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Ausgabe:

1990

Spalte:

615-617

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Maria nostra sorella 1990

Rezensent:

Nagel, Walter

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 8

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seine Identitätsmystik, die den Menschen „gottwesentlich" begriff,
sah Schöll im vorchristlichen Heidentum vorgebildet. „Die Griechen
glaubten weder an einen Himmelsgott noch an einen Meergott oder
Flußgott oder an eine Liebesgöttin ... Sie erlebten den Himmel als
göttlich, das Meer, den Fluß, den Berg, die Liebe als göttlich ... Es ist
abwegig, von heidnischer Vielgötterei zu reden. Die Götter der
antiken Welt sind nicht eine Vielheit von Gottwesen nach Art des
jüdisch-christlichen Jehova gewesen. Dieser ist ein überweltliches,
überwirkliches und übernatürliches Geistwesen, ein fast Abstrak-
tum . . . Die alten Völker vergötterten nicht die an sich ungöttliche
Natur, sondern beließen der wirkenden, schöpferischen Natur ihre
ursprüngliche Gottwesenheit, während das Christentum diese ihre
Gottwesenheit als übernatürlichen Gott aus der Natur herausnahm
. . . Hier muß von der Wurzel her anders aufgebaut werden.
Hier hilft nur die Rückkehr ins Urmysterium der Allgöttlichkeit."

Ähnlich wie zuvor der rebellische Theologe David Friedrich Strauß
vom Bibeltext zu den deutschen Poeten als Ersatzmittel hinlenken
wollte, so weist Schöll auf Hölderlin. Goethe, Rilke.

Sigrid Hunke, über ein Jahrzehnt im Vorstand der Deutschen
Unitarier, artikuliert ihre Ablehnung des christlichen Glaubens mit
der These der Unvereinbarkeit abendländischen Wesens mit dem im
Christentum Gestalt gewordenen spezifisch andersartigen Wesen des
Vorderen Orients. Von den Hurritern stammt die extreme Form des
Dualismus, die heute im Christentum und nicht anders im Marxismus
repräsentiert ist. Für den Unitarismus gibt es nur ein Sein, das sich
beständig in das Seiende entfaltet, verkörpert, verendlicht, das sich
besondert, ohne sich vom Ganzen abzusondern. Frau Hunke liefert
den Unitariern eine geistesgeschichtliche Ahnenreihe mit dem besonderen
Lichtpunkt der Mystik des Meisters Eckhart. „Auch wenn
Eckhart von scholastischen Geleisen herkommt, so überfliegt er sie
allzu bald."

Seibert zeichnet die Figuren der charismatischen Unitarier ohne
alle Arroganz eines Häresioiogen. Er hätte an die Seite von Schöll und
Hunke auch noch Albert Hartl stellen können, ehedem katholischer
Priester, dann als SS-Mann verantwortlich dafür, die katholische
Kirche mit einem Nachrichtennetz zu durchziehen, so aber im Kreis
der Unitarier ein Sprecher und Schriftsteller, dem man die geprägte
Priesterlichkeit noch anmerkte. Um Hunkcs Eckhart-Bild zurechtzurücken
, nutzt Seibert Erhard Wehrs Buch über die Deutsche Mystik
und verzichtet auf eigene Argumentation. Die Studie von Seibert
sollte man mit der neuen Biographie über Jakob Wilhelm Hauer (M.
Dierks, 1986), der, auch ein Charismatiker, in das deutsche Unitarier-
tum hineingewirkt hat. zusammen lesen.

Es wäre zu wünschen gewesen, daß die Hunkc-Zitate nicht so sehr
in die Anmerkungen herabgedrückt wären. Dann wäre der Eindruck
noch vertieft: Im Deutschen Unitariertum macht sich ein Pantheismus
geltend, dereine völlig neue Sprache buchstabiert.

Frankfurt (Main) Friedrich Heyer

Rostagno, Sergio u. a.: Maria nostra Mirella. A cura della Federazione
della chiese evangeliche in Italia. Rom: Ed. com-nuovi tempi 1988.
127S. 8° Kart. L 15.000.

Das Buch „Maria nostra sorella" (deutsch: Maria, unsere Schwester
) ist eine, hoffentlich nur vorläufige Antwort auf die kaum überschaubare
Serie katholischer Initiativen zum Stichwort „Maria".
Diese Serie nach Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI. im Vatika-
num II ist im VIII. Kapitel der Dogmatischen Konstitution über die
Kirche. „Lumen gentium" 1967 erweitert. Johannes Paul II. ließ 20
Jahre nach Abschluß des Konzils, an dessen Entwurf und Gestaltung
er als Karol Wojtyla maßgebend teilhatte, die Eneyklica „Redemp-
toris mater" ergehen, kündigte dabei ein „Marianisches Jahr" an. Am
15. 8. 1988 folgte sein Apostolisches Schreiben „Über die Würde der
Frau"(mulierisdignitatem).

Die Vereinigung evangelischer Kirchen Italiens (Fcei) erklärte

wenige Tage später bedauernd, daß die päpstlichen Ankündigungen
entgegen ihrem Anspruch keinen Beitrag zu einem ökumenischen
Weg mit den Kirchen der Reformation gewähren. Zur weiteren Auseinandersetzung
berief der Rat der Fcei in Zusammenarbeit mit der
Theol. Fakultät der Waldcnser in Rom auf den 12./13. März 1988
einen „Nationalen Konvent" ein. Der Band „Maria nostra sorella"
enthält mit neun Aufsätzen Vorträge und Nacharbeiten dieser
Tagung. Fünf derselben stammen von Waldenserinncn und Waidensem
, je ein Beitrag von einem Katholiken (Exegese) und einem Baptisten
(Systematik).

Dieser Aufwand gerade zu diesem Zeitpunkt war angesichts des
vom Vatikan gesehenen und eskalierenden Zerfalls abendländischer
Normen, seien sie christlicher, seien sie humanistischer Herkunft,
beiderseits unumgänglich. Obschon die Stolpersteine expressis verbis
nie genannt werden, werden mit der Betonung der in der Schöpfung
gegebenen Fakten und der beispielhaften, verpflichtenden Figur der
Maria die Ehe, Familie, §218, Scheidungsraten, Femininismus aller
Arten, Quotenregelung und Homosexualität in vorbildlicher, pastoraler
und sorglicher Verantwortung zur Überlegung gestellt. Da
seitens der Katholiken auf den schier unerschöpflichen Fundus der
Marienverehrung in allen nur denkbaren menschlichen Möglichkeiten
großzügig zurückgegriffen wird, haben die Glieder der Fcei die
katholische Praxis nach allen Seiten zu beurteilen versucht und ihre
eigene Position festgestellt.

Sie lautete schon vor dem Konvent, eine biblische Begründung für
eine gottesdienstlichc Verehrung (culto, devozione) und für eine
dogmatische Entfaltung zur Heilsmittlcrin (mediazionc, mediatore)
fehle. Zwar ist Maria im NT „präsent", aber an ihren Namen knüpft
eine vieldeutige und ärgerliche Entwicklung an.

Theologische Basis der Diskussion ist die Summe theologischer
Argumente bei Karl Barth und auch Paul Tillich. Ihre Standardwerke
sind italienisch übersetzt. Spitzensätze des Konventes wie des Bandes
seien angeführt.

Die Mutter Jesu darf nicht als „Mutter aller Glaubenden" benannt
werden. Sie ist nicht der Notwendigkeil enthoben, auch durch Jesus
erlöst zu werden. Maria ist von hohem menschlichem und kulturellem
Rang; sie wird von vielen als Helferin angesehen. Aber sie isl
„nicht das Mensch gewordene Wort Gottes". Name und Rang der
Maria sind in den Begegnungen mit dem Feminismus aller Spielarten
ohne Belang. Ihr Bild und Erscheinung sind anthropologisch und
tiefenpsychologisch (C. G. Jung) ohne Wirkung. Mit der irenischen
und konzilianten Art, nur Ergebnisse der Forschung mitzuteilen,
bleiben die Möglichkeiten ungenutzt, dem Papst ausgesprochene
Sehwachstellen vorzuhalten. So ist die häufige Nennung der Maria
unter dem Kreuz durchaus kein Ansatz zu einer Thcologia crucis. Der
ganze Bereich von CA Art. IV ist nicht berührt. Aber darauflegt der
Papst auch kein Gewicht. Er steht und fällt aber mit seinem suggerierten
Bild von Mann und Frau. Er fußt auf Gen 2,23. Die Exegese und
Übersetzung isl mittelalterlich. Die Virginität des 2. Arlikels des
Apostolikums ist mit Jes 7,14 und der einzigen ntl. Zitierung schwach,
wenn nicht falsch gestützt. Man sollte sich die richtigen Vokabeln aus
der Tora geben lassen, wenn man nicht dem Hieronymus folgt, der
eine nämliche Passage bei Origenes mit „puella" übersetzt. Es isl
lediglich eine unbeweisbare Behauptung. Maria sei bei der Ausgießung
des Geistes zugegen gewesen. Ihre Erwähnung in den Acta
endet faktisch mit 1,14. Erkenntnisse, daß Lukas den Namen Maria
später unterdrückt hätte, oder daß Textvarianten bekannt wären,
fehlen. Derbeim Papst überall vorausgesetzteConsensusquinquesae-
cularis ist eine Illusion. Maria ist langsam und nicht überall gleicherweise
in ihre Rolle erhoben worden. Eine Instanz, wie der Papst es ist,
müßte solche Fehler und Schwachpunkte sorgfältig vermeiden. In
einer redlichen Theologie hat ein „Marianisches Jahr"' keinen
Platz.

Die Konzeption des Bandes bietet dem meditativen Drängen des
Papstes keinen Widerpart. Trotzdem ist die Frage aufgeworfen: muß
die Maria für die Protestanten immerein Tabu bleiben? Der Entwurl