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Ausgabe:

1991

Spalte:

203-205

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Otte, Hans

Titel/Untertitel:

Milde Aufklärung 1991

Rezensent:

Sommer, Wolfgang

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203

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 3

204

So beläuft sich das Verdienst des Buches auf ein Mehrfaches: Nicht
nur ein Lebensbild wird nahegebracht, sondern ein anschauliches
Stück Zeitanalyse kann erhellend für weitere Forschungen herangezogen
werden. Der hier vorgelegte Versuch ist aber auch einer grundsätzlichen
Überlegung wert. Sie besteht darin, daß es offenbar historischer
Arbeit nicht zum Schaden gereicht, wenn sie sich Auskünfte
über ein Zeitalter gleichsam bei Personen aus der „zweiten Reihe"
holt. Und schließlich ist in diesem Zusammenhang nicht nur dem
Autor zu danken, sondern auch einmal ausdrücklich der Reihe „Unio
und Confessio", die hier in einem weiteren Beispiel ihrer Publikationen
die Beschreibung Preußens während der ersten Hälfte des 19. Jh.
vorangebracht hat.

Leipzig Gerhard Graf

Otte, Hans: Milde Aufklärung. Theologie und Kirchenleitung bei
Johann Hinrich Pratje (1710-1791), Generalsuperintendent der
Herzogtümer Bremen und Verden. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1989. 406 S. gr. 8° = Studien zur Kirchengeschichte
Niedersachsens, 30. Kart. DM 62,-.

Der Haupttitel dieser Untersuchung - einer Göttihger theologischen
Dissertation vom WS 1987/88 - weist ins Zentrum der Theologie
und der kirchlichen Reformen eines Theologen der sog. „Übergangstheologie
" zwischen Orthodoxie und Aufklärung. In Anlehnung
an eine bekannte Formulierung Gerhard Uhlhorns (Hannoversche
Kirchengeschichte in übersichtlicher Darstellung, Stuttgart 1902,
Neudruck Göttingen 1988) vom „milde(n) Luthertum" der hannoverschen
Landeskirche möchte er „auf die besondere Art der Rezeption
aufgeklärter Theologie aufmerksam machen, für die J. H. Pratje
als Beispiel dient: Vorsichtig-vermittelnd leitete er seine Kirche in
kritischer Zeit, und um den Konsens unter den Pastoren zu erhalten,
setzte er sich von der herkömmlichen Orthodoxie nicht ab, obwohl er
doch den Ansprüchen an eine zeitgemäße, .aufgeklärte' Theologie zu
genügen suchte." (Vorwort, 5)

Im Rahmen der nicht sehr zahlreichen Arbeiten, die der „Übergangstheologie
" gewidmet sind, leistet diese Untersuchung einen
wichtigen Beitrag zur Erhellung jenes Umformungsprozesses von Kirche
und Theologie im 18. Jahrhundert, der die Theologie zwischen
Spener und Semler in Deutschland charakterisiert. Durch die Konzentration
auf die kirchenleitende Tätigkeit und die theologische
Arbeit des Generalsuperintendenten Johann Hinrich Pratje in den
Herzogtümern Bremen und Verden kommt in glücklicher Weise die
innere Verbindung der Problemfelder Theologie, kirchliche Praxis
und gesellschaftliches Umfeld in einer überschaubaren Region zum
Ausdruck. Die Praxisorientierung der deutschen Aufklärung als weithin
praktische Reformbewegung kann an diesem Theologen und Kirchenmann
exemplarisch gezeigt werden, wobei die territoriale
Beschränkung sich nur als Vorteil erweist, war doch die gesellschaftliche
und kirchliche Situation im Alten Reich hinsichtlich der Aufklärung
als Reformbewegung recht unterschiedlich.

Die Untersuchung ist biographisch angelegt. Zunächst wird Pratjes
Lebenslauf geschildert, seine Herkunft aus dem ärmeren dörflichen
Milieu bei Stade, seine Kindheit und Jugend in Braunschweig und das
Theologiestudium in Helmstedt ab 1729, wo er besonders durch
Johann Lorenz von Mosheim geprägt wurde. Das Schwergewicht
seines Studiums legte er unter dem Einfluß Mosheims auf die Kirchengeschichte
, aber unter seinen Lehrern waren auch Vertreter der
calixtinischen Theologie sowie an Christian Wolff orientierte Theologen
. Schon zwei Jahre nach dem Weggang von der Universität und
dem abgelegten Examen erhielt Pratje unter der Förderung des Stader
Generalsuperintendenten Lukas Bacmeister seine erste Pfarrstelle in
seinem Heimatort, in der sich sein späteres Wirken und sein Christentumsverständnis
zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung
bereits deutlich abzeichnet. Seine auf Integration und Ausgleich
bedachte Theologie war gewiß auch an seinem weiteren beruflichen

Aufstieg beteiligt, der Pratje nach Stade zunächst ins Pfarramt an St.
Wilhadi (ab 1743) und schließlich in die Generalsuperintendentur (ab
1749) führte. Neben Bacmeister hatte Pratje auch in dem Geheimen
Rat von Münchhausen einen besonderen Gönner.

Bevor in den Kapiteln IV und V ausführlich das Wirken Pratjes in
der Kirchenleitung, seine vorsichtigen Reformen in der kirchlichen
Organisation, im Gottesdienst und in der Theologie geschildert werden
, wird die theologische Position Pratjes insgesamt skizziert (Kapitel
III). Durch diesen vorausgeschickten Gesamtüberblick über die
Theologie Pratjes kann die Verbindung zur kirchenleitenden Tätigkeit
des Generalsuperintendenten besonders gut wahrgenommen
werden, hat doch seine Theologie ihre durchaus eigengeprägten, wenn
auch „zeitgemäßen" Konturen. Die deutsche Theologie des 18. Jahrhunderts
kennen wir hauptsächlich nur als Theologie an den Universitäten
. Ottes Untersuchung führt uns eine „Normaltheologie" vor
Augen, die er unter dem Begriff „Pastorentheologie" im Gegenüber
zur universitären Übergangstheologie charakterisiert. Auffallend ist,
wie wenig die Helmstedter Theologie auf Pratje nachwirkte, wie auch
eine breitere Kenntnis der älteren lutherischen Orthodoxie fehlt,
dagegen die vermittelnde Form der Jenenser Theologie und vor allem
der kirchliche Pietismus Ph. J. Speners und J. J. Rambachs im Verständnis
des Glaubens vorherrschen. Direkter Bezug auf Luther fehlt
fast ganz. S. J. Baumgartens und J. S. Semlers Werke sind Pratje bekannt
, ersteren zitiert er auch öfters, aber an den Streitigkeiten, die zur
Übergangstheologie führen, beteiligt er sich nicht mehr. Seine
Theologie ist durch den ständigen Bezug auf die Praxis, besonders auf
die Pfarramtspraxis der Pfarrer, gekennzeichnet. In fünf Merkmalen
faßt Otte diese „Pastorentheologie" zusammen:

1. Verzicht auf eigene systematisch-theologische Arbeit, statt dessen
erbauliche Weitergabe der christlichen Wahrheit an die Gemeinden
.

2. Verzicht auf Ausgleich systematischer Inkonsistenzen.

3. Orientierung am Konsens der Kirche ohne theologische Polemik
.

4. Die besondere Berücksichtigung der Adressaten, vor allem der
Laien.

5. Eine konzessive Argumentationsstruktur bei Einwänden, die
nicht unterdrückt oder systematisch verarbeitet werden konnten.

Im Rahmen der kirchenleitenden Tätigkeit Pratjes haben sich diese
theologischen Grundsätze in wesentlich zwei Bereichen niedergeschlagen
: In seinen Bemühungen zur Förderung des Pfarrerstandes
und bei seinen agendarisch-gottesdienstlichen Reformen, die ihn bis
zum Vorschlag eines neuen Katechismus führten. Immer erweist sich
Pratje dabei sowohl als Bewahrer des Bewährten wie auch als vorsichtiger
Reformer, der mit Hilfe der Unterscheidung von Kern und
Schale der modernen Theologie in Einzelheiten recht zu geben versucht
. Der Kern des christlichen Glaubens mußte erhalten bleiben,
seine Applikation erfordert behutsame Veränderung des Überkommenen
. Dahinter steht ein Verständnis von „Aufklärung", das auf die
allgemeingültigen Vernunftprinzipien vertraut und darum an die Einsichtsfähigkeit
des Menschen appelliert, damit seine Vorstellungen
aus der Unklarheit zur Klarheit geführt und durch Belehrung gereinigt
werden. Aus der grundsätzlichen Übereinstimmung von Vernunft
und Offenbarung und der Ergänzungsbedürftigkeit der Vemunft-
erkenntnisse durch die Offenbarung konnte Pratje die Notwendigkeit
des geistlichen Amtes in der Kirche erweisen: Die Pastoren als die
Nachfolger der Apostel müssen die in der kirchlichen Lehre enthaltenen
Offenbarungswahrheiten weitergeben. Mit Recht stellt Otte heraus
, daß Pratje kein Unzeitgemäßer im Zeitalter der Aufklärung war,
obwohl er an grundsätzlichen Reformen nicht wirklich interessiert
war und einen Bruch mit der Vergangenheit scheute.

Mit Ottes Monographie über Pratje wird uns ein wirklichkeitsnahes
, exemplarisches Bild der deutschen Aufklärung im Bereich der
evangelischen Kirche und Theologie vermittelt, das sehr zu begrüßen
ist. Gerade die Konzentration auf diesen Kirchenmann und seine
Wirksamkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden macht den