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Ausgabe:

1990

Spalte:

755-757

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Entnazifizierung und Selbstreinigung im Urteil der evangelischen Kirche 1990

Rezensent:

Iber, Harald

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 10

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christlichen Glauben nicht denken" (Nachschrift Strauß 9). „Das
Christenthum wurde erst fest durch den Gemeingeist und Gemeinschaft
." (KGA 1,7/3,43 Nr. 180) Dem entsprechend ist auch eine
christliche Sittenlehre unvollkommen, wenn überwiegend „vom
Einzelleben und dessen Regulierung gesprochen wird". (Meine
Ormig-Ausgabc 1,350.210

R. meint, die Einheit der Theologie werde bei Schleiermacher nicht
durch eine Fundamentaldisziplin repräsentiert; vielmehr sei das
System der theologischen Disziplinen auf die christliche Kirche als geschichtliches
Individuum bezogen (259). In der Geschichte (d. h.
solange sie immerauch eine streitende Kirche ist) ist die Kirche m. E.
aber kein „Individuum", kein unteilbares Einzelwesen, sondern
„offenbart" sich, was sie realiter ist, nämlich getrennt. An die Theologie
stellt Schleiermacher höhere Ansprüche als R.: „Eine ausgebildete
Theologie hält die Kirche zusammen. So ist die protestantische
Kirche realiter getrennt, aber das Leben in der Theologie ist Eines mit
ihr" (Nachschrift Strauß 9).

Sich auf die Lehnsätze in der Einleitung zur Glaubenslehre beschränkend
, schlägt R. die Warnungen Schleiermachers in den Wind,
die Einleitung zur sehr mit der Dogmatik selbst als eines zu denken
und so nicht unbedeutenden Mißverständnissen aufzusitzen (2. Sendschreiben
513). Die Mißverständnisse bleiben nicht aus, wenn R. bemerkt
, gegenüber der Abstraktheit des in der „Enzyklopädie" entfalteten
Theologiebegriffs biete die Einleitung zur Glaubenslehre eine
„materiale" Ausführung(261 f).

Abschließend schreibt R.: „Auch wenn Schleiermachers Lösung
des Problems der Konstitution individueller Freiheit in der Abstraktheit
des Individualitätsgedankens ihre Schranke hat, indem er das
fromme Gefühl als .Aussage über ein unmittelbares Existentialverhältnis
" versteht. . . und ihm damit ein tieferes Verständnis der Offen-
barungsgcschichtc verschlossen bleibt, wird man in der durch den
Bildungsbegriff bezeichneten Konzeption das .zentrale Problem der
Theologie unter den Bedingungen der Neuzeit' zum Thema erhoben
sehen müssen." (305)

Was bei Schleiermacher „unmittelbares Existentialverhältnis"
heißt (I. Sendschreiben 265), bleibt R. verschlossen. Ein Existentialverhältnis
ist ein Verhältnis zu einem „Außer uns", das bei Schleiermacher
unter dem Ausdruck „Das Mitbestimmende" vorkommt
(KGA 1,7/3,29 Nr. 106). Bestimmt und konstituiert bezeichnet das
Selbstbewußtsein „immer ein Verhältnis zu einem Andern".
(Nr. I 10) Ohne ein von uns Unterschiedenes wäre unser Selbstbewußtsein
nicht so, wie es ist (Glaubenslehre1, ed. H. Peiter, I, 31,
14-20).

Als Abhängigkeitsgefühl'ist das Selbstbewußtsein: bloßes Getroffensein
der Empfänglichkeit (Nr. 108). Selbstbetroffenheit heißt:
Von-einem-anderen-betroffen-Sein (ein anderes trifft auf das Selbstbewußtsein
). In einem Existentialverhältnis ist das In-sich-
verkrümmt-Sein überwunden, in dem nichts auf den Menschen „Eindruck
" macht. Was den Menschen prägt, ist ein Eindruck. Der
„Eindruck der Göttlichkeit des Erlösers" führte die I. Jünger in die
Nachfolge Christi (Christliche Sittenlehre, ed. H. Peiter, 21,210-
„Glaube als innere Erfahrung aus unmittelbarem Eindruck und Eindruck
aus den Wirkungen." (Glaubenslehre7 § 14,1 Anm. Th). In derartigen
Aphorismen steckt mehr Theologie als in den Weitläufigkeiten
eines theologisch-philosophischen Systems, in dem R. mit der
Offenbarung Versteck spielt (vgl. Glaubenslehre1 § 19 Anm.) und mit
dem, was den Namen echter Bildung verdient, sich schließlich ganz
verliert.

Kirchnüchel Hermann Peiter

ollnhals, Clemens: (Entnazifizierung und Selbstreinigung im Urteil
der evangelischen Kirche. Dokumente und Reflexionen
1945-1949. München: Kaiser 1989. 244 S. 8" = Studienbücher zur
kirchlichen Zeitgeschichte, 8. Kart. DM 49,-.

Der Münchner Historiker Vollnhals legt eine umfassende, bisher
nicht vorhandene Dokumcntensammlung vor, die sich auf die Stellung
vor allem kirchenleitender Personen und Organe der evangelischen
Kirchen insbesondere der amerikanischen Zone zur Entnazifizierungspolitik
der Militärregierung, der deutschen Befreiungsminister
und der deutschen Spruchkammern bezichen. Die Grundlagen
dieser Politik sind markiert durch die ersten Direktiven vom
April bis September 1945, durch das Befreiungsgesetz vom 5. 3. 1946
und die Änderungsgesetze vom Oktober 1947 und März 1948. Das
Buch ist in dementsprechenden chronologischen Kapiteln gegliedert.
Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Selbstreinigung der Kirchen, d. h.
mit dem Problem, wie die Kirchen mit ihren belasteten Pfarrern umgingen
. Jedes Kapitel ist mit einer Einführung in den historischen
Kontext und einer kurzen wertenden Pointicrung der einzelnen
Dokumente versehen. Nach dem eigentlichen Dokumententeil folgen
in jedem Kapitel die „Reflexionen", eine knappe historische Wertung
der Dokumente und deren kirchenpolitischen und politischen Hintergründe
und Motive. Daß theologische Reflexionen fehlen, begründet
der Verfasser mit mangelnder Ausbildung und Kompetenz (S. 14).
Diese Tatsache mindert keinesfalls den Wert des Buches und seiner
Reflexionen, die sich so durch eine ausgesprochen sympathische
Klarheit und Prägnanz auszeichnen. Der Theologe wird ergänzend
die Dokumente auf ihre systematisch-theologische Brisanz, z. B. bzgl.
der zugrundeliegenden Ekklesiologie. der politischen Ethik, des
Amtsverständnisses (siehe bes. die Dokumente zur Selbstreinigung.
S. 58IT) und der Versöhnungslehre (bes. S. 202111 untersuchen
können. Auch dafür würde die getroffene Auswahl durchaus ergiebig
sein.

Als Hauptergebnisse, die die Interpretation des Vf. ergeben, sollen
erwähnt werden: Bei allen Fehlern, die der Entnazifizierungspolitik
anhafteten, und bei aller berechtigten Kritik an dem Befreiungsgesetz
und seiner Handhabung zeigt die Art der Kritik der meisten kirchlichen
Voten Erschreckendes:

1) Die evangelischen Kirchen waren, gefangen in ihrer immer noch
vorhandenen dcutschnationalcn Gesinnung, nicht in der Lage, ihre
eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus zu erkennen, jetzt
wenigstens das faschistische Wesen des Nationalsozialismus und die
Bedeutung des Beamtentums und des Bürgertums für die Stabilität des
NS-Staates zu formulieren und ihr Versagen gegenüber den Juden einzugestehen
.

2) Indem sie sich von vornherein gegen die Art der Entnazifizierung
- bei verbaler Anerkennung der Ziele der Entnazifizierung - stemmten
und eine Mitarbeit an ihr verweigerten, stärkten sie nicht den
Willen der Militärregierung und der Befreiungsminister zur politischen
Reinigung, sondern leisteten der Verharmlosung der nationalsozialistischen
Untaten und ihrer stillschweigenden Duldung durch
die zahlreichen Mitläufer Vorschub und trugen so zum Scheitern der
Entnazifizierung bei, besonders 1948, als endlich die Chance bestand,
daß nun die Hauptschuldigen ihrer gerechten Verurteilung zugeführt
werden konnten (siehe vor allem die unsachliche und maßlose
Kanzelabkündigung der hessisch-nassauischen Kirchcnlcitung vom
1. 2. 1948 [Vorsitz: Niemöller!], S. 2020-

3) Die Angst vor der „Ausrottung (!) der .bürgerlichen" Schichten"
(Niemöller, S. 137, vgl. auch Wurm, S. 2370. der „Ausmerzung (!)
aller NS-Beamten" (Wurm, S. 38) durch das Gesetz - man achte auf
die faschistische Wortwahl-machte die Kirchen und selbst Niemöller
unfähig, sich eindeutig mit den Opfern des Nationalsozialismus zu
solidarisieren und für ihr singuläres Leiden Sühne und Wiedergutmachung
zu fordern. Den Verfechtern der Entnazifizierung und den
Mitgliedern der Spruchkammern wurden immer wieder unlautere
Motive, wie z. B. Rachegelüste unterstellt.

4) Die Notwendigkeit eines neuen Kirchenkampfes wurde propagiert
. Die Maßnahmen der Militärregierung wurden mit den NS-
Maßnahmen verglichen und manchmal sogar schlimmer als diese eingeschätzt
(s. z. B. das Votum des Rates der EKD vom 2. 5. 1946.
S. 1260.