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Ausgabe:

1990

Spalte:

56-57

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

La narration 1990

Rezensent:

Heymel, Michael

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 1

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bei italienischen Waldensern wie vatikanischen Theologen hohes
Ansehen genoß und noch genießt, dagegen in deutschen Landen weithin
entweder belächelt oder wie nicht existent behandelt worden ist.

Schlaudraffs- Buch geht auf eine von P. Stuhlmacher angeregte
Tübinger Dissertation zurück. Vf. zeichnet zunächst Werden und
Entwicklung der Cullmannschen Theologie. O. Cullmann, 1902
geboren, der Autor von „Christus und die Zeit", ist ursprünglich
durchaus nicht in einer der früheren heilsgeschichtlichen Schulen
beheimatet, sondern in liberaler Theologie. Er ist - und bleibt - der
philologisch-historischen Exegese verpflichtet, wird einer der Väter
der formgeschichtlichen Methode und als solcher von R. Bultmann
als Bundesgenosse angesehen. Wo indes Bultmann die existentiale
Interpretation als hermeneutisches Prinzip entwickelt, vermag ihm
Cullmann nicht zu folgen. „Hermeneutik hat s. M. n. dem zu dienen
, was die neutestamentlichen Texte ihrer eigenen Intention nach
sagen wollen, und nicht im Vorhinein einen bestimmten Verstehens-
horizont festzulegen." (S. 33, bei Schi, gesperrt) Ob Cullmann hier
ganz dem „extra nos" des den Glauben begründenden Wortes oder,
mehr oder weniger, weniger oder mehr, unbewußt auch einer Philosophie
entspricht, wird gefragt. - Gerade mit einer formgeschichtlichen
Betrachtungsweise befindet sich Cullmann auf dem Weg zur Heilsgeschichte
: Die Gemeinde, insbesondere ihr Gottesdienst, wird ja als
Ort der Entstehung und Entwicklung der Evangelientradition erkannt
. Und die Evangelientradition wird als „Glaubenszeugnis über
Geschichte" (S. 45) verstanden. Cullmann stellt Ereignisse und Traditionen
nicht gegeneinander, sondern gerade in Korrespondenz und
sieht so auch wieder Kontinuität zwischen einem historischen Jesus
und dem nachösterlichen Kerygma.

Den Terminus „Heilsgeschichte" weist Schlaudraff bei Cullmann
erstmals in dessen Studie „Königsherrschaft Christi und Kirche im
Neuen Testament" von 1941 nach-derjenigen Studie, die mit grundlegend
wurde für K. Barths und seiner Schüler (Staats-)L^hre von der
Königsherrschaft Christi. 1941 ist zugleich das Jahr, in dem R. Bultmanns
so anders ausgerichtete Arbeit „Neues Testament und Mythologie
" erscheint, aber auch E. Stauffers „Theologie des Neuen Testaments
", eine christozentrische Geschichtstheologie, die der Geltung
von Cullmanns heilsgeschichtlichem Entwurf eher geschadet haben
(vgl. S. 51 0- Tragend für Cullmanns heilsgeschichtliches Konzept ist
sein Verständnis der neutestamentlichen Eschatologie. Cullmann selber
beschreibt, wie ihm, vor die Alternative zwischen A. Schweitzers
konsequenter Eschatologie und C. H. Dodds realized eschatology
gestellt, aufging: „nicht Alternative, sondern beides: schon verwirklicht
und doch noch zukünftig" (S. XVI). Im Dienste dieses „Schon
und noch nicht" ist die Zeitlinie zu verstehen, die man aus Cullmanns
vielleicht bekanntestem Buch „Christus und die Zeit" ('1946) wohl
am besten kennt. Daß und wie Cullmann seine "heilsgeschichtliche
Theologie in „Heil als Geschichte" ('1965) weiterentwickelt und
modifiziert hat, ist weniger bekanntgeworden und gelangt bei Schlaudraff
zu klarer Darstellung (III. Kap.).

Nach der freundlichen wie sachlichen Darstellung wird Cullmanns
opus von Schlaudraff gleichsam von allen Seiten, umsichtig-kritisch,
beklopft, was im einzelnen hier nicht nachgezeichnet werden kann.
Insgesamt sieht Schi, die Gefahr einer Verabsolutierung der Heilsgeschichte
, der Cullmann nicht ganz entgehe. Der christliche Glaube
darf nicht „Glaube an die Heilsgeschichte" werden! Damit wird bzw.
würde gerade die Soteriologie im Entscheidenden verkürzt. Um zur
rechten Gewichtung zu gelangen, erweist sich für Schi, das Gespräch
u. a. mit W. G. Kümmel, E. Käsemann, L. Goppelt und P. Stuhlmacher
, bzw. deren Eingehen aufCullmann. als hilfreich.

Gibt es einen Zusammenhang der biblischen Testamente, und gibt
es eine Kampf- und Siegesgeschichte Jesu Christi (zu letzterem vgl. K.
Barth, KD IV,3 § 69). dann gibt es auch eine Heilsgeschichte. Diese ist
freilich nicht ohne beträchtliche Momente einer Unheilsgeschichte.
Und sie ist nicht selber das Evangelium, wohl ein starker Aspekt am
Evangelium bzw. dessen Horizont. Schließlich ist diese Geschichte zu
vielschichtig und paradoxal, um geometrisch darstellbar zu sein. Es

sei denn, daß man verschiedene Figuren komplementär nebeneinander
bzw. paradoxal gegeneinander stellt, um auf besondere Züge der
Heilsgeschichte hinzudeuten. Cullmann selber gibt Hinweise genug,
daß sich Heilsgeschichte nicht simpel verstehen läßt (vgl. als Beispiel
Schlaudraffs „Exkurs: Heilsgeschichte und urchristliche Herrenmahlsfeier
", S. 233ff).

Ein Punkt, ah dem ich mir bei Cullmann eine unmißverständlichere
Sprachregelung wünschte, ist das Desiderat der Unterscheidung
zwischen Mythos und biblischer Sage (vgl. S. 161 ff) sowie der
konsequenten Unterscheidung zwischen einem theologischen Geschichtsbegriff
und demjenigen der Historie (vgl. S. 167; hier spricht
K. Barth durchweg klarer als O. Cullmann).

Cullmann selbst hat Schlaudraffs Buch mit einem ausführlichen
Vorwort versehen. In dankenswerter Weise verdeutlicht er da seine
Intentionen mit Hilfe biographischer Mitteilungen. Er übt auch
Selbstkritik: Vom „Glauben an die Heilsgeschichte" hätte er nicht
reden sollen. Zumal ihm das „Schon und noch nicht" wesentlicher sei
als eine Heils//me und für ihn ein Buch über Heilsgeschichte nicht
identisch sei mit einer Theologie des Neuen Testaments. Zu einer
Vernachlässigung der Soteriologie kann Cullmann sich nicht bekennen
, wenn anders ihm „das Kreuz Christi... die entscheidende Mitte
des göttlichen Geschehens" ist (S. XVIII). Wenn Cullmann sich dafür
auch auf seine (unveröffentlichten) Vorlesungen beruft, kann Rez.
ihm guten Angedenkens beipflichten.

O. Cullmann ist in seinem hohen Alter noch wissenschaftlich tätig.
Sein letztes Buch, „Einheit durch Vielfalt", ist 1986 erschienen. Die
Festschrift von 1982, „Testimonia oecumenica", zeugt von Cullmanns
sehr weitreichender Tätigkeit und Geltung in der Ökumene.
Zu seiner langjährigen Mitgliedschaft im Institut de France ist die
Auszeichnung als Ritter der französischen Ehrenlegion hinzugetreten.

K.-H. Schlaudraff spricht in seiner sorgsam wägenden Art häufig
davon, daß etwas zu Recht besteht. Er sollte dies auch so schreiben. -
Dafür, daß und wie er Heil als Geschichte und damit auch Person und
Werk O. Cullmanns zum Thema erhoben hat, gebührt ihm nachdrücklich
Dank.

Wuppertal-Schöller Jürgen Fangmeier

Biihler. P., et J.-F. Habermacher [Ed.]: La Narration. Quand le recit
devient communication. Postface de P. Ricoeur. Genf: Labor et
Fides 1988.310S. 8* = LieuxTheologiques, 12.

Die in dem vorliegenden Sammelband präsentierten Beiträge gehen
zurück auf ein vom Institut für hermeneutische und systematische
Forschung (IRHS) der Theologischen Fakultät Neuchätel veranstalte-
tes Projekt zum Thema des Erzählens. Im interdisziplinären Austausch
verschiedener Zugänge der theologischen Disziplinen Exegese.
Dogmatik und Praktische Theologie, aber auch der Philosophie,
Psychoanalyse, Linguistik, Literarkritik und Rhetorik wird eine ebenso
weite wie differenzierte Vorstellung vom Erzählen und von seiner
grundlegenden Bedeutung als Elementarphänomen des Humanen
entwickelt. Alle Beiträge verankern die theoretische Reflexion über
das Erzählen in ausgewählten Erzähltexten, um die Beweiskraft der
Erzähltheorien jeweils am narrativen Material zu überprüfen. Das
gemeinsame Interesse der Autoren gilt der argumentativen Funktion
des Erzählens und seiner kommunikativen Funktion im weiteren
Sinn: „Im Erzählen verwirklicht sich immer eine Mitteilung..."
(S. 11). Konstituiert als Sprechakt (J. R. Searle), der verwirklicht, was
er zur Sprache bringt, eröffnet die Erzählung ihrem Empfänger neue
Möglichkeiten, die ihn in seinem tiefsten Selbst und seiner Existenzweise
berühren. Ein Bruch, eine Diskontinuität, eine unvorhergesehene
Umkehrung sind Momente, die den Leser oder Hörer in
Distanz zu sich selbst versetzen und ihm zugleich anbieten, sich selbst
auf überraschende Weise wiederzuentdecken. Die Erzählung als indirekte
Mitteilung (S. Kierkegaard) ist ein Schlüsselbegriff der Sammlung
. Die Erzählung teilt ihrem Empfanger etwas mit, was ihn zurexi-