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Ausgabe:

1990

Spalte:

603-605

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hammann, Gottfried

Titel/Untertitel:

Martin Bucer 1990

Rezensent:

Brecht, Martin

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung I 15. Jahrgang 1990 Nr. 8

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ten Auflage sagte, hatte er auf Grund mancher Reaktionen einiges in
der zweiten Auflage korrigiert. Allerdings war der Satzspiegel dabei
nicht verändert worden, so daß sich die Korrekturen in recht engen
Grenzen gehalten haben.

Auch bei der dritten Auflage ist der Satzspiegel nicht verändert
worden. Daß der Band nicht mehr wie in der ersten Auflage 500, sondern
jetzt 502 Seiten umfaßt, ergibt sich nur dadurch, daß die in der
ersten Auflage gebotene Zeittafel entfallen ist, wofür die abgebildeten
Texte nach vorn gerückt und in die Seitenzählung einbezogen sind.
Dabei ist freilich die neunte Tafel der ersten Auflage entfallen; sie
hatte die Kopie eines Briefes von Johann Fabri vom 3. Juni 1523 an
einen unbekannten Empfänger in Mainz geboten, wobei interessanterweise
dieser Brief abgefangen und durch Ambrosius Blarer mit
Randbemerkungen versehen worden war. Im übrigen ist jedoch weder
im Text noch in den Anmerkungen offenbar irgendwo eine größere
Änderung vorgenommen worden.

Oberman schreibt im Vorwort zur dritten Auflage, dieses Buch sei
weniger sein ..Tübinger Testament" - er lehrt seit einigen Jahren in
Tucson, Arizona - als vielmehr ..der Wendepunkt für. . . (seil, seine)
Ausrichtung auf .die neue Geistesgeschichte'." Darunter versteht er:
„Von der hohen Warte der Universität Tübingen aus wird in die
Niederungen der Gesellschaft im Zeitalter der Reformation hineingeschaut
: vom Zinsprotest bis zur Hexenverbrennung, von der
Augustinrenaissance bis zur .Handwerker-Reformation' in der
Schweiz. Stets bleibt das Hauptthema die Tiefenwirkung der Theologie
."

Tatsächlich hat das Buch durchaus stimulierend und im guten
Sinne des Wortes provozierend gewirkt. Ein Zeichen dafür ist eben die
Tatsache, daß jetzt eine dritte Auflage notwendig wurde. Freilich
hätte man sich gewünscht, daß Oberman wenigstens etwa im Vorwort
sich ausführlicher mit den teilweise recht gravierenden Einwänden
gegen manche seiner Thesen auseinandergesetzt hätte.'

Hamburg Bernhard Lohse

' Oberman. H. A.: Spätscholastik und Reformation. Band I: Der Herbst der
mittelalterlichen Theologie, EVZ-Vcrlag Zürich 1965; dazu Bcngt Hägglund.
THLZ92, 1967,841-843.

J ThLZ105, 1980.52-54.

1 Siehe dazu besonders, außer den in meiner Rezension vorgebrachten
Kritiken. Bernd Moeller in: ARG 70. 1979. 308-314; Gerhard Müller, in: LuJ
46. 1979. 136-139.

Hammann, Gottfried: Martin Bucer 1491-1551. Zwischen Volkskirche
und Bekenntnisgemein1, rhaft. Aus dem Franz. von
G.P.Wolf. Stuttgart: Steiner; Speyer: Evang. Presseverlag Pfalz;
Kassel: Evang. Presseverband Kurhessen-Waldeck; Frankfurt/M.:
Evang. Presseverband in Hessen und Nassau 1989. 387 S., 4 Taf. gr.
8' = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte
Mainz. Abt. f. abendländische Religionsgeschichte. 139. Lw. DM
68.-.

Es ist zu begrüßen, daß die Straßburger Habilitationsschrift nunmehr
auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie will einerseits eine
Lücke in der Bucerforschung schließen, hat jedoch andererseits dogmatische
und praktische Interessen im Blick. Dies wirkt sich auf die
Anlage aus. Der I. Teil bietet, chronologisch aufgebaut, einen Überblick
über Bucers reformatorische Tätigkeit und Schriften, unterteilt
in die Zeit der Grundlegung bis 1529, des Autbaus bis 1539 und der
Ausgestaltung. Hier stützt sich der Vf. weithin auf die Ergebnisse der
bisherigen Bucerforschung. Der 2. Teil stellt die Grundlagen der
Ekklesiologie dar, der 3. Teil die praktische Ekklesiologie. Hier wird
jeweils systematisch vorgegangen, wobei gelegentlich auch genetische
Gesichtspunkte zur Geltung kommen. Die Überlegungen ,,Zu den
Einflüssen und Übereinstimmungen in Bucers Ekklesiologie" sind
bezeichnenderweise weithin in einen anschließenden Exkurs abgeschoben
, der zudem recht knapp ausgefallen ist (313-321). Mehr
genannt als entfaltet werden die Beziehungen zu den Kirchenvätern,
zu Thomas, Humanismus und Mystik sowie zu den anderen Reformatoren
. Bucer soll bewußt in seiner Eigenständigkeit vorgeführt
werden. Weder für eine genetische Erfassung seiner Ekklesiologie
noch für eine zusammenschauendc Reformationsgeschichte ist diese
Verfahren ganz befriedigend. Kritik und Würdigung sind hauptsächlich
dem 4. Teil vorbehalten, der Leser muß sich also in dieser Hinsicht
gedulden, was bei Bucer nicht immer ganz leicht fallt. Zudem
wäre es der Darstellung gewfß gut bekommen wenn schon in ihr die
Probleme des Gegenstandes angesprochen worden wären. Vier Anhänge
befassen sich mit einzelnen Sach- und Datierungsfragen.

Die Berichterstattung hat sich zunächst mit dem 2. und 3. Teil des
Buches zu befassen. Nicht vergessen sollte man dabei die bereits im
Untertitel angedeutete Zweipoligkeit. Bucer bewegte sich in seinem
Denken häufig zwischen Dualismen oder Alternativen. Daher rührte
seine große Beweglichkeit: deshalb war er auch für Freund und Feind
so schwer zu fassen, und dem heutigen Betrachter geht es noch ebenso.
Da hilft es nicht viel, wenn der Vf. zwar spiritualistische Neigungen
sowie mystische und individuelle Frömmigkeit Bucers zugibt, aber
dennoch dekretiert, er sei kein Vertreter einer derartigen Richtung
gewesen (78). Das hätte man gerne genauer! Erfreulich ist der Hinweis
auf die für Bucer wichtigen Bibelstellen und ihre Auslegung. Hier
hätte der Vergleich mit anderen Reformatoren etwas gebracht.

Eine spezielle Schwierigkeit reformatorischer Ekklesiologie besteht
darin, daß sie anders als die römische gerade nicht isoliert entfaltet
werden kann, sondern in Beziehung zur Christologie. zum Heiligen
Geist, zur Rechtfertigungslehre usw. gesetzt werden muß. Diese
Prämissen werden nicht entfaltet, obwohl das Kap. „Die Kirche als
göttliche Stiftung" alsbald auf „Die Kirche als Werk des Heiligen
Geistes" zu sprechen kommt. Der Vf. beläßt es bei einer Deskription.
Darin liegt überhaupt der Wert des Buches, daß es nach und nach die
diversen Aspekte von Bucers Ekklesiologie vollständig vorführt. Hier
kann man nachschlagen. Zunächst handelt es sich um die weiteren
Stichworte Reich Gottes, Unvergänglichkeit, Einheit und missionarische
Gemeinschaft. Zum Teil geht es dabei um komplexe Sachverhalte
, die mit der Kirche als Prozeß zu tun haben.

Der göttlichen Stiftung wird die Kirche gegenübergestellt. Bucer
hat die Sozialität der Kirche durchaus erfaßt. Dabei ist er gezwungen,
die Erwählungsgemeinschaft mit dem Faktum des corpus mixtum in
Einklang zu bringen. Diese Gegebenheiten müssen bezüglich der
„Kennzeichen der Kirche" ständig durchdekliniert werden. Hier ist
die Darstellung besonders klar. Es geht um das Wort, die Sakramente,
Taufe, Eucharistie und Zucht. Immer kommt die Polarität von innen
und außen zum Vorschein, die zusammengehalten werden soll. Als
interessante Aspekte seien u. a. genannt: Unterweisung als Wort.
Handauflegung als Sakrament. Gelegentlich begegnen gewagte
Kombinationen wie die von Beschneidung und Taufe oder die von
eucharistischem und ekklesialem Leib Christi. Gegen die konsequente
Exkommunikation hatte Bucer Vorbehalte.

Im 3. Teil werden zunächst wieder übersichtlich die Ämter vor
allem nach der späteren Ausgestaltung vorgeführt. Der Vf. ist übrigens
der Ansicht, daß Bucer anders als Calvin nicht eigentlich das Schema
von den vier Ämtern vertrete. Tatsächlich begegnen bei ihm sogar der
Bischof und notfalls auch der Papst. Typisch für Bucer ist daneben die
Verantwortung der Obrigkeit für die Kirche. Die obrigkeitlichen
Kirchenpfleger mit ihrer Zuständigkeit für Lehre, Verwaltung und
Zucht passen an sich nicht in die Theorie, aber faktisch und von der
Konzeption der Volkskirche her werden sie dann doch integriert.
Spannungen blieben dabei natürlich nicht aus. Gut werden die „Ge-
meinschaftsstätten" wie Schule, Kirchengemeindc und Familie in den
Blick gefaßt. Mit Recht interessiert sich der Vf. besonders für das
späte und dann gescheiterte Experiment der „Christlichen Gemeinschaften
", jener Sammlung der Frommen, auf die sich später Spener
berief. Bucer ist eben nicht nur bedeutsam wegen seiner eigenen Ausgestaltung
der Ekklesiologie. sondern auch als Indikator für die