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Ausgabe:

1990

Spalte:

139-140

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rousseau, Félicien

Titel/Untertitel:

Courage ou résignation et violence 1990

Rezensent:

Kreß, Hartmut

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Seite 1

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139

Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 2

140

Thematik erörtert wurde, knapp gehaltenen Auswahl werden Texte
von 20 Autoren veröffentlicht (teils neu übersetzt, teils als Reprint).
Die Kollektion beschränkt sich dabei auf das 16., 19. und 20. Jh. Die
Orthodoxie fehlt, weil nicht ohne Verkürzungen exzerpiert werden
könne (warum nicht in einem weiteren Band?) - Pietismus und Aufklärung
fehlen, weil sie weitgehend nur nach Konsequenzen der
Rechtfertigung fragen, schade, denn auch da spricht sich ein verändertes
Verständnis aus. Die Auszüge aus Werken von Luther, Melanch-
ton, Calvin, Kant, Wegscheider, Ritsehl, Kähler, Schlatter, Holl,
Gogarten, Herrmann, Althaus, Kattenbusch, Iwand, Wolf und Barth
werden jeweils kurz eingeleitet. Die Texte von H. Küng, W. Lohff,
H.-J. Kraus und C. F. von Weizsäcker sprechen in ihrer Kürze für
sich. Eine lOseitige Auswahlbibliographie komplettiert den Band.

R. M.

Systematische Theologie: Ethik

Rousseau, Felicien: Courage or Resignation and Violence. A Return
to theSourcesofEthics. Montreal: Bellarmin 1987. 265 S. gr. 8*.

Die neuere ethische Diskussion ist in hohem Maß durch Probleme
der heutigen Wertkrise und des Wertewandels bestimmt. Das vorliegende
Buch stellt sich diesem Thema, indem es eine Reflexion von
Tugenden (virtues) bzw. Werten (moral values) aus katholischer,
naturrechtlicher Sicht bietet. Hierbei wird jedoch nicht, wie jüngst
noch vonG. Ermecke(Sein und Leben in Christus, 1985), die erkenntnistheoretisch
unhaltbare Idee einer platonisch-ontologischen Werthierarchie
und naturrechtlichen Wertmetaphysik neu belebt. Vielmehr
werden Thomas v. Aquins Lehre von den natürlichen Inklinationen
und sein Vernunftbegriff als Ausgangspunkt gewählt (38 IT; 48:
Vernunft als Natur) und daran anknüpfend seine Tugendlehre mit
dem Schwerpunkt der Tapferkeit (courage) erörtert. Mit Thomas'
Naturrecht sind für Rousseau die Quellen ("sources") gegeben, zu
denen die Ethik „zurückkehren" solle (13ff).

Eine solche „Rückkehr" zu Thomas' Naturrecht, besonders zu
seinem Tugendbegriff der Tapferkeit, verbindet sich bei Rousseau mit
einer scharfen Kritik an der durch „Gewalt" charakterisierten neuzeitlichen
Ethik und Zivilisation. Zum Beispiel bedenke E. Fromm,
dem Darwinismus verhaftet, nur die zur Aggression verleitenden
Instinkte und Triebe des Menschen. Demgegenüber lehre Thomas die
Möglichkeit einer vernünftigen Erziehung der natürlichen Leidenschaften
durch den Menschen (101 f). Vor allem aber stellt der Autor
grundlegend die „produktive", d. h. die technische Vernunft des die
Natur beherrschenden „homo faber" als problematisches Kennzeichen
neuzeitlichen Denkens heraus: u. a. bei Fromm (105), Machia-
velli und Kant (78, 131 ff, 137ff, u. ö.). Thomas' Naturbegriff sowie
sein Verständnis ethischer Vernunft und Tugend seien in Vergessenheit
geraten. Auch Nietzsche und Marx werden an Thomas gemessen
(145-162) und als Promulgatoren einer „Zivilisation der Gewalt"
kritisiert.

Trotz zutreffender Grundgedanken - auch P. Tillich oder M. Horkheimer
haben die Dominanz der instrumentellen, technischen über
die ontologische oder kritische Vernunft skeptisch erörtert! - vermag
freilich die durchgängige Berufung auf Thomas als Quelle ethischen
Urteilens nicht zu überzeugen. Es unterbleibt die Frage, inwiefern
philosophische und theologische Denkansätze über Thomas hinausgeführt
haben. Problematisch gewordene Denkvoraussetzungen
Thomas', z. B. die Lehre von der Geistseele (48: "the rational soul"
als "substantial form" des Menschen) werden ohne weiteres rezipiert.
Fraglos ist dem Autor darin zuzustimmen, daß der in Thomas' Lehre
von den natürlichen Inklinationen positiv gefaßte Begriff der „Natur",
nämlich der eigenen menschlichen wie auch der nichtmenschlichen
Natur, im neuzeitlichen Denken mit verhängnisvollen Folgen desavouiert
worden ist. „Natur" wurde zum bloßen Objekt technischer
Herrschaft degradiert. Über die vom Autor genannten Aspekte

hinausführend, wäre v. a. zu betonen, daß zukünftig u. U. mögliche
Anwendungen der Gentechnik (Keimbahnexperimente, Klonieren
u. a.) die „Natur" des Menschen selbst zu instrumentalisieren drohen.
Jedoch: Lassen sich diese modernen, durch die Gentechnik sowie
durch die ökologische Krise bedingten Gelähren für die menschliche
und die nichtmenschliche Natur von den naturrechtlichen Kriterien
Thomas' her zureichend erfassen? Jedenfalls müßte der naturrechtliche
Naturbegriff selbst näher geklärt und auch im Kontext neuerer
philosophischer Naturdeutungen (z. B. H. Jonas, Organismus und
Freiheit, dt. 1973)diskutiert werden.

Die Grenze einer Rezeption Thomas' zeigt sich überdies auch dann,
wenn der Autor die Suizidgefährung in der heutigen Gesellschaft
erörtert (I94ff), in welcher die „produktive" Vernunft vorherrsche
und die natürliche Liebe zum Leben verdunkelt sei (198: "pain and
stress darken the love of life"). Doch angesichts des Suizidproblems
bleibt die Berufung auf Thomas' Tugendbegriff der Tapferkeit (200)
rein appcllativ. Grundsätzlich weist der Autor jedoch mit Recht auf
die Aufgabe der Ethik hin, überlieferte ethische Wertbegriffe im Blick
auf neue Gegebenheiten und gewandelte gesellschaftliche Umstände
hin zu reflektieren (46). Zum Beispiel könnte, angesichts einer an
Konsum und einseitigem technologischen Fortschritt orientierten Gesellschaft
, in der Gegenwart der überlieferte religiöse Wertbegrift'der
Askese neu an Bedeutung gewinnen (so H. Jonas oder C. F. v. Weizsäcker
). Demgegenüber ist freilich schwer erkennbar, in welcher
Weise der im Buch Rousseaus in die Mitte gerückte Tugendbegriff der
„Tapferkeit" dazu beitragen kann, plausible Handlungskriterien für
die Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Risiken in der
hochkomplexen, technisierten Gesellschaft derGegenwart aufzufinden.

Wachtberg-Niederbachem Hartmut Kreß

Kleber, Karl-Heinz, u. Joachim Piegsa [Hg-]: Sein und Handeln in
Christus. Perspektiven einer Gnadenmoral. St. Ottilien: EOS Verlag
1988. 231 S„ 1 Taf. 8-= Moraltheologische Studien. Syst. Abt.,
15. geb. DM 48,-.

Festschriften spiegeln gewöhnlich gerade den Alltag einer Denkrichtung
wider. Denn jeder Beitrag kann den Jubilar, dem diese
Schrift gilt, nur mit einem kurzen.Artikel aus dem je eigenen individuellen
Forschungsbereich ehren und nicht mit einer eingehenden Bearbeitung
eines wissenschaftlich Neuen oder einem weitgespannten
Überblick. So spiegelt die vorliegende Festschrift den Alltag der
katholischen Moraltheologie wider. Zudem findet sie die katholischen
Theologen unter sich. Das zeigt sich nicht nur daran, daß
Konzilstextc und päpstliche Enzykliken wie selbstverständlich als
Argumente fungieren, sondern schon reip verbal an vielen Formulierungen
, z. B. Sätze wie: „Aber vorbehaltlose Zustimmung zum lehramtlichen
Anspruch erwartet der Papst wohl nur von gläubigen
Christen..." (151) (für diesen Satz sind also Protestanten keine
gläubigen Christen); oder: „Niemand wird bestreiten, daß diese Konzilsaussage
" (über die Firmung) „zur göttlich-apostolischen Tradition
gehört" (164) (dieser „niemand" kann nur ein Katholik sein). Hier
sprechen also katholische Theologen unter sich und für sich. Aber das
macht gerade den Reiz der vorliegenden Schrift aus, katholischen
Moraltheologen nicht im ökumenischen Gespräch oder in allgemein-
wissenschaftlichen Erörterungen zuzuhören, sondern sie in ihrer alltäglichen
Arbeit unter sich belauschen zu können.

Die vorliegende Festschrift hat dabei noch einen besonderen Reiz-
Sie ist dem katholischen Moralthcologen Josef Georg Zieglcr zum 70.
Geburtstag gewidmet, der besonders den Kontakt mit polnischen
Theologen hergestellt und gepflegt hat. Deshalb stammen auch sieben
von zwölf Beiträgen aus polnischer Feder (in deutscher Übersetzung)
Aber noch mehr: Zieglcr wurde schon zu seinem 60. Geburtstag ein«
Festschrift überreicht, in der Karol Wojtyla. der jetzige Papst Johannes
Paul IL, selbst einen Beitrag geschrieben hatte. Denn Zieglcr hatte
dem damaligen Erzbischof von Krakau die Ehrendoktorwürde des
Katholisch-Theologischen Fachbereichs der Universität Mainz über-