Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1990

Spalte:

127-128

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Titel/Untertitel:

Kirchenverbesserung in Oldenburg 1990

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

127

Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 2

128

„bündige Formel einer sozialkonservativen Denkweise" charakterisiert
, wie er selbst als „loyaler landesherrlicher Theologieprofessor";
das trifft wohl an der Person Luthers wie an den Wittenberger Verhältnissen
vorbei.

Über die Erfurter Pastoren heißt es: „allesamt waren sie überaus
rührige und beredsame Verteidiger ihrer gottgesetzten Obrigkeit, der
sie beisprangen, wann immer es angezeigt schien" (S. 191). Mit dieser
Feststellung steht aber nicht im Einklang, was über einzelne Prediger
geschrieben wird. Von den Landpfarrern wird denn auch das genaue
Gegenteil berichtet.

Unter der Überschrift „Die Reformation tritt auf der Stelle" (Teil 5)
werden die Jahre 1525/26 bis 1530, bis zum Hammelburger Vertrag
treffend als „Zwillingsgefahr ernestinischer Umhalsung und erzbischöflicher
Bedrohung" beschrieben. Dem Auf-der-Stelle-Treten
entspricht folgerichtig auf dem Lande die Wirksamkeit von Sektierern
, Apokalyptikern, die denn auch auf die Stadt übergreift. Die Vermischung
der verschiedenen Richtungen oder Tendenzen ist in den
Quellen begründet, wir würden gern genauer differenzieren etwa
zwischen Müntzer und den Täufern; wichtig ist schon der Hinweis auf
Zwingiis und Karlstadts Schriften bzw. ihre Wirkung in hiesigem Bereich
.

Das Dorf und seine Kirche wird konservativ regiert „denn die Stadtobrigkeit
, wenn sie Politik betrieb, trachtet nicht nach der Wahrheit
des göttlichen Worts, sondern nach der Unabhängigkeit des Gemeinwesens
und der Eintracht ihrer Bewohner" (S. 200).

Wesentlich erscheint die Zusammenfassung (S. 241). „Die Stadt
zeigt dem Reich die Lösung, nämlich eine vertragliche Akzeptierung
der Reformation" (S. 243).

Der Schlußteil heißt: „die Mäßigkeit wird zum Maß". Damit wird
das Vorgehen der Stadt - Rat wie Volk - in den kommenden Jahren
bis hinein in die Gegenreformation beschrieben. Wieder weicht das
Landgebiet von der Regel ab. Hier wirken sich Interim und adiapho-
ristischer Streit stärker aus. Unter der Bedrohung durch Moritz von
Sachsen 1551 ist die Stadt noch einmal einig, sonst gehorcht man dem
Interim. Auf weite Strecken gilt: Der Rat gestattete, aber er gestaltete
nicht (S. 276). Das gilt aber nicht erst seit dem Augsburger Religionsfrieden
, sondern schon seit 1525 oder früher.

Am Rande des behandelten Zeitraumes steht die „Formula paeifi-
cationes". Hier tritt der Rat als Schlichter auf in den inneren Streitigkeiten
der Erfurter Pfarrerschaft und ihrer kollegialen Leitung, dem
Evangelischen Ministerium. Die Annahme, das Ministerium verdanke
alles dem Rat, ist falsch (S. 279). Die Benutzung der Ratskutsche
durch die Visitatoren kann auch umgekehrt als Dienstwilligkeit
des Rates gegenüber der Kirchenobrigkeit verstanden werden,
was ebenso falsch wäre. Tatsächlich geht es nicht um Über- oder
Unterordnung, sondern ein friedliches Nebeneinander, in dem jeder
dem anderen Teil sein Recht und seine Würde ließ, außerdem hatte
der Rat einen ständigen Vertreter im Ministerium.

Alles in allem liegt die Bedeutung der Arbeit in der Materialsichtung
, -erschließung und -Zusammenstellung. Ein Beitrag zur
Frage Stadt und Reformation kann sie nur in sehr begrenztem Maße
sein, denn diese Fragestellung ist nur ungenügend - wenn überhaupt -
aufgenommen; dazu hätte sie in einem weiteren Rahmen gespannt
werden müssen. Der einseitige Ansatz einer Reformation von oben im
städtischen Kontext wird der Vielfalt der Erscheinungen letztlich
nicht gerecht. Die Frage städtischen Selbstverständnisses - wie sie die
Kontroverse Brady-Moeller bestimmt - bleibt außer Betracht. Ergiebiger
sind die Beobachtungen zum Stadt-Land-Verhältnis. Die von
Scribner(1975 p. 60)gestellten Fragen sind weiter unbeantwortet.

Erfurt Wilhelm Velten

Müller, Wolfgang Erich [Hg.]: Kirchenverbesserung in Oldenburg.

Dokumente zum Reformationsjubiläum 1817. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1988. 225 S. gr. 8" = Studien zur Kirchengeschichte
Niedersachsens, 28. Kart. DM 38,-.

Die Lutherrezeption hat in jüngster Zeit viel Interesse gefunden.
Auch das Jubiläum 1817 war bereits mehrfach Gegenstand von
Untersuchungen, zuletzt in Wichman von Medings Arbeit: Kirchenverbesserung
. Die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817
(Bielefeld 1986).

Von Meding stützte sich auf gedruckte Festpredigten aus den
deutschen Bundesstaaten. W. E. Müller konnte hingegen auf 57
handschriftlich vorliegende Predigten zurückgreifen, die auf Anforderung
des Generalsuperintendenten Hollmann für das Herzogtum
Oldenburg eingereicht wurden. Was zum Reformationsfest 1817
gepredigt wurde, läßt sich für ein ganzes Kirchengebiet somit genauer
als bislang möglich kontrollieren. Ein „Kurzer Bericht über die Feier
des dritten Jubelfestes der Reformation am 31. Oktober 1817 in den
einzelnen Kirchspielen des Herzogthums Oldenburg" ergänzt diesen
Überblick. Ein weiterer Vorteil liegt im Abdruck von einer Anzahl
vollständiger Predigten. Der Hg. entscheidet sich für vier
gedruckte Predigten bzw. Reden (A. G. Hollmann/Oldenburg, G. A.
Flor/Oldenburg, F. R. Ricklefs/Oldenburg - lat. und deutsch, J. F. C.
Bodenstein/Oldenburg) und für sieben Predigten aus der handschriftlichen
Überlieferung (H. G. Achgelis/Vechta, B. Bollenhagen/Bardewisch
, H. J. Bonus/Eckwarden, H. Hansing/Varel, H. H. Hespe/
Bockhorn, J.W. Roth/Oldenburg, G. C. Schumacher/Waddens). Der
Hg. sieht die kürzlich durch R. Schäfer „als neologisch charakterisierte
Einschätzung der theologischen Gesamtsituation in Oldenburg"
(11) durch die Reformationspredigten bestätigt. Er stellt als „Grundaussage
aller Predigten die Wiederherstellung der ursprünglichen
Religion Jesu durch die Reformation Luthers und der anderen Reformatoren
" fest (19). An Bollenhagens Predigt erläutert er- den
„Wiederherstellungstypos" genauer und weist vergleichend auf
weitere Ähnlichkeiten, aber auch Eigenprofile der anderen Predigten
hin. Die konkreten Zeitereignisse bleiben meist im Hinlergrund.

Aber der Sieg über Napoleon ist wie Luthers Sieg über die geistige
Unfreiheit als Impuls verstanden worden, daß sich der Mensch in
Freiheit vervollkommene. Dieses von der Aufklärung vorgegebene
Ziel wird aber in den Predigten allein ekklesiologisch in den Blick
gefaßt. Die Möglichkeiten liegen vorwiegend im ethischen Bereich.
Ausgesprochen nationale Töne sind selten (am ehesten noch bei Flor
z. B. 51: „unser Luther, der Stolz der Deutschen"). Vom Hg. wird die
mehrfache Wendung gegen Schwärmerei im Zusammenhang mit
Anspielungen auf die Französische Revolution nicht besonders hervorgehoben
. Sie ist jedoch mindestens bei drei Predigern deutlich vorhanden
: Flor (53-55), Bodenstein (930, Hansing (140-142). Bei einer
derart starken Orientierung der Prediger an der Aufklärung sind die
Predigten erwartungsgemäß durchweg reine Themenpredigten. Der
konkrete Text hat nur Mottofunktion. Eindrucksvoll wird dieser Tatbestand
illustriert durch den „Kurtze(n) Bericht über die Feier"
(173-208), nach der überarbeiteten Druckfassung von 1818 und
1819), in dem der Ablauf der Feiern in sämtlichen Orten des Herzogtums
knapp festgehalten worden ist. Der „Bericht" gibt außerdem
Auskunft über die Anschaffung von Lutherbildern und -büsten (teilweise
an der Kanzel aufgehängt, in Ovelgönne neben den neuen
Abendmahlsgeräten' auf dem Altar aufgestellt), von Bibeln und
Gesangbüchern, aber auch Unterrichtsbüchern für Lehrer und
Schüler. In Pakens wurde bei dieser Gelegenheit eine Schulbücherei
eingerichtet. Seltener gab es Stiftungen für die Armen (Speisung,
Geldgeschenk, Wohnungen). Mißerfolge bei der Verwirklichung der
Vorhaben (mangelhaftes Spendenaufkommen, unterbliebener Schulneubau
) werden ebenfalls nicht verschwiegen. In der Diasporagemeinde
Vechta hatte die Feier ökumenische Züge (Teilnahme von
Katholiken, Arbeitsruhc).

Die vorliegende Publikation ist nicht nur ein Beitrag zur Landeskirchengeschichte
Oldenburgs, sondern zugleich zur Geschichte der
Lutherrezeption und der Geschichte der Homiletik.

Berlin Siegfried Brauer