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Ausgabe:

1990

Spalte:

812-813

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Orton, David E.

Titel/Untertitel:

The understanding scribe 1990

Rezensent:

Broer, Ingo

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81!

Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 11

812

Vf. vermeidet bewußt den Ausdruck "minor agreements"; vgl. S. 63)
zeigt, daß die Übereinstimmungen durchweg den Charakter sprachlicher
Verbesserung des „holprige(n) Griechisch" (71) der Markus-
Vorlage aufweisen. Im Zusammenhang damit steht die Beobachtung,
daß alle Agreements auch eine „stilistisch und/oder inhaltlich
sekundäre Stufe der Überlieferung repräsentieren" (74). Die sog.
„Relativität der Agreements" zum Markustext, also die Überzeugung,
daß die bei Mt und Lk vorliegenden Übereinstimmungen gegen Mk
sich als Abänderungen des Markustextes plausibel machen lassen,
nimmt eine zentrale Stellung innerhalb der Argumentation ein und
wird später vom Vf. als „das beste und überzeugendste Argument"
(177) für die Deuteromarkus-Hypothese (Dmk) bezeichnet. Weiter
wird in den Agreements eine Abweichung von den palästinischen
Verhältnissen vermutet, wie in einem botanischen Exkurs über die in
den Gleichnissen vorausgesetzten Realien (Senfkorn und Sauerteig)
des näheren begründet wird (Kap. VI). Solche abweichenden Umgestaltungen
seien dem Heidenchristen Lukas noch zuzutrauen, für den
Judenchristen Matthäus jedoch „völlig unvorstellbar" (73). Die Einschätzung
des Matthäus als eines Judenchristen im Unterschied zum
heidenchristlichen Lukas wird wiederholt vorgebracht (vgl. 103f;
109f; 139), um die Ansicht zu belegen, daß nicht beide Evangelisten
im gleichen - Unkenntnis palästinischer Verhältnisse verratenden -
Sinne ihre Mk-Vorlage abgewandelt haben können. Schließlich lassen
die Agreements bei den Seitenreferenten auch eine inhaltliche Verschiebung
erkennen: Der Schwerpunkt des Gleichnisses verlagert sich
vom Senfkorn und der Betonung des Kontrastes zwischen Kleinheit
und Größe auf den Säevorgang und den Prozeß des Wachsens.

Der Hauptteil der Arbeit, die „Detaillierte Analyse" (Kap. VIII;
S. 77-187) erhärtet die bereits beschriebenen Beobachtungen und
Argumente im einzelnen. Der Text des Doppelgleichnisses wird hier
Wort für Wort unter folgenden Aspekten analysiert: Welches ist die
älteste überlieferte Textfassung? Wieweit geht sie auf den historischen
Jesus zurück? Wie lautete der Text des Dcuteromafkus' und welche
Intentionen standen hinter seiner und schließlich der Drittredaktion
der Großevangelisten. Das Ergebnis: Der älteste Text des Gleichnisses
vom Senfkorn liegt in Mk 4,30-32 vor und dürfte bis auf die Einleitung
schon bei Jesu in dieser Form (freilich aramäisch) gelautet
haben (190). Das Gleichnis vom Sauerteig wurde erst von Dmk an das
vom Senfkorn angefügt. Dmk bietet auch den ältesten rekonstruierbaren
Text dieses Gleichnisses (wie Lk 13,20f; vgl. S. 185). Über den
Wortlaut des Sauerteig-Gleichnisses bei Jesus läßt sich dagegen nichts
Sicheres sagen (195f)- Das Gleichnis vom Senfkorn war ursprünglich
ein Kontrastgleichnis und wollte als Ermutigung und Trost dafür verstanden
werden, daß die „überwältigende Größe der kommenden
Basileia" so bescheidene Anfänge genommen hatte (192). Auch bei
Mk stehen noch der Kontrast und die Basileia im Vordergrund (1980-
- Erst Dmk modifiziert den Text zu einem Wachstumsgleichnis und
unterstreicht dies durch die Anfügung des Sauerteiggleichnisses. Erstmals
ist der Skopus nun auch ekklesiologisch ausgerichtet: Wie das
Senfkorn kontinuierlich zur Staude heranwächst, ist auch der gegenwärtigen
Mission der Kirche ein großer Erfolg verheißen (2040- Mt
und Lk nehmen die Dmk Uminterpretation auf und „verstärken
ihrerseits den Ausbreitungs- bzw. Missionsgedanken" (217). „Der
aufzeigbare ekklesiologische Hintergrund", also der „Sitz im Leben",
der für die Dmk Redaktion namhaft gemacht ist, wird im Nachhinein
zu einem Hauptargument für die vorgetragene Hypothese (222).

Im Schlußkapitel „Zusammenfassung und Ausblick" (Kap. X)
resümiert der Vf., daß die Deuteromarkushypothese „ sich als einzig
mögliche Erklärung der gegenseitigen Abhängigkeit der Synoptiker
herausgestellt habe (218). Sein Lösungsvorschlag des synoptischen
Problems besteht demnach in der Modifizierung der Zwei-Quellen-
Theorie zu einer „Dreistufen bzw. Dreistadientheorie": Mt und Lk
sind nicht direkt von Mk abhängig, sondern kannten nur die erste
grundlegende Überarbeitung des zweiten Evangeliums, den Deuteromarkus
.

Auch wenn man nicht mit sämtlichen Argumentationsgängen übereinstimmt
, so hat doch der Vf. seine These nicht nur sorgfältig,
sondern auch eindrucksvoll begründet. Der herkömmlichen Auskunft
, die quellenkritische Frage nach den Übereinstimmungen und
Abweichungen in der synoptischen Überlieferung des Senfkorngleichnisses
sei nur auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie zu beantworten,
ist hierdurch ein beachtenswertes Korrektivmodell gegenübergestellt
worden. Es verdient in der künftigen Forschung um so mehr Aufmerksamkeit
, als es sich zweifellos um eine einfachere als die übliche
literarkritische Lösung handelt. Allerdings hängt hier viel davon ab,
wie man im übrigen die Bedeutung der „minor agreements" für die
Deuteromarkushypothese bewertet und in welchem Ausmaß sich
diese Hypothese für das Ganze des Markusevangeliums bewahrheiten
läßt. Aber auch wenn „Deuteromarkus" nicht alle Probleme, die sich
zum Verhältnis des Matthäus- und Lukasevangeliums zum Markusevangelium
stellen, klären kann, so sollte doch nicht zuletzt diese
Untersuchung veranlassen, daß auch nicht allgemein anerkannte
Modelle in der synoptischen Literarkritik eine größere Aufmerksamkeit
erhalten, und zu einer unvoreingenommeneren Offenheit gegenüber
den vielfältigen Lösungsvorschlägen des synoptischen Problems
anleiten.

üötlingcn Georg Strecker

Orton, David E.: The Understanding Scribe. Matthew and the
Apocalyptic Ideal. Sheffield: JSOT 1989. 280 S. 8° = Journal for the
Study of the New Testament, Suppl. Series 25. Lw. £ 25.-.

Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, wovon sechs die These
entwickeln und das letzte eine Art Postscript darstellt. Kap. 1 behandelt
die Schriftgelehrten bei Mt, Kap. 2 die „Schreiber" im AT
und in der Periode des zweiten Tempels, Kap. 3 Ben Sira und dessen
Modell-Sofer, Kap. 4 und 5 die Schreiber in der apk Literatur und in
den Schriften von Qumran, Kap. 6 wendet sich dann zwei nicht in
Kap. 1 behandelten Stellen im Mt zu (13,52 und 23,24). Kap. 7
schließlich behandelt die Frage, ob Mt sich selbst als solcher Schrift-
gelehrter verstanden hat, wie er diesen in seinem Evangelium darstellt
.

Schon aus dieser Übersicht ergibt sich, daß diese Diss. an der
Universität Sheffield zwar ein neutestamentliches Thema hat, überwiegend
aber Stoffe aus der alttestamentlichen und zwischentestamentarischen
Literatur behandelt, da sie den Hintergrund des mt
Terms grammateus aus AT und Frühjudentum beleuchten will, was
nach Ansicht des Vf.s bislang nicht in genügender Weise geschehen
ist. Sein Interesse gilt dabei jeweils nicht der diesen Schriften etwa
zugrundeliegenden historischen und sozialen Wirklichkeit, sondern
dem diesen Schriften zugrundeliegenden Konzept des Schreibers/
Schriftgelehrten.

Im 1. Kap. behandelt O. nach (sehr) kurzer Auseinandersetzung mit
van Tilborgs Arbeit die grammateus-Stellen des Mt bis auf die, die
Gegenstand von Kap. 6 sind, v. a. in Auseinandersetzung mit Cooks
These, nach der Mt weder in der Lage ist, zwischen Schriftgelehrten
und Pharisäern zu unterscheiden noch über eigene Kenntnisse über
die Schriftgelehrten verfügt. Wenn O. dabei freilich als eine "a priori
consideration" seiner Exegese nennt: "To the extent that Mattew is
accused of antisemitism and extreme anti-Pharisaism by a number of
scholars it would be very stränge if he had little idea of the nature of
those to whom he was so violently opposed", so wird man angesichts
des Phänomens eines „Antisemitismus ohne Juden" gegen diese
Überlegung a priori doch Bedenken anmelden müssen. Ergebnis
dieses Kap. ist, daß Mt eine klare Vorstellung von den Schriftgelehrten
hat, sogar verschiedene Arten von ihnen und von dem, was sie sein
sollten, unterscheiden kann, nämlich "the scribes qua scribes who in
Matthew's view merit the authority, associated with the ,seat of
Moses', while it is the scribes of the dominating Pharisaic party that
are hypoerites." Mit dieser Unterscheidung führt Mt nicht etwa etwas
Neues ein, sondern steht ganz im jüdischen Erbe. Denn solche Rivali-