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Ausgabe:

1991

Spalte:

216-217

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Tiefensee, Eberhard

Titel/Untertitel:

Die religiöse Anlage und ihre Entwicklung 1991

Rezensent:

Kern, Udo

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Theologisehe Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 3

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Vernichtung. Hier bleibt denn doch kritisch zu fragen: a) Ist eigentlich Vernichtung
ohne Zeit denkbar? Wenn aber nicht, dann ist Zeit zur Vernichtung schon
immer die Voraussetzung und kann dann nicht erst im Aufstand gegen die Vernichtung
konstituiert werden, b) L. vergißt dabei die allgemeingültige und damit
überzeitliche Dimension der Begriffe: Es ist eben nicht alles der Vernichtung
preisgegeben.

Dieser für uns unabdingbare Aufstand gegen die Vernichtung kann nun zu
der Totalillusion führen, daß wir diesen Aufstand gegen die Vernichtung aufs
Ganze gewinnen können. Damit vergißt der Mensch, daß er sein Leben nicht in
der Hand hat, weil alles Sein unerbittlich seiner Vernichtung entgegengeht.
Diese Totalillusion, allein aus sich selbst heraus leben zu können und das Leben
nach rein immanenten Maßstäben gestalten zu können, ist die irreligiöse Illusion
des modernen Menschen, die eben - wie schon gesagt - an der Tatsache der
Vernichtung scheitert. Weil diese rein immanente Deutung des Daseins also nur
zu Illusionen führen kann, aber der Aufstand gegen die Vernichtung und die
von ihm konstituierte Zeit auch wiederum für uns undispensierbar sind, muß
ein Drittes angenommen werden, das alles Sein geschaffen hat und gegen die
Vernichtung immer wieder eine Zeitlang erhält: eine Macht, die nicht selbst der
Zeit unterliegt, sondern ewig ist, die deshalb nicht immanent, sondern der
Immanenz gegenüber anders sein muß. Daraus ergibt sich für L. eine „metaphysische
Dreifältigkeit" (197ff): Vernichtung, Sein und Macht (die das Sein
schafft und erhält, aber auch der Vernichtung preisgibt) (206).

Da die Hoffnung zu den Phänomenen gehört, die auf keine Weise im Menschen
zum Verschwinden zu bringen sind, wird der Aufstand gegen die Vernichtung
durch die Hoffnung bewahrheitet. Das kann aber nur eine Hoffnung auf
jene nichtimmanente Macht, also auf Gott sein, die das Sein allein in der Hand
hat, denn daß der Mensch oder irgendeine immanente Macht sich selbst in der
Hand haben, hat sich ja oben angesichts der Vernichtung als Totalillusion herausgestellt
. Des Menschen Hoffnung kann also nur auf Gott beruhen und - da in
der Immanenz die Vernichtung herrscht - nur eschatologisch sein. Deshalb
geschieht die Erlösung auch nicht in der Welt, sondern jenseits der Welt in der
Ewigkeit. L. betont deshalb auch die lineare, zukunftsbezogene, eschatologische
Zeitauffassung des Christentums.

Während im Reich der Schöpfung mit der grundlegenden Kategorie der Vernichtung
notwendig Leid, Tod und Schuld mitbeteiligt sind, richtet sich die
eschatologische Hoffnung auf ein Reich Gottes in der Zukunft, in dem das alles
überwunden ist. Hier stellt sich für L. die Frage, ob Schöpfung und eschatolo-
gisches Reich, ob Schöpfergott und Erlösergott miteinander identisch seien, da
die Vernichtungs- und Übelstrukturen doch hier vorhanden sind und dort fehlen
. L. entscheidet sich für einen Gott, der demzufolge auch aus der Schöpfung
zu ersehen ist, aber doch für Unterschiede in Gott selbst: Der deus absconditus,
der Gott der Vernichtung, ist nicht dasselbe wie der Gott der Versöhnung. Denn
Gottes Ewigkeit bedeutet nicht Gottes Unveränderlichkeit, deshalb kann der
eine Gott nacheinander zwei so unterschiedliche Werke vollziehen wie das von
Schöpfung und Erlösung: „Er" (der Inhalt der christlichen Botschaft) „stellt
sich gegen die Selbstverständlichkeit, daß „ewig" dasselbe wie „unveränderlich
" sei. Das Neue, das sich im Anbruch des Reiches Gottes ereignet, bedeutet,
daß das Schöpfungs- und Vernichtungswerk, seine Herrlichkeiten, Leiden und
Zufälligkeiten nicht das letzte Wort und die letzte Tat Gottes sind. Das Neue,
was geschieht, ist, daß sich Gott, trotz seines schöpferischen und vernichtenden
Seins, persönlich, menschlich macht." (273)

Hier bleibt vieles zu fragen übrig. Aber auch wenn man anders
denkt als L., wird man immer wieder von seinen Gedanken oder auch
nur Fragen angeregt und berührt sein. Leider kann auf die vielen, fast
zu vielen Gedanken des Verfassers hier nicht eingegangen werden.
Erwähnt sei nur noch einer: L. fragt: Wenn wir angesichts der vielen
Übel auf der Welt immer wieder die Theodizeefrage stellen, warum
stellen die Nihilisten eigentlich angesichts der vielen Freuden der
Welt nicht die Frage nach einer Nihilodizee? (267)

Zum Schluß noch ein persönlicher Eindruck: Der Begriff der Vernichtung
bringt es mit sich, daß dem Buch auf den meisten Seiten eine
schwermütige Grundstimmung unterliegt, gegen die L. freilich tapfer
ankämpft. Wie wenig das an sich notwendig ist, soll ein Zitat und seine
fehlende Umkehrung zeigen: „Sein ist aufgeschobene Vernichtung.
Leben ist aufgeschobener Tod." (206) Das ist zwar kaum leugbar.
Aber ebenso kaum leugbar ist die bei L. völlig fehlende Umkehrung:
Nichtsein ist aufgeschobenes Entstehen. Totsein ist aufgeschobene
Geburt.

Marburg Günther Keil

Tiefensee, Eberhard: Die religiöse Anlage und ihre Entwicklung. Der

religionsphilosophische Ansatz Johann Sebastian Dreys
(1777-1853). Leipzig: St. Benno 1988. XXV, 255 S. gr. 8* = Erfurter
theologische Studien, 56.

„Auf die geistesgeschichtliche Entwicklung, welche sich während
des 18. Jh.s in Deutschland vollzog, übten die Vertreter der katholischen
Philosophie und Theologie keinen entscheidenden Einfluß
aus." Dennoch „bemühte (sc. man) sich auch im katholischen Raum
um eine grundsätzliche Besinnung über das Wesen der Religion und
brachte den übrigen religionsphilosophischen Fragen ebenfalls ein
starkes Interesse entgegen."1. Unter diesen Voraussetzungen ist auch
das Werk des Vaters der katholischen Tübinger Schule Johann Sebastian
Dreys zu sehen. Eberhard Tiefensee untersucht „Dreys Entwicklungsvorstellung
auf naturphilosophische Wurzeln hin ... (1. Kap.)
und die Ausstrahlung dieser Entwicklungsvorstellung in sein religionsphilosophisches
Denken... (2. und 3. Kap.)". (14) Zu Recht
betont Tiefensee den Einfluß geschichtlichen Denkens im Protestantismus
und deutsch-idealistischen Denkens auf Drey. (3) Mit der bisherigen
Forschung (vgl. L. Scheffczyk, J. Rief) konstatiert Tiefensee
die Rezeption von „Schellings Methode der philosophischen Konstruktion
" durch Dreys „Geschichtsphilosophie und Theologie". (31)
Dreys Option für Schellings Naturphilosophie sei nicht nur wissenschaftstheoretisch
und pädagogisch begründet, sondern grundsätzlich
theologisch: Nicht durch Betrachtung und Erklärung der Natur qua
„Reflexion" - so Drey - komme man zu Gott, sondern „der Inbegriff
der Natur (sc. führe)... uns zur Idee Gottes ..., ebenso wie die ideale
Welt". (34) „Drey, der hinter der... (Geschichte) den verborgenen,
gesetzmäßigen Stufengang (Entwicklung) deutlich zu machen und
damit die ,Hülle, hinter der sich der handelnde Gott versteckt' (...).
zu entfernen sucht, konstruiert die Religions- und Offenbarungsgeschichte
auf dem Hintergrund des ihm von der Naturphilosophie her
vertrauten Entwicklungsschemas Schellings: Urreligion (Einheit) -
Heidentum und Judentum (Differenz) - Christentum (Indifferenz)."
(233)

Drey verstehe das Universum als einen Organismus, der wohlgebildet
und von einem gemeinsamen Mittelpunkt gestaltet ist, der alle
Funktionen des Lebens entwickelt, bis in die einzelnen Teile
bestimmt. (62) Tiefensee arbeitet die in der bisherigen Forschung
zuwenig beachtete - da von Drey mehr angerissen als ausgeführt -
naturphilosophische Entwicklungsvorstellung klar mit treffenden
Zitaten versehen heraus. Überzeugend belegt Tiefensee die Dreysche
„Option für das Dynamische", in deren Perspektive die „drei großen
Schauplätze der Naturtätigkeit": „Mechanismus als System der vorherrschenden
Ponderabilität, Organismus als System der Lichtaktion
und dynamischer Prozeß als ihre gemeinschaftliche Berührung"
erscheinen. (45)

Fundamental für Dreys Religionsphilosophie ist die religiöse
Anlage2. Sie „ist ein Ausdruck für das Prinzip der Gotteserkenntnis
im menschlichen Geist". (111) Tiefensee bringt knapp und treffend
die zeitgenössischen religionsphilosophischen Auffassungen der
religiösen Anlage zur Sprache (74ff), so z. B. bei Kant, de Wette.
Schleiermacher (etwas differenzierter hätte man sich im gesamten
Buch Tiefensees die Schleiermacherinterpretation gewünscht). Bei
Drey wird die religiöse Anlage sozusagen in zweifacher Entfaltung gesehen
. Sie sei formal „als die Fähigkeit des menschlichen Geistes (sc.
zu) verstehen, einerseits religiöse Erfahrungen zu machen und entsprechende
Anstöße zu rezipieren (...), andererseits spezifisch
religiöse Äußerungen hervorzubringen, in entsprechende Tätigkeiten
überzugehen (...)". (104) - Religion und religiöse Anlage sei für
Drey nicht identisch, sondern Religion sei „Ergebnis einer Entwicklung
aus der Anlage heraus". (109) Drey definiert letztendlich Religion
als „das durchgängige und lebendige Bestimmtsein des Menschen
durch das Gottesbewußtsein". (109) Religion sei universalmenschliches
und weltgeschichtliches Faktum, und der Atheismus könne
wegen „der Existenz einer religiösen Anlage ,in jedem noch nicht ver-