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Ausgabe:

1990

Spalte:

87

Autor/Hrsg.:

Schille, Gottfried

Titel/Untertitel:

- 93 Zur Relation von Linguistik und Formgeschichte 1990

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87

Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 2

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Mit dem Problem der Leitung der Abendmahlsfeier ist bereits die
Verbindung der Eucharistiediskussion mit jener Thematik angezeigt,
die seit langem im Zentrum ökumenischer Auseinandersetzungen
steht, der Amtsfrage. Indes sollte man sich in diesem Zusammenhang
vor allzu geläufigen kontroverstheologischen Konsequenzen hüten.
Statt sich vorschnell jener bekannten, argumentativ eingespielten
Gegensätze zu versichern, wäre noch einmal in gebotener Bedachtsamkeit
zu fragen, ob die ökumenischen Möglichkeiten des trinitäts-
theologisch fundierten, auf Anamnese und Epiklese konzentrierten
eucharistischen Konzepts des Lima-Dokuments schon hinreichend
wahrgenommen oder gar ausgeschöpft sind. Gerade die für die lutherischen
Kirchen eher ungewohnte pneumatologische Perspektive (vgl.
66ff) könnte nach meinem Urteil Bewegung in überkommene Argumentationsfronten
bringen und schließlich auch dazu verhelfen, „das
Verhältnis von Christus als dem Subjekt der Kirche und der handelnden
Kirche" (70) angemessener als bisher zu beschreiben.

Unbeschadet dessen dürfte die Prognose zutreffen, daß die Amtsfrage
noch eine geraume Weile jene zentrale ökumenische Streitfrage
bleiben wird, die sie gegenwärtig ist. Die lutherischen Rezeptionsbeiträge
bestätigen diesen Befund ebenso wie die vatikanische Stellungnahme
zum Lima-Dokument (vgl. dazu meinen Aufsatz: Eine evangelische
Stimme zu Roms Antwort auf Lima, in: ÖR 38, 1989,
30-46). Insbesondere in der Frage der rechten Verhältnisbestimmung
von Priestertum aller Gläubigen und ordinationsgebundenem Amt
besteht bislang noch keine integrative Einigkeit. Daran haben offenbar
auch die Limapapiere nichts ändern können. Nach Seils stellen
zahlreiche lutherische Kirchen bereits deren Gesamtstruktur in Frage,
„weil hier das Amt gleichrangig neben die Heilsmittel Taufe und
Eucharistie gestellt zu werden scheint" (93). Hinzu kommt, daß
„gegenüber den Erklärungen zu Taufe und Eucharistie . .. das generelle
Urteil der lutherischen Kirchen zum Dokument über das Amt
weitaus zurückhaltender aus(fällt)" (91). Zwar wird der Einsatz bei der
Berufung des* ganzen Volkes Gottes ausnahmslos begrüßt, doch
beklagt man zugleich das vergleichsweise geringe Gewicht dieses
Abschnittes angesichts der folgenden Konzentration auf das ordina-
tionsgebundene Amt (95). Es wird betont, daß der Gemeinde in ihrem
Verhältnis zum Amt keineswegs eine „nur begleitende oder bestätigende
Funktion zu(komme). Nach dem in den lutherischen Stellungnahmen
vertretenen Verständnis vom Priestertum aller Getauften ist

dem ganzen Volk Gottes die Verantwortung für die rechte Verkündigung
, für die schriftgemäße Verwaltung von Taufe und Abendmahl,
für die Leitung der Gemeinde und für die Einheit der Kirche übertragen
.. . Der Auftrag der Kirche kann nur im Miteinander von
nichtordinierten und ordinierten Gliedern bei der Verkündigung des
Evangeliums erfüllt werden. Auch die Leitungsverantwortung ist der
ganzen Kirche anvertraut und wird von Nichtordinierten und Ordinierten
in Gemeindevertretungen und Synoden gemeinschaftlich
wahrgenommen." (1110 Die verbreitete Skepsis gegenüber der
Begründung, die der Notwendigkeit und Spezifizität des ordinations-
gebundenen Amtes im Lima-Dokument zuteil wird, gehört in diesen
Kontext. Wiederholt wird der Verdacht geäußert, „hier werde die
besondere Stellung des Amtes außer durch seine besondere Wahrnehmung
des Sendungsauftrags des ganzen Volkes Gottes noch
durch bestimmte dem Amt zukommende Qualitäten begründet, die
seinen Träger von den Nichtordinierten unterscheiden" (106). Geht
man allerdings der Frage genauer nach, worin denn nun die spezifische
Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes in der Wahrnehmung
des Sendungsauftrags des ganzen Volkes Gottes besteht, so
zeigen sich neben gemeinsamen Konturen nicht unerhebliche Unausgeglichenheiten
innerhalb der lutherischen Stellungnahmen (99). Dies
dürfte auf ein durchaus chronisch zu nennendes Theoriedefizit des
Luthertums bezüglich einer differenzierten Verhältnisbestimmung
von allgemeinem, allen Getauften gemeinsamen Priestertum und
besonderem ordinationsgebundenen Amt zurückzuführen sein, welches
seinerseits entscheidend mitverantwortlich ist für jene tendenzielle
Strukturschwäche, wie sie eingangs registriert wurde. Vergegenwärtigt
man sich, in welch hohem Maße die Beantwortung dieser Frage
alle Folgeprobleme der Amtstheologie vom Ordinationsverständnis
(129ff) über das Problem der Gliederungsformen des Amtes (116ff) bis
hin zur Thematik der apostolischen Sukzession (12311") bestimmt, so
scheint es theologisch ratsam, sich an ihr als an einer ökumenischen
Meisterfrage zukünftig intensiver und mit höherem gedanklichen Aufwand
zu erproben. Jedenfalls sollte die häufig anzutreffende Theorienot
zu keiner praktischen Tugend verklärt werden. Denn dies würde nur
eine Entwicklung befördern, die es nach Kräften zu verhindern gilt, daß
nämlich anstelle theologischer Reflexion bürokratische Verwaltung des
Status quo und des konfessionalistischen Besitzstandes die Führung in
der Kirche übernimmt.

Zur Relation von Linguistik
und Formgeschichte

Von Gottfried Schille, Borsdorf

Als die Linguistik für die theologische Forschung fruchtbar
gemacht werden sollte, haben sich sehr rasch Spannungen ergeben zu
dem in der Exegese weithin etablierten Methodenkreis, den wir im
ganzen als Formgeschichte zu bezeichnen gelernt haben.1 Das führt
möglicherweise zu dem Anschein, als gehe es der Linguistik um eine
Ablösung der Formgeschichte, weil sich Linguistik und Formgeschichte
in einer kaum auflösbaren Spannung gegenüberstehen.
Doch der Schein trügt. Natürlich hat die Linguistik berechtigte Anfragen
an die Formgeschichte. Sie sollte auch in Zukunft eine kritische
Instanz gegenüber der Formgeschichte sein. Aber die unvermittelte
Gegenüberstellung beider Arbeitsweisen läuft doch auf die Gefahr
hinaus, daß man deren wesentliche Ubereinstimmung verkennen
könnte. Daher ist es richtig, grundsätzlicher über das Verhältnis
beider Arbeitsweisen zueinander nachzudenken.

/. Zur Entwicklung der neutestamentlichen Formgeschichte

Konstituiert hat sich die neutestamentliche Formgeschichte in den
Jahren unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg. Die Anfänge basieren
auf zwei Voraussetzungen. Einmal gab es das Modell formgeschicht-

lichcr Arbeitsweise als erprobten Methodenkreis im Bereich der alt-
testamentlichcn Wissenschaft. Zum anderen setzt die Formgcschichtc
die Einsicht voraus, daß die vorher mit Energie betriebene Quellenforschung
gescheitert war.

Wer wissen möchte, was mit Formgeschichte gemeint ist, sollte sich
folglich nicht mit den Klassikern zur neutestamentlichen Formgeschichte3
auseinandersetzen, sondern sich im Bereich alttestament-
lichcr Forschung orientieren.4 Hier sei wenigstens ein Name hervorgehoben
: Hermann Gunkel, weil dieser Forscherauch für den neutestamentlichen
Bereich zu anerkannten Einsichten geführt hat. Überraschend
und nicht eben ein Zeugnis für allzu große Lernbereitschart
ist allerdings, daß bei Neutcstamenllern die Neigung zur Grundlagenkritik5
recht häufig auf den neutestamentlichen Anwendungsbereich
der Formgeschichte beschränkt geblieben ist, sich aber nicht unmittelbar
mit den alttestamentlichen Vorarbeiten beläßt hat.'' So sind ganze
Entwürfe der Kritik an der Formgeschichte, wenn man genauer hinsieht
, nichts anderes als, und zwar zum Teil durchaus richtige und
wegweisende. Anfragen an Rudolf Bultmann.7 Heute ist die Zeit dafür
reif, die leidige Trennung der beiden exegetischen Disziplinen endlich