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Ausgabe:

1990

Spalte:

607-608

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Huntemann, Georg

Titel/Untertitel:

Der andere Bonhoeffer 1990

Rezensent:

Kuske, Martin

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Seite 1

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607

Theologische Literaturzeitung I 15. Jahrgang 1990 Nr. 8

608

Kirchengeschichte: Neuzeit

Huntemann, Georg: Der andere Bonhoeffer. Die Herausforderung des
Modernismus. Wuppertal-Zürich: Brockhaus 1989. 318 S. 8° =
ABC team. Pp. DM29,80.

H. hat sein Buch „vornehmlich" für die „Evangelikaien" geschrieben
. Seine Beschäftigung mit- Bonhoeffer begann 1951, als er sich
„Widerstand und Ergebung" anschaffte. Seitdem habe er versucht.
„Bonhoeffer zu verinnerlichen,... aufgewühlt durch den Realismus,
die Art und Weise der dynamischen Ganzheitlichkeit seiner Theologie
(9t). Aber nicht aus dieser Phase seiner Theologie stammt das
Buch, sondern aus der folgenden, in der er sich den Evangelikaien
zuwandte und den „anderen" Bonhoeffer entdeckte, den „Vater-
mensch(en).... dem es bis zuletzt ganz wichtig war, daß der der Frau
zugewiesene Ort das Haus des Mannes ist und dem alles daran lag, daß
die Frau dem Manne untenan sei. dieser verantwortliche Offen-
barungs- und Ordnungsethiker. der für ein Ethos .von Oben' und eine
Obrigkeit ,von Gottes Gnaden' kämpfte" (10).

Diese Sicht wird in den zehn Kapiteln immer wieder eingeprägt,
der Vatermensch mit seiner „ganz und gar männliche(n) und herbe(n)
Frömmigkeit" (22) besonders im Kapitel I (BonhoetTers Leben und
Denken war ein Leben und Denken in der Wendezeit); die Abwehr
des Feminismus besonders im Kapitel V (Macht und Ohnmacht Gottes
): Bonhoeffers Offenbarungs- und Ordnungs-Ethik vor allem in den
Kapiteln IV und VII (Biblische Offenbarung in der Babylonischen
Gefangenschaft neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses; Gegen
das Chaos die Ordnung-der Ordnungsethiker D. Bonhoeffer).

Ein weiterer Akzent, den H. setzt, um den „anderen" Bonhoeffer
sichtbar zu machen, ist dieser: er war ein „Christusmystiker" (49ff;
100 ff). An der ersten Stelle erläutert H. diesen Begriff im Anschluß an
die Antwort zur 1. Frage des Heidelberger Katechismus als „ein
Leben in, mit und durch Christus"; an der zweiten Stelle wehrt er als
Mißverständnis ab. Christusmystik meine, „in der Tiefe der Seele
einen Christus (zu) entdecken, sondern Christusmystik bedeutet Teilnahme
an der Wirklichkeit des Christus, der mir begegnet und mich
mitnimmt, mich einbezieht in seine Wirklichkeit . . . inmitten der
Welt" (102).

An dieser Stelle sei dem Rez. die Frage gestattet, ob es notwendig ist,
jenen Begriff als Interpretationsbegriff einzuführen. Diese Frage resultiert
auch aus der Beobachtung, daß H. überhaupt große Begriffe liebt
und wahre Begriffssehlachten schlägt. Nur ein Beispiel sei genannt:
„BonhoetTers Verständnis der Mündigkeit steht heute ganz und gar im
(iegensatz zur retrogressiven Androgynität der matriarchalischen
Überfremdung des Christentums" (107). Solche und ähnliche Wendungen
erleichtern nicht das Lesen des Buches. Neben der oft so
formelhaft klingenden Sprache wird das Lesen durch die ungenaue
Art des Zitierens erschwert. Ich erspare mir Beispiele, bei einer eventuellen
zweiten Auflage hätte ein Lektor noch viel zu tun.

Wichtiger als dieser Hinweis ist mir die folgende Frage, die das
(lesamtverständnis des „anderen" Bonhoeffer in der Sicht H.s betrifft.
H. charakterisiert ihn als einen „Feind der liberalen Theologie und
damit auch des Modernismus" (58). Dagegen steht die Selbstcharakterisierung
BonhoetTers im Zusammenhang der geplanten Arbeit: „Ich
fühle mich als ein .modemer' Theologe, der doch noch das Erbe der
liberalen Theologie in sich trägt". Aus diesem bejahten Erbe erwachse
ihm die Verpflichtung, die lebenswichtigen Fragen anzuschneiden,
um die sich die Kirche nicht drücken dürfe, auch wenn dabei riskiert
wird, „anfechtbare Dinge zu sagen"(Brief vom 3. 8. 44. WEN 411).
Sicherlich, H. macht auf Aussagen BonhoetTers aufmerksam, die bisher
zu Unrecht in der BonhoelTer-lnterpretation zu wenig zur Kenntnis
genommen wurden, z. B. auf seine eschatologischcn Aussagen, die
sich nicht nur in dem Vortrag von 1932 „Dein Reich komme" finden
(14711), aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er, um
seiner Ziclgruppc. den Evangelikaien. Bonhoeffer nahezubringen, ihn

für diese Gruppe zu vereinnahmen sucht. Bonhoeffer aber ist zu
„mehrdimensional", um ihn für eine Gruppe zu beschlagnahmen.

Nicht unerwähnt aber darf bleiben, daß H. sich offen und deutlich
dafür ausspricht, Bonhoeffer als „Märtyrer der Kirche Jesu Christi"
zu verstehen, der unter der Seligpreisung von Mt. 5,10 steht, weil er
um der Gerechtigkeit Christi willen verfolgt und ermordet wurde
(240). Bei dieser Entscheidung wird H. sicher nicht auf Zustimmung
aller Evangelikaien rechnen können, ebenso wie er mit seiner These
„Wer zu Dietrich Bonhoeffer ja sagt, muß zur derzeitigen Gestalt der
evangelischen Volkskirche nein sagen" (Überschrift des Kapitels IX)
diejenigen herausfordern wird, die - in der Bundesrepublik - die
Volkskirche bejahen.

Was bedeutet aber diese These in bezug auf die Rolle der
evangelischen Kirchen in der DDR im Herbst 1989? Mancher von
denen, die die friedliche Revolution mitgetragen haben, war auch von
Bonhoeffer inspiriert, hatte ihn bejaht. Auch deshalb waren die evangelischen
Kirchen in der DDR. die in den vergangenen Jahrzehnten
zu Minderheitskirehen geworden waren, für kurze Zeit „Volkskirchc"
in dem Sinn, daß sie „nicht herrschend, sondern helfend und dienend"
„an den weltlichen Aufgaben -des menschlichen Gemeinschaftslebens
" teilnahmen („Entwurf einer Arbeit", August 1944, WEN
415). Kann sich H. durch diese Ereignisse bestätigt fühlen? Er stellt
Bonhoeffer als durch und durch konservativen Menschen und Theologen
dar. Hätte dann aber Bonhoeffer die Rolle spielen können, die er
bei „Linken" innerhalb und außerhalb der Kirchen in der DDR
gespielt hat und noch spielen wird?

Telcrow Marlin Kuske

Schreiber, Matthias: Friedrich Justus Pereis. Ein Weg vom Rechtskampf
der Bekennenden Kirche in den politischen Widerstand.
München: Kaiser 1989. 260 S. 8" = Heidelberger Untersuchungen
zu Widerstand, Judenverfolgung und Kirchenkampf im Dritten
Reich. 3. Kart. DM 38.-.

Nur wenig, allzu wenig ist in der Regel über jene Juristen bekannt,
die im Kirchenkampf als Berater und Verteidiger auf de/ Seite der
Bekennenden Kirche eine wichtige, in manchen Fällen sogar entscheidende
Rolle spielten. Deshalb greift man mit besonderem Interesse zu
der vorliegenden Untersuchung, die ein Lebensbild von Pereis. dem
angesehenen Juristen der „dahlemitischen" Richtung verspricht.

In sechs Kapiteln behandelt der Autor die Biographic dieses stillen
und mutigen Mannes, von seiner Kindheit und Jugend in einem intellektuellen
Berliner Bürgerhaus bis zu seiner Ermordung in den letzten
Kriegstagen. Es zeichnen sich die Umrisse eines Lebens im unermüdlichen
Dienst der Bekennenden Kirche ab, eine Persönlichkeit,
die in der Regel im Hintergrund tätig war - stets hilfsbereit, zuverlässig
, einfallsreich -. einer Gestalt, die als „Mischling zweiten
Grades" - in der Terminologie jener Zeit - schließlich Kontakte zur
Widerstandsgruppe der Abwehrsuchte und fand.

Doch nicht nur diese Etappe seines Lebens, sondern die gesamte
Darstellung bleibt auffällig vage und überaus unbestimmt. Vermutungen
. Hypothesen - und leider immer wieder auch unbewiesene Behauptungen
begegnen auf Schritt und Tritt. Das liegt einerseits eindeutig
an der schmalen Quellenbasis dieser Studie, die vor allem aul
dem Nachlaß von Pcrels basiert. Außerkirchliche Archivalien begegnen
überhaupt nicht. Doch problematischer mutet die mangelnde
Quellenkritik an. Daß die Alliierten vornehmlich militärische Anlagen
bombardiert hätten (189), wird mit der Aussage eines „Zeit-
zeugen" vom Juni 1986 belegt! Dabei existiert eine breite englische
und deutsche Literatur über die alliierten Flächenbombardements zur
Zermürbung der Zivilbevölkerung. Was an diesem - zugegebenermaßen
pointierten - Beispiel zum Ausdruck kommt, begegnet leider
immer wieder: Aussagen von 1986 und 1987 über Pereis werden
schlicht und unretlektiert als gesicherte historische Fakten referiert
(vgl. etwa 170 A. 43; 187 u. ö.). In die gleiche Richtung geht die