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Ausgabe:

1991

Spalte:

217-219

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Brunner, Gottlieb

Titel/Untertitel:

Grundwerte als Fundament der pluralistischen Gesellschaft 1991

Rezensent:

Kreß, Hartmut

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 3

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dorbenen Gemüte'... niemals ein Massenphänomen werden". (112)
Der Mensch ist Tür Drey als „homo religiosus" nicht nur in essentieller
„Gleichheit des menschlichen Organismus" (im Leiblichen) und in
der moralischen und vernünftigen Anlage (animal rationale), sondern
■n seiner anderen Lebewesen gegenüber exklusiv zu verstehenden
Auszeichnung als „ein mit der religiösen Anlage ausgestattetes
Wesen, einem genauso unzerstörbar angeborenen Organ für das Göttliche
wie dem für das Physische, sittlich Gute und Wahre". (113)

Beeinflußt von Schleiermacher, ist Drey darauf aus, als „Kernpunkt
seines Religionsverständnisses" im „Gemüt die religiöse Anlage zu
suchen". (139) Es beschreibe treffend „Kraft, Vermögen, Sinn", „den
Quellpunkt, aus dem die Urkraft des göttlichen Geistes heraus den
Sanzen Menschen gestaltet". (146) Weder in Verstand und Vernunft
a's den erkennenden, noch in Gewissen und Willen als den praktischen
Geistesvermögen findet Drey die religiöse Anlage, sondern im
Gemüt. (231) Beeinflußt sei Drey hier von romantischen, protestantischen
, insbesondere pietistischen zeitgenössischen Prägungen. (231)
~ Das bedeute aber bei Drey keine Desavouierung der Vernunft. Er
differenziere zwischen eingeschränkter (Vernunft als Teilphänomen
"n menschlichen Geistesleben [134]) und übergreifender, das Ganze
des Geistes bezeichnende Vernunft (133). In letzterer könne durchaus
-die religiöse Anlage... gesucht und entsprechend die vernünftige
Anlage mit ihr gleichgesetzt werden". (133) Die (sc. das Göttliche)
Vei"nehmende Vernunft sei zugleich als hervorbringende zu verstehen.
(133)

Drey versteht die religiöse Anlage nicht passiv habituell, sondern
entfaltet als geschehende Entwicklung, die sich auslegt im Erziehungs-
und Bildungsvorgang. Dreys Ansatz erweise sich als „eine Anthropo-
zentrik im Horizont der Theozentrik. denn die menschliche Natur ist
■n ihrer .Entwicklung" bleibend im Geschöpfsein gegründet und im
•Erziehungsprozeß' an Gott verwiesen". (238) Dreys Position mit
E- Klinger ..einen dialektischen .Traditionalismus'" (239) zu nennen
'st zu allgemein und blaß und verdeckt Dreys Profil. - Ob, wie Tiefensee
meint. Dreys Ausführungen zur religiösen Anlage (allerdings mit
aktuellen „Lokalisierungen") für heutige theologische Arbeit fruchtbar
sein könnten (239), mag gefragt werden können. Dies aber ist
n,eht Tiefensees Thema. Allerdings bleibt der Rezensent wegen der
historischen „Abständigkeit" und der zeitlich bedingten theologischen
und religionsphilosophischen Argumentation Dreys hier
skeptisch.

Dem Vf. ist Dank zu sagen, Johann Sebastian Dreys naturphiloso-
Phische und religionsphilosophische Argumentation sorgfältig und
£ut aus den Quellen belegt, unter Berücksichtigung des aktuellen
Eorschungsstandes solide zur Sprache gebracht und damit das Bild
Uber religionsphilosophisches katholisch-theologisches Denken um
b*w- nach 1800 bereichert zu haben.

Jena Udo Kern

Konrad Feiereis. Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religions-
Pnüosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts,
Le;'Pzigl965,184f.

Etwas irreführend ist die Gestaltung des Titels der Untersuchung Tiefen-
Sees- Erst im Untertitel erfährt der Leser, daß es nicht allgemein um „Die
re'igiöse Anlage und ihre Entwicklung" geht, sondern um den religions-
Philosophischen Ansatz Dreys.

Systematische Theologie: Ethik

dünner. Gottlieb: Grundwerte als Fundament der pluralistischen
Gesellschaft. Eine Untersuchung der Positionen von Kirchen, Parteien
und Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland.
Freiburg-Basel-Wien: Herder 1989. XI, 219 S. 8' = Freiburger
Theologische Studien. 142. Kart. DM 38,-.

Wenn der Vf. „den Ertrag der Grundwertedebatte" aufzuzeigen in
Aussicht stellt (V), läßt dies aufhorchen. Denn hierbei steht nicht nur
der strittige, in der Tat präzisierungsbedürftige Begriff „Grundwert"
selbst in Frage, sondern sind zugleich weitere sozialethische Grundlagenfragen
involviert, z. B. das Kirche-Staat-Verhältnis, die Rechtsbegründung
in einer säkularen, pluralistischen Gesellschaft, die heutige
Integrationskrise von Staat und Gesellschaft oder das Problem
eines gesellschaftlichen Wertekonsenses. Das Buch stellt die „offizielle
^) Äußerungen von Kirchen, politischen Parteien und Gewerkschaften
im Zeitraum von 1975-1981" dar (V), so daß v. a. jene
Kontroverse zwischen kath. Kirche und der sozialliberalen Koalition
in das Blickfeld rückt, die durch die damaligen Reformgesetze zu Ehescheidungsrecht
, § 218 StGB u. a. ausgelöst wurde. Gerade eine kath.
Arbeit (Diss. theol. Freiburg i. Br.) läßt eine tiefergreifende Analyse
des Anspruchs der kathol. Kirche auf Begleitung - oder gar Steuerung,
Fundierung-gesellschaftlicher Moral erwarten; sie sollte ferner Argumente
zur Bewertung und Klärung der Praxis von Hirtenworten zu
Wahlen benennen. Konkret ging es beim Grundwertestreit ja um ein
Votum der Bischöfe („Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches
Glück") im Wahljahr 1976. Diese Erklärung sowie andere kath.
Voten werden auch erwähnt (24-37), gleichfalls die pointierte Reaktion
des damaligen Bundeskanzlers H. Schmidt (58 ff). Schmidt vertrat
eine liberale Unterscheidung zwischen staatlich zu garantierenden
Grundrechten als individuellen Abwehrrechten einerseits und gesellschaftlich
verankertem Ethos, d. h. vom Staat zu achtenden und in der
Gesetzgebung ggf. aufzugreifenden, sich wandelnden Grundwerten,
-Überzeugungen der Bürger andererseits. In Antithese hierzu steht die
Auffassung von Kardinal Höffner, die eine Identität des Menschenbildes
der Verfassung mit der kath. Soziallehre unterstellte (34) und eine
Durchsetzung von Grundwerten sogar durch das Strafrecht forderte
(173).

Die vorliegende Arbeit bleibt leider bei einer umständlichen, sehr
redundanten Darstellung der damaligen Debatte stehen. Auch der
2. Teil des Buches „Auswertung der Dokumente" (103-185; nach
Teil 1 „Analyse der Dokumente", 24-102) führt in der Sache nicht
weiter, sondern entfaltet verschiedene Positionen zu Begriff, Begründung
und Geltung der Grundwerte nochmals in einem 11 (!) Male
wiederholten stereotypen Schema („Aussagen der Dokumente",
„Fachwissenschaftliche Beiträge", „Auswertung"). Oft werden nur
Meinungsäußerungen aneinandergereiht (104ff, 117ff u. ö.). Ausgeblendet
bleiben naheliegende Fragen einer Bewertung der Grundwerte
im Horizont von Naturrechtstheorien (nur stichwortartig hierzu:
146ff) oder aus der Perspektive einer autonomen Moral gestellte
Fragen. Ebenso unterbleibt eine tiefere Reflexion philosophischer
Wertethik (Andeutungen hierzu: 133ff) und die soziologisch wie
ethisch heute zunehmend interessierende Thematik des Verhältnisses
von Grundwerten zur sog. Zivilreligion wird ausgeklammert. Sodann
hätte die Grundwertedebatte der 70er Jahre dazu herausgefordert, das
Problem von kirchlichen Äußerungen zur Wahl zu diskutieren, d. h.
sich mit dem an dieser Stelle wohl berechtigten Vorwurf des Klerikalismus
auseinanderzusetzen.

Jedenfalls läßt die Arbeit sichtbar werden, daß manche der damaligen
kirchlichen Voten zu Grundwerten schon insofern defizitär
waren, als sie in ihrem tieferen Gehalt, ihrer Begründung, vage blieben
(z. B. 31,34; 27: „Die Bischöfe führen keine explizite Begründung
der Grundwerte an"). Für die Überzeugungskraft kirchlicher Äußerungen
zu gesamtgesellschaftlichen Fragen sind jedoch gerade die
Plausibilität und Nachvollziehbarkeit des Begründungshorizontes
ausschlaggebend. Mit Recht weist der Vf. auf Positionen hin, die - im
Unterschied zur These eines gesellschaftlichen Wertverfalls (so die
Bischöfe im Jahr 1976 [vgl. 20]) oder zu einem statischen Wertessen-
tialismus - positive Seiten des geschichtlichen Wertewandels akzentuieren
(138). Leider führt aber der allzu knappe „Ausblick: Wie
könnte die Grundwerte-Diskussion weitergeführt werden?" (1860
über die Retrospektive auf die 70er Jahre nicht wirklich hinaus. Denn
es wäre zu entfalten, daß die mit dem Grundwertebegriff markierte