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Ausgabe:

1991

Spalte:

209-210

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dussel, Enrique

Titel/Untertitel:

Prophetie und Kritik 1991

Rezensent:

Prien, Hans-Jürgen

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Seite 1

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209

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 3

210

Wolff, Gottfried: Gerhard Tersteegen. Christozentrische Mystik in der geprägt haben (40), kann man so undifferenziert kaum behaupten,

evangelischen Tradition (GuL 62,1989,424-432). auch nicht, daß die Krise der Unabhängigkeit dort wegen des Weiter-

Zobeltitz, Louis von: Die Christliche Friedenskonferenz am Scheideweg - bestehens der Monarchie wesentlich geringer war, wenn man an die

Ende oderneuer Anfang?(JK 51,1990,147-150). Auswirkungen des Regalismus denkt, der z. B. auf die Strangulierung

der Orden abzielte. In der 3. Epoche der Emanzipationsbestrebungen

gegenüber Spanien und Portugal (ab 1750) sieht Dussel das Entstehen

Dogmßn- Und TheOlOgißgeSChichte einer revolutionären Befreiungstheologie. Aber seine Ausfuhrungen

sind viel zu pauschal, so daß nicht untersucht wird, inwiefern hier die

Dntcoi c • o„ u . ■ ~ .... - . f ■ ^ u „u^Aar theologische Rechtfertigung des Unabhängigkeitskampfes legitim ist.

aussei, Ennque: Prophetie und Kritik. Entwurf einer Geschichte der ~"~ °™ " . , . "., ,. . ~

Theologie in Lateinamerika. Aus dem Span, von K. Hermans. Daß maßgebliche Theologen gar nicht von der Bibel her dachten, son-
Fribourg-Brig: Edition Exodus 1989. 157 S. 8*. Kart. DM 26,80. dem in aufklärerisch-liberalen und auch vom freimaurerischen Denken
beeinflußten Kategorien, wird gar nicht erwähnt. Bei der Erwäh-
Bei der Arbeit des auch als Vertreter der Befreiungstheologie nung der Aufstandsbewegungen des 18. und 19. Jh.s vermißt man die
bekannten argentinischen Philosophen und Kirchenhistorikers Dus- brasilianischen. Dussel verfährt recht eklektizistisch. Es fehlt eine
sei handelt es sich um die Übersetzung einer überarbeiteten und Analyse dieser Bewegungen, die zur Unterscheidung echter Befreierweiterten
Fassung der 1986 in Bogota erschienenen >Hipötesis para ungsbewegungen wie derjenigen Tupac Amarus in Peru oder Hidalgos
Ur>a Historia de la Theologia en America Latina*, die nun thematisch und Morelos in Mexiko und der bloßen Unabhängigkeitsrevolutionen
bis 1987 reicht. Als Vorarbeiten sind Materialsammlungen zur führen müßte.

Geschichte der Theologie in Lateinamerika zu betrachten, die von In der „4. Epoche: die neokoloniale Theologie in der Krise (bis
CEHILA veröffentlicht worden sind. Der Untertitel ist insofern irre- 1930)" geht Dussel nur mit wenigen Sätzen auf den Protestantismus
führend, als es sich weniger um den Entwurf einer Geschichte der ein, wobei er unzutreffenderweise behauptet, dieser habe nur einmal,
Theologie in Lateinamerika handelt, als um den Versuch einer nämlich beim Kongreß in Panama (1916), seine Kräfte gebündelt. Er
'hesenartigen Periodisierung der Theologiegeschichte nach Kriterien, vergißt die wichtigen kontinentalen Konferenzen von Montevideo
die aus der Theologie der Befreiung abgeleitet werden. Ähnlich wie (1925), Habana (1929), Buenos Aires (1949 und 1969) und Lima
bei seiner „Geschichte der Kirche in Lateinamerika" (Mainz 1988) ist (1961). Was soll in der „5. Epoche: die Theologie der Neuen Chri-
das Mißverhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart augenfällig. stenheit (seit 1930)" die Bemerkung, daß die biblische Bewegung auf
Die Theologiegeschichte von 1492 bis 1958 wird auf den Seiten protestantischer Seite „durch die sogenannte Bibelgesellschaft" geför-
28-49 abgehandelt, die Gegenwart auf S. 50-109. Es folgt eine dert wurde? Es entstanden Bibelgesellschaften in zahlreichen Staaten,
chronologische Tabelle (110-115) und ein Schlußkapitel zur Frage die auch eine Herausforderung für die katholische Theologie darstell-
»Gibt es eine Theologie der Befreiung in Afrika und Asien?" ten und die nach dem 2. Weltkrieg zum Ferment ökumenischer
(116-139). Im 1. Kapitel „Ideologie und Geschichte der Theologie" Zusammenarbeit mit der kath. Kirche wurden!
(9-27) entwikkelt der Vf. zwei Leitgedanken: Die lateinamerika- Dussels eigentliches Interesse liegt bei der „6. Epoche: die dritte
n'sche Theologie ist die Tochter der europäischen Theologie, die den Theologie der Befreiung - die Theologie und der zweite Befreiungs-
Ausgangspunkt und die Rahmenbedingungen setzt, weshalb es Ähn- versuch Lateinamerikas (seit 1959)", die er in 7 Abschnitte unterglie-
'ichkeiten zwischen beiden gibt. Da diese sich aber an der Peripherie dert, die zu einer kleinen Geschichte der Theologie der Befreiung
unter den Bedingungen der merkantalistisch geprägten Neuzeit und geraten. Auch hier sind die Ausführungen über den Protestantismus
später des monopolistischen Kapitalismus entwickelt hat, jene aber unvollständig und ungenau. UNELAM war kein „Zusammenschluß
lrn Zentrum, ist die lateinamerikanische Theologie „eine andere, von der evangelischen Kirche" (550, sondern eine Koordinationsstelle für
der europäischen verschiedene Theologie". Ihr Weg führt von „einer die Zusammenarbeit der Nationalen Kirchenräte. Von >der protestan-
•rnitierenden ideologischen Widerspiegelung" zu „einer Kreativität, tischen Kirche* kann man nicht im Singular reden, genausowenig
welche die vom Zentrum verschiedene Wirklichkeit der lateinameri- „vom brasilianischen Protestantismus" (64). Daß Dussel etwa die
Manischen Welt ernst nimmt und auf sie eingeht". Damit ist der zweite Kirchenzugehörigkeit von Rubem Alves (Presbyterianer) oder
Leitgedanke angesprochen: die Ideologie. Dussel versteht die Aufgabe Miguez Bonino (Methodist) nicht erwähnt (64), bestätigt den Ein-
der Theologie als „Ent-decken" der Wirklichkeit, während es bei der druck, daß er eine sehr undifferenzierte Wahrnehmung des Protestan-
'deologie um ihr „Ver-decken" geht. Die praktische Funktion der tismus hat. Die Rolle der Bewegung „Kirche und Gesellschaft"
Ideologie sieht er im Verhüllen der Wirklichkeit. „So entsteht eine (ISAL) für die Entstehung der Befreiungstheologie wird ebenso wenig
Dialektik zwischen Entdeckung und Verhüllung, zwischen Theorie erwähnt wie die Pionierrolle von Rubem Alves-A theology of human
und Praxis." Dussel beobachtet bei Jesus eine Einführung in die Kri- hope, Washington 1969, erschien schließlich noch vor Gutierrez
t[k der so verstandenen Ideologie. Es fällt ihm nicht schwer, eine ganze „Theologie der Befreiung". Auch andere protestantische Vertreter der
Palette von Beispielen für die ideologische Funktion der Theologie Befreiungstheologie wie etwa der Systematiker von Säo Leopoldo,
aufzuführen, angefangen von der Rechtfertigung der Eroberung durch Walter Altmann, werden keines Wortes gewürdigt.
Spanien und Portugal. „Die Ideologie stellt also einerseits sowohl die Ein Satz wie „In Brasilien war es der größte und einflußreichste Teil
Rechtfertigung einer Praxis als auch die Verschleierung der wirk- der Bischöfe, der gegen den aus dem Putsch von 1964 hervorgegange-
'ichen Bedeutung dieser Praxis dar, während sie andererseits denen, nen, von den Militärs beherrschten, mit den USA verbündeten sowie
die für das Unrecht verantwortlich sind, ein gutes Gewissen bzw. das repressiven Staat und fiir die Armen optierte" (89) ist so pauschal
Bewußtsein verschafft, nichts Böses getan zu haben." einfach falsch, weil sich diese Gegnerschaft und die Option für die
Nach den Kriterien der befreienden oder der ideologischen Funk- Armen erst in einem mehr als zehnjährigen Prozeß entwickelt haben,
l'on von Theologie entwickelt Dussel dann eine Periodisierung in wie ich in meiner Fallstudie „Brasilien": Lateinamerika: Gesell-
6 Epochen. In der „1. Epoche: die erste Theologie der Befreiung-eine schaft-Kirche-Theologie, Göttingen 1981, Bd. 1, gezeigt habe.
Prophetische Theologie als Reaktion auf die Praxis der Konquista und Fazit: Dussels „Entwurf' ist wegen seiner Periodisierung, der
Missionierung Amerikas" geht Dussel nur aufLasCasas ausführlicher Anwendung der Ideologie-Hypothese und der Darstellung der Aus-
e>n. Die „2. Epoche: die Theologie der kolonialen Christenheit einandersetzung um die Theologie der Befreiung ein anregender Bei-
(1553-1808)" war eine Kopie der zweiten Scholastik in Europa. trag aus katholischer Sicht, der dem Untertitel „Entwurf einer Ge-
^usätzlich zu deren ideologischer Funktion, das Unrecht in der Alten schichte der Theologie in Lateinamerika" freilich kaum gerecht
Welt zu verdecken, verdeckte sie auch noch das in der Neuen Welt. wird.

Daß die Jesuiten das kirchliche Bewußtsein im kolonialen Brasilien Marburg Hans-Jürgen Prien