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Ausgabe:

1990

Spalte:

816-817

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Barbaglio, Giuseppe

Titel/Untertitel:

Paolo di Tarso e le origini christiane 1990

Rezensent:

Wolf, Christian

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 11

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geschichte. Warum fehlt Philippus in Apg21.8f, wo nur seine Töchter
erwähnt sind? Warum benutzt die Apg fast nur „eingefrorene" Titel
wie „Apostel" (für die Zwölf) und hat keine Ahnung mehr von der
paulinischen Ämtertrias? Er kennt nicht einmal den präzisen Sinn
von „Evangelist"! Konnte Lukas die Jerusalemer Gemeinde idealisieren
, wenn sie noch bestand, oder setzt die Idealisierung den Verlust
dieser Gemeinde voraus? Ich breche ab, da man derartige Fragen in
neueren Werken überall, wenn auch nicht so häufig im anglikanischen
Raum, lesen kann. Ich würde dieses ganze Hypothesengebäude
lieber vermeiden, weil es nicht zu den enger exegetischen Aufgaben
gehört. So hinterläßt das vorliegende Werk einen zwiespältigen Eindruck
. Man hätte sich gewünscht, Hemer wäre bei seiner Titelfrage
geblieben. Er hätte gut und gern auf die Hypothesen ab Kap. 4 verzichten
können. Was man von dem Werk gebrauchen kann, beschränkt
sich folglich auf die eingangs gegebenen Anstöße und ein
paar nützliche Zusammenstellungen, zum Beispiel für Argumente zur
Galatien-Hypothese.

Borsdorf Gottfried Schille

Simonis, Walter: Der gefangene Paulus. Die Entstehung des
sogenannten Römerbriefs und anderer urchristlicher Schriften in
Rom. Frankfurt/M.-Bern-New York-Paris: Lang 1990. 156 S. 8°.
Kart. sFr41.-.

Der gelernte Jurist und jetzige Dogmatiker bzw. Dogmengeschicht-
ler in Würzburg versucht sich auf einem weiteren Gebiet, dem der
neutestamentlichen Literarkritik. Seine These, die er dem überraschten
Leser sofort vorträgt (9): Nur Rom 1,18-11,35 stammen (wenn
auch durch einige Glossen verunreinigt) vom Apostel, alles andere
verdanke man insgesamt drei Redaktoren. Der erste habe ein Verteidigungsschreiben
des bereits in Rom gefangenen Paulus an die
führenden römischen Judenchristen im reaktionären Interesse
judenchristlicher Kreise mit dem Beginn 1,1-17, wesentlichen Teilen
von 11,36-15,33 und 16,21 -27 versehen. Der zweite habe eine deutlich
antimarkionitische Spitze („nach Juli 144" 16) durch 13,1-7 wie
16,17-20 angefügt, während der Endredaktor um 150 die Grußliste
16,1-16 sowie 17-27 hinzufügte (wobei er 16,24 entfernte!).

Mit dieser These versehen, fragt sich der neugierige Leser, wie denn
das bewiesen werden kann. Er findet nach einem allzu kurzen textkritischen
Einstieg, der allein Papyrus 46 für erwähnenswert hält,
einen Interlinearkommentar vor sich (22-88), in dem Vers für Vers
unpaulinische Worte und Gedanken entlarvt werden. Argumente sind
dafür vorwiegend Hapaxlegomena, die per se unpaulinisch sein
müssen. Falls die Vokabel bzw. der Gedanke doch in einem anderen
Paulustext erscheinen, dann wird dies als besonders perfide Imitation
(41), eher unpaulinische Ausnahme (56f; 134; Anm. 28), geistloses
Puzzle mit paulinischen Vorstellungen (52), als Anzeichen für eine
Glosse in der Parallele (27) oder als zu unsystematisch (620 und daher
sekundär beurteilt. Daß auch Paulus selbst Traditionen verwendet
haben könnte, gelangt nicht in den Blick.

Wenn die Thesen zu Dt-Röm richtig sind, dann gelten sie auch für
„IThess" (2,14-16; 5), den Verfasser von Kol und den Redaktor von
Phil, dem wir 1,1; 1,27-2,18; 3,lb-4,3.8f verdanken (90-106).
Schließlich ergibt sich: „Phil", Phlm, Kol und Eph sind wie Jak und
1 Petr in Rom verfaßt, weisen auf konservative judenchristliche bzw.
judenchristlich beeinflußte Redaktoren und spiegeln Probleme des
vormarkionitischen Roms (106-121).

Ein „Vorzug" dieses Versuchs liegt darin, daß sich viele Tatsachenbehauptungen
finden, die sich leicht überprüfen lassen. Zwei Beispiele
seien genannt: Für Rom 1,1 wird dem echten Paulus die Bezeichnung
„Knecht Jesu Christi" abgesprochen. Wie dann aber Gal
1,10 bzw IKor 7,22 interpretiert werden sollen, bleibt offen. - Weiter
behauptet Vf. (58), daß Paulus Prv außer im „sekundären Text"
12,16-20 nie zitiere. Die „Ausnahme" 2Kor 9,6f wird zwar notiert,
aber Rom 2,6 übersehen.

So gibt es nur selten Erläuterungen, die wenigstens eine gewisse

Wahrscheinlichkeit oder Nachdenklichkeit der Zunft beanspruchen
dürften. Wo echte Fragen auftauchen, sind sie in den gängigen
Kommentaren bereits behandelt; wo Simonis sich zu eigenen Einwendungen
entschließt, lassen sie sich relativ einfach entkräften.

Eigentlich enttäuscht aber, daß das vorausgesetzte und bestärkte
Bild der paulinischen Theologie überhaupt keine Herausforderungen
des Dogmatikers an die Exegeten enthält. Paulus bleibt gefangen - in
den Klischees eines eher landläufigen Verständnisses und einer Methode,
die sich im wesentlichen auf Literarkritik beschränkt. Schade.

Leipzig Christoph Kahler

Barbaglio, Giuseppe: Paolo di Tarso e le Origini Cristiane. Assisi:
Cittadella Editrice 1985. 496 S. 8" = Commenti e Studi Biblici. geb.
L. 25.000.

Die internationale Paulusforschung wird durch zahlreiche Einzelstudien
kontinuierlich weitergeführt, so daß von Zeit zu Zeit eine
zusammenfassende Darstellung erforderlich wird. Die Bewältigung
dieser Aufgabe hat jetzt das Paulusbuch des italienischen Bibel wissenschaftlers
G. Barbaglio übernommen.

Als primäre Informationsquellen gelten die sieben unbestritten authentischen
Paulusbriefe. Hinsichtlich derChronologie zeigt sich B. von den neueren Untersuchungen
zu diesem Thema (vor allem von R. Jewett) beeinflußt, wenn er den
Jerusalemer Konvent nach der Europamission auf den Anfang der 50er Jahre
datiert; für das Martyrium in Rom wird das Jahr 58 vermutet. - Die für Paulus
bedeutsamen religions- und geistesgeschichtlichcn Wurzeln und Einflüsse
werden unter Zitierung von Quellentexten detailliert aufgezeigt. Zugleich beschreibt
B. auch anschaulich das Leben eines Civis Romanus im Imperium
Romanum und geht auf die Berufsausübung, den Familienstand und das Aussehen
des Paulus ein. - Seine Verfolgertätigkeit wird auf liberale hellenistische
Judenchristen außerhalb Palästinas bezogen. In diesem Zusammenhang wird
auch ein Charakterbild des Paulus entworfen: Er war ein Mann von starken
Gefühlen und überschwenglichen Leidenscharten, dem das griechische Ideal
des zurückhaltenden Menschen stets fremd blieb. - Das Damaskusgeschchcn
wird unter sorgfältiger Auswertung der paulinischen Selbstzeugnisse und der
Berichte der Apg rekonstruiert. - Die Missionstätigkeit stellt B. aufdem Hintergrund
spätantiker religiöser Propaganda und unter kritischer Berücksichtigung
der Angaben der Apg in den Hauptetappen des Verlaufs sowie hinsichtlich ihrer
Strategie und Organisation dar. Auf den sozialen und religiösen Charakter der
von Paulus gegründeten Gemeinden wird ebenso gründlich eingegangen wie auf
die verschiedenen Oppositionen, denen Paulus ausgesetzt war. Dabei werden
auch die Spannungen zwischen dem Apostel und der Jerusalemer Gemeinde
sowie den Antiochenischen Christen herausgearbeitet. B. wertet den Antioche-
nischen Zwischenfall als einen „traumatischen Bruch mit Jakobus und der
Jerusalemer Kirche und mit Petrus und der christlichen Gemeinde von
Antiochien" (S. 140), ungeachtet dessen aber Paulus an der Realisierung der
Kollekte festhält, die jedoch von Jerusalem letztlich nicht akzeptiert wurde. -
Der gewaltsame Tod des Apostels wird zu Recht als das Ende seines mit der
missionarischen Tätigkeit verbundenen Leidensweges verstanden. B. verteidigt
eine römische Gefangenschaft und sieht das Martyrium in Rom unter Nero als
historisch gesichert an, während die Todesart (Enthauptung) und die Lokalisierung
des Grabes an der Via Ostiense nur als eine „venerabile tradizione
ecclesiastica" gewertet werden können (S. 177).

Die den Briefen des Paulus geltenden Erörterungen betreffen deren Form, Stil
und Komposition sowie das Problem der Pseudonymität (für die Pastoralbriefe.
Kol, Eph und 2 Thess) und die Entstehung des Corpus Paulinum; außerdem
wird jeder der authentischen Paulusbriefe hinsichtlich Entstehungssituation.
Inhalt und Datierung vorgestellt. - Die Theologie des Apostels wird thematisch
und zugleich - von der jeweiligen Problemstellung her - chronologisch behandelt
: 1. „Die wachsame und tätige Erwartung" (IThess 4,13ff; I Kor 15; 2Kor 5;
Phil 3,200. 2. „Christliche Existenz unter dem Zeichen des Kreuzes" (pauli-
nische Kreuzestheologie mitsamt ihren Konsequenzen für das Leben in der Gemeinde
als Korrektur des korinthischen Enthusiasmus), 3. „Gesetz oder
Glaube / Bewahrender oder Glaubender" (zur Bewältigung der Krise in
Galatien), 4. „Die menschliche Existenz im Lichte Christi" (anhand des Rom
werden der ökumenische Charakter der Kirche aus Juden und Heiden, die Freiheit
von der Macht der Sünde und die Neuheit der christlichen Existenz entfaltet
), 5. „Moraltheologie". Zu dem umstrittenen Problem „Jesus und Paulus"
äußert sich B. nach einem informativen Forschungsüberblick in ausgewogener
Weise, indem der Bedeutung des zwischen Jesus und Paulus liegenden Kreuzes-