer dieses Ordnungs-