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Ausgabe:

1990

Spalte:

828-831

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Rudloff, Ortwin

Titel/Untertitel:

Bonae litterae et Lutherus 1990

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 11

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denken des 500. Geburtstages von Thomas Müntzer im Jahre 1989"
nahe. Um konfessionelle Vorurteile gegenüber Müntzer abzubauen,
bedient sich Gritsch des hermeneutischen Mittels, den in wechselseitiger
Dämonisierung gipfelnden Streit zwischen Luther und Müntzer
als eine tragische Verkettung von Irrtümern zu interpretieren, erwachsen
aus der Unfähigkeit der Kontrahenten, die Anliegen des
andern wahrzunehmen. Auch aus dieser Geschichte können Christen
lernen: "... that they be more tolerant with each other than is usually
the case" (118). Welche Inhalte von den wechselseitigen Wahrnehmungssperren
betroffen waren, wird nicht im einzelnen aufgelistet
. (Dazu mehr bei E. W. Gritsch: Thomas Müntzer and Luther: a
tragedy of errors, in: Radical tendencies in the Reformtion / hg. v.
Hans J. Hillerbrand, St. Louis, Mo. 1988, 55-83.) Explizit wird hier
nur festgestellt, daß Luther Müntzers "pragmatic pastoral concern
for those who were victims" nie erkannt habe (117). Dem vermittelnden
Ansatz entspricht es, daß Gritsch gegenüber einer Bewertung
Müntzers abstinent ist, von der Bemerkung "arrogant self-confi-
dence" (54) abgesehen. Wie schon der Radikalpietist Gottfried
Arnold (1699/1700) will der im Umfeld eines pietistischen Luthertums
wirkende Autor das Urteil über Müntzers Person Gott anheimstellen
(118).

Gritschs Müntzerbild ist in der Formel "theocratic spiritualism"
(112) zusammengefaßt. Müntzer sei "the first Protestant theocrat" gewesen
, aber erst Zwingli und Calvin konnten "the establishment of a
society ruled by divine mandate alone" (III) partiell realisieren. Es
können sich hier Zweifel einstellen, ob der für Müntzer schon des öfteren
gebrauchte Begriff "Theokratie" trennscharf genug ist. Müntzers
Spiritualismus mit seinen charismatischen Implikationen sei dessen
entscheidendes Nein zu Luther und seiner Wertschätzung des äußeren
Wortes gewesen (115). Die meines Erachtens überzogene Formel "by
Spirit alone" (45), verwendet zur Charakterisierung von Müntzers
Geistlehre, hindert den Autor gelegentlich, den bei Müntzer gleichzeitig
vorhandenen Biblizismus wahrzunehmen. Im Brief Müntzers an
Melanchthon von Ende März 1522 unterstützt Müntzer die Forderung
aus der Wittenberger Bewegung (Karlstadt), die Ordnung der Messe
müsse genau ("ad amussium") dem apostolischen Ritus folgen (ed.
Franz 381, 120- Gritsch unterläuft das Textmißverständnis, Müntzer
lehne die Orientierung am apostolischen Ritus ab (44).

Gritschs Darstellung ist mit Ausnahme des ersten Kapitels, das die
Frühzeit Müntzers bis 1520 auf der Grundlage der jüngsten Forschungen
behandelt, stark an die Biographie Walter Elligers (1975) angelehnt
und faßt streckenweise dessen Interpretation für den englischsprachigen
Leser zusammen. Nicht immer bleibt dabei der hypothetische
Charakter von Elligers biographischen Rekonstruktionen hinreichend
sichtbar, was insbesondere bei der Darstellung von Müntzers
Reisen nach Böhmen und Prag (33-42) der Fall ist. Allerdings steht
für den Autor die differenzierte Darstellung des biographischen
Rahmens nicht im Vordergrund. Die Interpretation der Müntzertexte
drängt das Biographische noch mehr als bei Elliger zurück. Wie dieser
geht Gritsch an den Schriften und Briefen Müntzers entlang, aus
denen in englischer Übersetzung ausführlichst zitiert wird. Die noch
unedierten Randbemerkungen zu Tertullian bleiben unberücksichtigt
. Verschiedentlich finden sich Interpretationen, die die Forschung
weiterführen. Besonders anregend ist die Deutung von
Müntzers Brief an Bürgermeister und Rat zu Neustadt an der Orla
vom 17. 1. 1521, aus dem Gritsch Müntzers Selbstverständnis in Verbindung
mit seinen Kirchenverfassungsvorstellungen herausarbeitet.
Der Prediger nimmt, berufen durch den Geist, faktisch Funktionen
eines Bischofs wahr (250-

Insgesamt gesehen, hat das Vorherrschen der theologischen Interessenlage
in vorliegendem Buch dazu geführt, daß der jeweilige
Kontext von Müntzers Wirken als Theologe und Priester sowie der
äußere Ablauf der Ereignisse nur summarisch dargestellt sind. Lücken
in der Darstellung der Biographie und Vergröberungen in der Charakterisierung
des Umfelds sind die Folge. Nachteilig hat sich dies zum
einen bei der Deutung von Müntzers liturgischem Schaffen ausgewirkt
, der ein präziser liturgiegeschichtlicher Bezugsrahmen fehlt.
Zum andern ist die Darstellung von Müntzers Rolle im Bauernkrieg
(99-105) zu einer Koda im Leben eines "driven and restless spirit"
(111) geschrumpft.

Gerechterweise muß vermerkt werden, daß die genannten Mängel
teilweise Probleme der Müntzerbiographie insgesamt wiederspiegeln.
Ich sehe in Gritschs Buch auch mehr einen anregenden Beitrag zur
Müntzerrezeption der Gegenwart als zur Müntzerforschung im engeren
Sinn, an der der Autor in seiner früheren Biographie und in Aufsätzen
sachkundig mitgewirkt hat. Der Weg einer Theologisierung
Müntzers, wie ihn Elliger eingeschlagen und Gritsch fortgesetzt hat,
mag im Zuge der Wiederentdeckung des Theologen Müntzer und des
Zerfalls des marxistischen Deutungsmodells attraktiv erscheinen. Das
politische Phänomen Müntzer wird jedoch ebensowenig von seiner
Theologie verschluckt werden können wie sich der Theologe der
Ökonomie und einer Revolutionstheorie gefügig machen ließ.

Reutlingen Ulrich Bubenheimer

Rudioff, Ortwin: Bonae Litterae et Lutherus. Texte und Untersuchungen
zu den Anfängen der Theologie des Bremer Reformators
Jakob Propst. Bremen: Hauschildt 1985. 274 S. m. Abb. 8° = Hospi-
tium Ecclesiae. Forschungen zur Bremischen Kirchengcschichte,
14. Kart. DM 68,-.

Die Reformation in den Hansestädten hat in jüngster Zeit zunehmend
das Forschungsinteresse auf sich gezogen. Bremen ist dabei selten
mit im Blick gewesen. Die schwierige Quellenlage mag hierfür mit
ausschlaggebend gewesen sein, obgleich durch die Tätigkeit der drei
Niederländer Heinrich von Zütphen, Jakob Propst und Johann
Timann „Bremen ... die erste Stadt im Sachsenland" war, ,,in der aus
einer evangelischen Predigtbewegung ein lutherisches Kirchenwesen
wuchs" (11). Um so verdienstvoller ist die vorliegende Untersuchung
des Bremer Pastors Rudioff, eine Hamburger Dissertation von 1984.
Rudloff erhofft sich neben Erkenntnissen über die frühe Zeit der reformatorischen
Bewegung in Bremen vor allem Aufschlüsse über Person
und Theologie von Jakob Propst, darüber hinaus aber auch eine Antwort
auf die Frage, weshalb sich in der Hansestadt in der zweiten Jahrhunderthälfte
Philippismus und Calvinismus so wirkungsvoll gegen
die lutherische Lehre durchsetzen konnten.

Propst eignet sich als Ansatzpunkt für eine Untersuchung über die
Eigenart der frühen Bremer Reformation, weil er sich als einziger ausführlicher
theologisch geäußert hat. Da nicht alle Quellen über Propst
den 2. Weltkrieg überstanden haben und auch kaum Neudrucke
existierten, mußte sich Rudloff die Quellenbasis für seine Untersuchung
selbst neu schaffen. Als Ergebnis legt er im 1. Teil eine Textausgabe
der Druckschriften von oder über Propst vor (13-107). In der
detaillierten Übersicht über die Editionsgrundsätze ist die Angabe, die
Druckvorlagen seien in den Einleitungen verzeichnet, nur bedingt
zutreffend (14). Bei einem Teil der Drucke fehlen die Exemplarangaben
. Das ist bei der ausführlich kommentierten Wiedergabe der
von Karlstadt verfaßten und von Propst am 12. Juli 1921 in Wittenbergverteidigten
Licentiatenthesen der Fall (Benzing und Claus / Pegg
Nr. 819 verzeichnen immerhin 5 Exemplare). Zu fragen ist auch, ob
der Basler Druck von 1522 zurecht als A bezeichnet und dem Neudruck
zugrunde gelegt worden ist. Der nicht erhaltene Plakatdruck ist
nur in der Abschrift von Stephan Roth bekannt, die als C verzeichnet
wird. Gleichfalls vermißt man exakte Angaben zur Druckvorlage und
Exemplarnachweise bei der Druckausgabe des Notariatsinstruments
von Propsts Widerruf aus dem Jahre 1522. Als Literaturhinweis ist
hierzu nachzutragen: OttoClemen: Kleine Schriften I. Leipzig 1983,
165 Nr. 8 (Exemplarnachweise). Rudloff macht die Existenz eines
nicht erhalten gebliebenen lateinisch-niederländischen Plakatdruckes
(IIA) mit einer Kurzfassung des Widerrufs wahrscheinlich, dessen
lateinischer Text oft nachgedruckt wurde. Auf die deutsche Übersetzung
der Kurzfassung (25: Abbildung des Titelbl.), die Rudloff als