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Ausgabe: | 1991 |
Spalte: | 190-191 |
Kategorie: | Neues Testament |
Titel/Untertitel: | Forschungsgeschichtliche Bibliographie 1799 - 1984 mit kritischen Anmerkungen. Mit einem Beitrag A study of the Odes of Solomon with reference to the French scholarship 1909 - 1980 1991 |
Rezensent: | Schenke, Hans-Martin |
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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 3
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Werk von Johannes Weiß bestimmend waren. Die von Klaus Berger Reich Gottes in der Verkündigung Jesu eigen ist, hat Johannes Weiß
angeregte Studie gehört zu einem umfangreichen Projekt, das die dem Zentralbegriff der Ritschlschen Theologie die neutestamentliche
Forschungsgeschichte des Neuen Testamentes aus der Isolierung her- Legitimität entzogen. Ist er dennoch Ritschlianer geblieben? Als
auszuführen und die Gestalten der neutestamentlichen Arbeit in den fruchtbar erweist es sich, daß die Reich-Gottes-Schrift nicht nur
geistigen Prozeß ihrer Zeit einzuordnen sucht. analysiert, sondern in den Kontext der frühen theologischen und
Die Einleitung in der „Motive zu den Themen Eschatologie und publizistischen Arbeiten von We.ß gestellt wird. Sie belegen die Basis-
Reich Gottes im 19 Jahrhundert" (2) aufklingen, holt weit aus. Sie entscheidung gegen die Tübinger Tendenzkritik für das Geschichts-
setzt bei Schleiermacher ein, konfrontiert christliche Erlösungstermi- bild Ritschis. Wichtig ist auch der Hinweis, daß das Problem der
nologie und innerweltliche (soziale)Zukunftshoffnung und beschreibt Reich-Gottes-Vorstellungen des Judentums zur Zeit der l.Aufl.
die Spannweite christlicher Eschatologie, die durch die Namen Klie- (anders als in der 2. von 1900) für Weiß noch keine Rolle spielte, er
foth, Rothe und Ritsehl bezeichnet ist. Die biographische Skizze gilt also der bibelimmanenten, der Rehgionsgeschichte sich versagenden
nicht nur der akademischen Laufbahn (Stationen: Göttingen Sicht der Schule Ritschis noch verpflichtet blieb. Beachtenswert er-
'888-1895, Marburg 1895-1908, Heidelberg 1908-1914) und den scheint, wie schon im ersten Zugriff die Frage nach dem Verhältnis
nichtigsten Veröffentlichungen (darunter der Herausgeberschaft der von Zukünftigkeit und Gegenwärtigkeit (modern gesprochen das
Populären SNT), sondern den auch später noch mehrfach behandel- Problem der Prolepse) ins Blickfeld rückt. Dennoch: die Differenz
<en Beziehungen zum Vater Bernhard Weiß (1827-1918) und dem zwischen dem Reich-Gottes-Verständnis bei den Synoptikern und in
Schwiegervater Albrecht Ritsehl (1822-1889). Eine echte Ent- der modernen (d. h. liberalen bzw. Ritschlschen Theologie) ist klar be-
deckung ist der Nachweis engagierter Mitarbeit in Friedrich Nau- nannt. In deren Rahmen bleibt nur eine Konsequenz, „die Verweige-
">anns evangelisch-sozialer Bewegung bis hin zur zeitweiligen Wirk- rung der unmittelbaren Bezugnahme der exegetischen Ergebnisse auf
samkeit als Marburger Stadtverordneter. Sie läßt den Theologen, der gegenwärtige Fragen und Probleme" (191).
mit der Herausstellung des apokalyptisch-transzendentalen Charak- Die zeitgenössische Kritik, der die beiden letzten Abschnitte gelten
'ers des Reiches Gottes und der Verkündigung Jesu eine unüberwind- (209-264), hat das durchaus erkannt. Daß dabei Stimmen aus dem
''che Sperre gegenüber kurzschlüssiger Aktualisierung der Jesusbot- bibeltheologischen oder konfessionellen Lager kaum zu hören waren,
schaft errichtete, als religiös motivierten Sozialreformer erscheinen. hängt wohl mit der Frontenbildung und faktischen Kommunikations-
Dazu stimmt die wenig bekannte literaturkritische Publizistik, die Verweigerung in den Vorkriegsjahren zusammen. Es bedurfte eines
die Meister des deutschen und europäischen Realismus bevorzugte veränderten Zeitbewußtseins, um die Frage nach der neutestament-
Und deren Höhepunkt die Besprechung von Thomas Manns Budden- liehen Eschatologie und ihrer hermeneutischen Bewältigung neu zu
br°oks in der CW 1903 darstellte. Weniger deutlich tritt heraus, daß stellen.
die späteren Jahre des Forschers Johannes Weiß im Zeichen des
Leipzig/Halle (Saale) Wolfgang Wiefel
Bemühens standen, die hellenistische (Um-) Prägung des Urchristen-
tums in geistiger Nachbarschaft zur Religionsgeschichtlichen Schule
aufzuweisen. So nehmen die beiden anderen großen Werke, der Kommentar
zum 1. Korintherbrief (1910) und das posthum erschienene Lattke, Michael: Die Oden Salomes in ihrer Bedeutung für Neues
°Pus magnum über das Urchristentum (1917) einen unverdient gerin- !^?™n'undG"osis-Forschungsgeschichtliche Bibliographie
gen Po !_• ii r- u 1799-1984 mit kritischen Anmerkungen. Mit einem Beitrag von
ilP T ein' WieWOh' CS reiZV°" geWeSe" Ware' fr Fr3ge "aChZU" M. Franzmann. A Study of the Odes of Solomon with Reference to
« nen, ob und wie sich die „W.ederentdeckung der neutestament- ,he French Scho|arship i909-1980. Freiburg/Schweiz: Universi-
nen Eschatologie" auf die Paulusexegese und das Bild des Aposto- tätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986. XXXIII,
'sehen Zeitalters auswirkte. 478 S. gr. 8° = Orbis Biblicuset Orientalis, 25,3. geb. sfr 125,-.
Der Vf. geht mit Recht davon aus, daß der epochale Rang von
J°hannes Weiß und seiner Entdeckung am besten zu verdeutlichen ist. Das grundlegend und mit „langem Atem" in Angriff genommene
Wenn zunächst das durchschnittliche Verständnis, das sich mit dem große Werk L. s über die OdSal, über dessen Prinzipien und Ziele
Begriff Reich Gottes im 19. Jh. verbindet, zur Darstellung gebracht schon anläßlich des Erscheinens seiner ersten beiden Bände berichtet
Wlrd- Es entspricht dem methodischen Ansatz des forschungsge- worden ist (vgl. ThLZ 107, 1982, Sp. 820-823), kommt mit dem jetzt
schichtlichen Projekts, sich nicht allein an den großen Systementwür- erschienenen dritten Band der Erfüllung der Verheißung zur Freude
en zu orientieren. Analog zu dem in wichtigen Feldern der derzeiti- der darauf- in der Spannung zwischen „schon" und „noch nicht" -
gen Geschichtswissenschaft bevorzugten Ansatz der „Alltagsge- Wartenden hoffentlich ein großes Stück näher. Was - wie erinnerlich
schichte" fällt der Blick auf Erscheinungen, die das religiöse Bewußt- - eigentlich verheißen ist, ist ja ein vierter Band: Erst der soll etwas
sein des evangelischen Gemeindechristentums reflektieren und prä- noch nie Dagewesenes bringen, nämlich einen kritisch-exegetischen
8en- So hat er aus z. T. entlegenen Fundorten die „Vorstellung vom Kommentar zu den OdSal; er soll also nicht nur das ganze Unterneh-
Reich Gottes in Predigten aus der Zeit von 1869-1892" (dem Erschei- men abschließen, sondern muß es auch rechtfertigen. So wird ja auch
nungsjahr des Weißschen Werks) zusammengetragen (65-78). Dabei L. s endgültige Übersetzung der OdSal erst von diesem erwartet. Und
Wlrd die durchgängige Ausrichtung auf ein Verständnis im Sinne der entsprechend dieser Perspektive des Werkes, mit seinem „Achter-
Probleinatischen Lutherübersetzung von Lk 17,20 „inwendig in gewicht", ist der vorausgeworfene Schatten des Kommentars in dem
eUch" deutlich (68), durch die das Reich Gottes als geistige und vorliegenden dritten Band, einem „Zwischenglied", praktisch omni-
ethische Größe erscheint. Das in neupietistischer Erweckung bevor- präsent (z. B.: „Diese Forderung gilt immernoch, bis ein vollständiger
zu8te Verständnis der „Reichgottesarbeit" im Sinne von äußerer und Kommentar ihre Erfüllung erlaubt!" [S. 60] „. . . die für einen Kom-
■nnerer Mission tritt in den ausgewählten Predigten auffallend zurück. mentar herangezogen werden müssen" [S. 61]). Daß der Fortgang des
agegen findet sich gegen Ende der Periode - also in zeitlicher Nähe Unternehmens sich verzögert hat (S. VII), ist - in Anbetracht der
. Johannes Weiß-die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokra- Umstände (L. lehrt jetzt im Department of Studies in Religion an der
**• Diese nimmt breiten Raum ein in den Artikeln und Betrachtungen University of Queensland, Australien) - völlig verständlich. Und ver-
er ersten Jahrgänge der Christlichen Welt, die als bildungsbürger- ständlich ist es auch, daß sich während dieses „Verzugs" die Pläne
cties Gegenstück zur populären Predigtliteratur gelten kann selbst etwas geändert haben. So ist nun auch aus der eigentlich als
'07). Inhalt des Bandes III angekündigten Forschungs#esc7i/(7i/e inzwi-
Für den theologischen Diskurs bleibt freilich die eher theoretisch sehen, wie jetzt zu sehen ist, eine Forschungs/>iMo#rap/ii'e geworden,
"Scheinende Positionsbestimmung noch bedeutsamer. Mit der Her- bzw. ist die Transformation der Bibliographie in Geschichte nicht
ausarbeitung des apokalyptisch-transzendenten Charakters, der dem mehr für unbedingt nötig gehalten worden. Ob man diese Entschei-