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Ausgabe:

1991

Spalte:

220-221

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Kairos? 1991

Rezensent:

Huber, Wolfgang

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219

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 3

220

Suche nach gesellschaftlichen Orientierungen zukünftig - inzwischen
nochmals verstärkt durch den Umbruch in Osteuropa - wohl noch an
Bedeutung gewinnen wird. Heute relevante ökologische Leitideen
wurden in der Grundwertedebatte der 70er Jahre mit ihren Leitbegriffen
Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität freilich noch nicht hinreichend
wahrgenommen. Daß jedoch auch die „alten" Grundwerte, etwa die
Gerechtigkeit oder die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung,
derzeit einer erneuten, vertieften materialethischen Konkretion
bedürfen, ist allein schon durch die Gentechnologie und durch die mit
ihr verbundenen sozialen Gefahren eines genetischen Screening oder
einer „prädiktiven Medizin" (so im Jahr 1988 die EG-Kommission)
offenkundig.

Wachtberg Hartmut Kreß

Hanigan, James P.: Homosexuality. The Test Case for Christian
Sexual Ethics. New York-Mahwah: Paulist Press 1988. V, 193 S. 8°
= Theological Inquiries. Kart. $ 9.95.

James Hanigan, Professor für röm.-kath. Moraltheologie an der
Duquesne-Universität in Pittsburgh (USA), sucht angesichts der Differenzen
zwischen biblisch-kirchlicher Tradition und dem heutigen
Sexualwissen und -verhalten nach einem neuen Vorschlag, Sexualität
und christlichen Glauben aufeinander zu beziehen (Introduction,
1-15).

1. The Homosexual Situation (17-34): Für eine christliche Ethik
ist es unannehmbar, eine Minderheit von einem erfüllten und verantwortlichen
Leben auch im Sexuellen auszuschließen. Trotz der wissenschaftlichen
Neuerkenntnisse steht die Kirche ratlos vor der
Homosexualität. Heuchelei grassiert. Eine am Evangelium
(Mt 5,43-48) orientierte Ethik muß neue Wege suchen.

2. The Biblical and Theological Tradition (35-58): Gen 19,1 ff;
Lev 18,22; 20,13; Rom l,26f; IKor6,9f und ITim l,9f werden in
ihren Zusammenhängen vorgestellt. Als autoritative Weisungen können
sie angesichts unseres heutigen Wissens über Homosexualität
nicht dienen. Kirchenlehre wird vor allem an „Casti connubii",
„Gaudium et Spes" und „Humanae Vitae" als zunehmend differenziert
dargestellt. Das kirchliche Lehramt hat in Aufnahme heutigen
Wissens Konsequenzen für die Homosexualität zu ziehen.

3. Moral Evaluations (59-88): Verschiedene ethische Konzeptionen
- von der katholisch traditionellen bis zum Ansatz von der moralischen
Neutralität, weil privaten Verantwortung der Sexualität -
werden verglichen. Ergebnisse: Homosexuelle werden den Maßstäben
katholischer Sexualmoral nicht gerecht. Eine entwicklungsunfähige
Tradition (der Diskriminierung) aber atmet nicht mehr Heiligen
Geist. Beliebigkeit jedoch ist für Christen keine Lösung des
Problems.

4. Sexuality and Vocation (89-112): Jeder Mensch ist mit der göttlichen
Gabe seiner Sexualität zu einem Leben in Liebe von Gott berufen
. Ehe ist einschließlich der Bereitschaft für Kinder eine Weise, dem
Ruf Gottes zu antworten, der Zölibat eine andere. Das gilt auch für
Alleinlebende, die nicht den Zölibat wählen. Insofern der Dienst der
Liebe Antwort auf den Ruf der Gnade ist, hat auch unsere Sexualität
zu antworten.

5. Sex and the Virtue of Chastity (113-132): Der Wert der Enthaltsamkeit
gründet in der Freiheit, die Christus schenkt, und ist darum
positive, erfüllte und zärtliche Menschlichkeit ohne jede Abwertung
der Sexualität. Hetero- wie homosexuelle Christen können in ihr
Gabe und Aufgabe des Lebens in Gnade und im Trachten nach dem
Reich Gottes erkennen. Die hingebende Liebe Christi, die in der
Eucharistie empfangen wird und die die Glaubenden in Liebe, Versöhnung
und Hoffnung eint, kann in Analogie zur Sexualität verstanden
werden.

6. Sin, Sex and Human Freedom (133-159): Sünde ist das Vergessen
des Willens Gottes („aktive und passive Idolatrie", 191). Männliche
Vorherrschaft in Kirche und Gesellschaft hat die Homosexualität
einseitig als Sünde überbewertet und diskriminiert. Diese Diskriminierung
kann aufhören, wenn erkannt wird, daß alle Menschen zur
Auseinandersetzung mit der Macht des Bösen berufen sind, um zur
Freiheit, die Christus schenkt, zu finden.

7. God's Will and Human Knowledge (160-184): Angesichts der
Dialektik zwischen göttlich-absolutem Willen und menschlichbegrenztem
Wissen ist dringend der Dialog zwischen Hetero- und
Homosexuellen in der Kirche zu fordern und zu fördern. Dabei haben
die Homosexuellen ihren Protest einzubringen, ohne sich ausschließen
zu lassen. Die Heterosexuellen müssen die umfassende kirchliche
Lehre von der menschlichen Würde der Sexualität im Dienst der
Liebe Gottes begründen. Theologen wie Pfarrer brauchen angesichts
der nordamerikanischen sexuellen Oberflächlichkeit eine neue
„moralische Vision" (178).

8. Epilogue (185-193): Sexualität, die in die Liebe und den Dienst
für das kommende Reich Gottes integriert ist, kann nicht mehr diskriminierend
verstanden werden, auch und gerade nicht für Homosexuelle
. Gottes Gnade wirkt inmitten menschlicher Schwäche und
Fragilität. Eine christliche Sexualethik will darum „gute Nachricht"
für jeden Menschen sein.

Eine engagierte und mutige Arbeit, die gleichwohl differenziert vorgeht
und die Schwierigkeiten sichtbar macht, die die katholische
Sexualmoral mit der Homosexualität von alters her hat.

Hansjürgen Schulz t

Wagner, Herwig [Hg.]: Kairos? Perspektiven für eine evangelische
Ethik in politischen Spannungs- und Umbruchsituationen - konkret
: Südafrika. Erarb. im Auftrag des Landesausschusses für Weltmission
und Ökumenische Arbeit der Evang.-Luth. Kirche in
Bayern von H. Becker, H. Jehle, F. Soellner, J. Track u. H. Wagner.
Hannover: Luth. Verlagshaus 1989. 239 S. kl. 8° = Zur Sache, 31.
Kart. DM 12,80.

Eine Gruppe südafrikanischer Theologen veröffentlichte 1985 in
erster, 1986 in zweiter Aufl. eine theologische Stellungnahme zur
aktuellen Situation in Südafrika, das „Kairos-Dokument". Es löste
innerhalb wie außerhalb des Landes ein ungewöhnlich intensives
Echo aus: denn es warf in einer neuen Weise die Frage nach dem Verhältnis
von christlichem Glauben und Politik auf. Prägend für das
Kairos-Dokument ist die Erfahrung der schwarzen Mehrheit in Südafrika
, in einem überwiegend christlichen Land, in dem gerade die
Herrschaft der weißen Minderheit und die Politik der Rassentrennung
im Namen des christlichen Glaubens legitimiert wurde. Es ist kaum
eine stärkere Provokation für eine theologische Ethik des Politischen
denkbar als das Faktum, daß sowohl die Apartheid-Politik als auch
der Protest gegen sie aus dem christlichen Glauben begründet wurde.
Das Kairos-Dokument hat die Befürwortung der Apartheid als
„Staatstheologie" verworfen, eine vermeintliche Vermittlerrolle der
Kirche als „Kirchentheologie" kritisiert und sich selbst für eine
„prophetische Theologie" ausgesprochen, die sich am Ziel der Uberwindung
von Ungerechtigkeit orientiert.

Wie in anderen Ländern, so hat das Kairos-Dokument auch im
deutschsprachigen Bereich eine kontroverse Debatte ausgelöst. Einen
Beitrag zu dieser Debatte aus lutherischer Perspektive leistet der hier
anzuzeigende Band. Er wurde im Auftrag des Landesausschusses für
Weltmission und Ökumenische Arbeit der Evangelisch-Lutherischen
Kirche in Bayern von Horst Becker, Helmut Jehle, Franz Soellner.
Joachim Track und Herwig Wagner erarbeitet.

Den ersten Teil des Buches nimmt ein von der Autorengruppe
gemeinsam verantwortetes Arbeitsergebnis unter dem Titel „Perspektiven
für eine evangelische Ethik in politischen Spannungs- und
Umbruchsituationen - konkret: Südafrika" ein (9-118). Den zweiten
Teil bilden Referate von Ausschußmitgliedern zu bestimmten Aspekten
des Kairos-Dokuments (121-237).

Diese Referate sind nicht nur von unterschiedlicher Qualität; sie
zeigen auch, daß die Arbeitsgruppe von höchst unterschiedlichen