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Ausgabe:

1990

Spalte:

151-158

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Titel/Untertitel:

Handbuch der Ökumenik 1990

Rezensent:

Sens, Matthias

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 2

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gesprochen wird. Ebenso räumt Oser einerseits ein, daß Religiosität
mehr sei als Kontingenzbewältigung (die Problematik des Begriffs und
die Schwächen der funktionalen Religionstheorie bearbeitet A. Müller
in einem wichtigen Beitrag), andererseits aber beschränkt er sich
auf Beispiele aus diesem Bereich.

In einem zweiten Sinn von Komplexität wird dargelegt, daß das religiöse
Urteil selbst nicht ausschließlich Niederschlag kognitiver Strukturbildung
ist. W.-D. Bukow fragt nach der Entstehung von Religiosität
in alltäglichen Situationen und nach der Bedeutung soziokulturcller
Modelle für diesen Prozeß, T. B. Seiler und S. Hoppe-Graff behandeln
in einem gemeinsamen Beitrag im Rahmen einer immanenten Kritik an
Piagets Stufentheorie die Bedeutung der soziokulturellen Angebote in
der Entwicklung des begrifflichen Denkens überhaupt.

Die ausgewogene Einleitung durch die Herausgeber bietet einen
Schlüssel nicht nur für das Buch selbst, sondern für die gesamte Problematik
, in der die Schwächen wie die zukunftweisenden Impulse
auch demjenigen Leser deutlich werden, der mit der Materie nicht
ausdrücklich vertraut ist.

München Hans-Jürgen Fraas

Ökumenik: Allgemeines

Handbuch der Ökumenik. Hg. im Auftrag des J. A. - Möhler-Instituts
von H. J. Urban u. H. Wagner. Bd. I: 352 S. Pp. DM 48,-; Bd. II:
272 S. Pp. DM 36,-; Bd. 111,1: 267 S. Pp. DM 36,-; Bd. 111,2: 344 S.
Pp. DM 36.-. Paderborn: Bonifatius 1985/86/87. gr. 8".

Das „Handbuch der Ökumenik" ist ein groß angelegter Versuch,
„die Geschichte von Einheit und Spaltung sowie die Bemühungen um
die Wiederherstellung der Einheit in Geschichte und Gegenwart (zu)
dokumentieren und die historisch-theologischen Hintergründe und
Implikationen deutlich (zu) machen." (Bd. I, S. 13) Bd. 1 enthält nach
einer Einleitung zur Begriffsbestimmung von Ökumene Darstellungen
von Einheit und Gemeinschaft in der Bibel und in der alten Kirche,
die Geschichte des Zerbrechens der Kircheneinheit bis zur Zeit der
Gegenreformation und der Bemühungen um Einheit vom 17. bis zum
19. Jh. Im 2. Band folgt die Darstellung der ökumenischen Bewegung
im 20. Jh., wobei der röm.-kath. Kirche, der Orthodoxie, den Angli-
kanern, Altkatholiken und Freikirchen jeweils eigene Kapitel bzw.
Abschnitte gewidmet sind. Bd. III/l ist dann systematisch aufgebaut:
Behandelt werden: Fundamentaltheologische Probleme, kommunikationstheoretische
und theologische Grundfragen des ökumenischen
Dialogs, ökumenische Leitbilder und Zielvorstellungen, gemeinsame
ethische Probleme und die Problematik Grundübereinstimmung -
Grunddissens. In III/2 folgen eine Darstellung des erreichten Gesprächsstandes
zu den klassischen Kontroversthemen, werden Möglichkeiten
ökumenischen Miteinanders in Kirche und Gemeinde
reflektiert und schließlich in einem Anhang ökumenische Instanzen
und Strukturen aufgezählt, die für einen Katholiken in der Bundesrepublik
Deutschland wichtig sind.

Es ist außerordentlich verdienstvoll, daß damit von katholischer
Seite eine umfassende Darstellung der Grundsätze und Geschichte der
Ökumene und ihrer Probleme vorliegt. Etwas Vergleichbares gibt es
m. W. auf evangelischer Seite nicht. Es ist ein Vorteil, daß von den
Spezifika des katholischen Ökumenismus und Ökumeneverständnisses
„in diesem Handbuch ausreichend die Rede" ist (I. 25), gerade
wenn sie so sachlich und ökumenisch vorgetragen werden. Treue zu
den offiziellen kirchlichen Positionen und das Bemühen, weiterzudenken
, wo es nötig und möglich ist. werden miteinander verbunden.
Das kann dem ökumenischen Gespräch nur forderlich sein.

Das Handbuchist ein im guten Sinne akademisches Werk. Ökumenik
ist inzwischen ja Hochschullehrfach und somit auch „die wissenschaftlich
-theologische Beschäftigung mit den angesprochenen Sachverhalten
" (I, 24). Das Handbuch wird somit für diejenigen hilfreich
sein, die sich wirklich eingehend mit Problemen der Ökumen-

beschäftigen wollen. Es wird die weitgehend im Stich lassen, die
schnell etwas nachschlagen wollen oder sofort verwendbare Hinweise
für die Praxis suchen. Ob der Nutzerkreis damit sehr breit werden
wird, sei dahingestellt. Da müßte die Pfarrerschaft in der Bundesrepublik
Deutschland doch sehr anders gelagert sein als in der
DDR.

Wie soll man ein solches Werk rezensieren? Die Hg. haben einen
beachtlichen Kreis von Experten für die einzelnen Kapitel gewinnen
können. Das führt gewiß zu manchen Doppelungen und unterschiedlichen
Akzenten, aber auch zu einem hohen Maß an Kompetenz. Es
bedürfte schon eines kleinen Kollegiums von Rezensenten, um den
einzelnen Kapiteln wirklich gerecht werden zu können. Ich habe das
Handbuch bewußt mit den Augen eines evangelischen Theologen
gelesen. Vorwiegend aus dieser Sicht sollen im folgenden dann auch
Fragen gestellt und das Gespräch gesucht werden.

Der Ökumene-Begriff hat es in sich. H. J. Urban und H. Wagner
stellen seine Entwicklung übersichtlich dar (I, 20-36). „Ökumene im
Vollsinn ist die Einheit der Menschheit mit Gott" (I, 22). In diese
Grunderkenntnis wird die stärker auf Einheit der Kirche bezogene
Begrifflichkeit in der kath. Kirche eingebettet und die Verbindung von
Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit im ÖRK gewürdigt.
Allerdings wird nicht ganz deutlich, daß für das evangelische Ökumeneverständnis
die gemeinsame Berufung zu weltweitem Zeugnis und
Dienst bis in die ökumenische Praxis hinein konstitutiv ist. Und in der
Stoffauswahl für das Handbuch setzt sich das katholische Ökumenismus
-Verständnis durch. Ja, sie reduziert sich weithin auf die „evangelisch
-katholischen Beziehungen", weil von ihnen „die Ökumene in
Deutschland" geprägt ist (1,29).

Identität und Kontinuität Israels in seinem besonderen Verhältnis
zu Gott stellt J. Gamberoni als Schlüssel frage für die Einheit des
Volkes Gottes im Alten Testament heraus (I, 37-50). In der Darstellung
der Einheit der Kirche im Neuen Testament (I, 51-87) wird von
F. G. Untergaßmair in mehreren systematisierenden Durchgängen
(Terminologie, Wesen, Bilder, Probleme, Lebensvollzüge) herausgestellt
, daß und wie „sich das NT mit großer Selbstverständlichkeit
zur .einen' Kirche Gottes (bekennt)" (I, 53). Die Entfaltung der Einheit
in Vielfalt wird nur als ein Problem gesehen, nicht aber z. B. vom
Leib-Christi-Gedanken her auch positiv gewürdigt.

Für die frühchristliche Zeit sieht H. .1. Schulz (I, 88-121 (Glaubensgemeinschaft
(Taufbekenntnis!) und eucharistische Communio als
Grundformen kirchlicher Einheit, als Kriterien dafür die apostolische
Sukzession und bischöfliche Kollegialität. Für die Väterzeit waren
dann die Ökumenischen Konzilien und die Patriarchatsverlässung die
wesentlichen Gestaltungsprinzipicn der Kircheneinheit, die freilich
immer wieder auch zu ihrer Krise wurde. Die besondere Rolle Roms
wird durchgängig herausgearbeitet, meistens moderat, aber doch nicht
immer so, daß von Historikern anderer betrotfener Kirchen Zustimmungerwartet
werden könnte (z. B. Rolle Leos in Chalkedon).

„Daß Kircheneinheit mit dem Osten nur zu erhoffen ist. wenn es
gelingt, die genuinen Einheits- und Gemeinschaftsstrukturen der frühchristlichen
und der konziliaren Epoche in Zukunft neu zu aktivieren
" (I. 123) ist der Leitgedanke, unter dem H. J. Schulz „Das Zerbrechen
der Kircheneinheit zwischen Ost und West und die Versuche
der Heilung" darstellt (1, 122-179). Dem dient eine Revision des
Photiosbildes und der Bewertung der Synoden von 869/70 und
879/80 ebenso wie eine sehr besonnene Beurteilung der Unionsbemühungen
von Lyon und Florenz. Auch die Beschreibung der
Unionsversuche und Teilunionen bis ins 19. Jh. hinein ist im Grundtenor
kritisch und erspart sich nicht die „unvermeidbare Frage nach
deren ekklesiologischer Vertretbarkeit" (I, 123).

Man ist schon einigermaßen erstaunt, nun das nächste, von W.
Brandmüller verfaßte, Kapitel überschrieben zu sehen: „Das Mittelalter
- Von der Einheit zur Spaltung" (I, 180-195). Was für eine Einheit
der Kirche ist denn das noch nach dem Bruch mit dem Osten,
diese „abendländisch-katholische Einheit" (1, 181)? Nun, für die westliche
Kirche ist der Blickwinkel Einiieit - Spaltung für das Mittelalter