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Ausgabe:

1990

Spalte:

595-597

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Latourelle, René

Titel/Untertitel:

Miracles of Jesus and the theology of miracles 1990

Rezensent:

Bindemann, Walther

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 8

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auch die These, daß die Übereinstimmungen zwischen Marcion und
,,westlichen" Lesarten auch der vetus Latina nicht auf Marcions Einfluß
zurückgehen. Zu kurz kommt dagegen m. E. die Berücksichtigung
des Inhalts marcionischer Theologie. Lesarten wie etwa in Eph
3.9 das Fehlen von ß'v vor to) i)koj oder das Fehlen von ö xai napil/.nßov
in I Kor 15.3 verdanken sich doch wohl Marcions theologischem
Interesse, auch wenn im eindn Fall N* und die Minuskel 2412 und im
andern Fall Kirchväter und ein Teil der vetus Latina denselben Text
bieten. Problematisch ist m. E. die Begründung der These, daß i'.v
'I-jpM(t) in Eph 1,1 nicht zu lesen sei (vermutlich habe der Vf. des Eph
ein Exemplar des Rom vor sich gehabt, in dessen Präskript entsprechend
der Lesart von G die Ortsangabe e.v Pcbfifl gefehlt habe, und dies
habe er dann mit der Adresse von Kol 1,2 kombiniert; S. 94-98). Im
ganzen aber ist Cl.s Untersuchung ein wichtiger Beitrag zur Erhellung
der Frühgeschichte des Kanons und des neutestamentlichen Textes-
nicht zuletzt deshalb, weil sie bestätigt, daß Marcion nicht als Schöpfereines
NT-Kanons gelten kann.

Bethel Andreas Lindemann

Latourelle, Rene: The Miracles of Jesus and the Theology of
Miracles. Transl. by M. J. O'Connell. New York - Mahwah: Paulist
1988. VI,371 S.gr.8". Kart. $ 14.95.

Erstaunlich, wieviel wissenschaftlichen Aufwand man treiben
kann, um alte Apologetik zu rc-etablieren. Das Ergebnis: eine
Abhandlung, die dogmatische Vorentscheidungen als wissenschaftliche
Analyse maskiert.

Rene Latourelle lehrt Fundamentaltheologie an der Gregorianischen
Universität in Rom; vorliegendes Buch ist eine Übersetzung aus
dem Französischen.

L. versteht die Wunder Jesu von einem christologischen Ansatz her;
"The signs flow from a personal centcr: Christ himself; they are the
many forms of the Son's epiphany in the midst of humanity" (15). L.
will nicht in Literar-, Form- und Traditionskritik steckenbleiben,
hält sich darum auch gar nicht erst damit auf, sondern möchte sich der
„Herausforderung der Historizität" stellen (40). Seine Methode nennt
er HistoricalCriticism; mit ihrer Hilfe will er die Faktizität der Ereignisse
nachweisen, von denen die Wundererzählungcn des Neuen
Testaments reden.

Dazu entwickelt er eine Reihe methodischer Kriterien; die fünf
wichtigsten seien hier dargestellt und kritisiert:

a) Mehrfache Bezeugung ist eines der wichtigsten Kriterien für die
Sicherheit berichteter Ereignisse. Zwar sieht auch L.. daß hinter der
Evangelien-Überlieferung "a common source" existiert, "namely the
early preaching" (56); doch blendet er diese Einsicht für alle weiteren
Überlegungen aus. Wie wenig er selbst aber dem Kriterium der
"multiple attestation" zutraut, erweist sich bei der Behandlung von
Wundererzählungcn, die in den Evangelien nur einmal bezeugt sind.
Da erklärt er dann, dieser Umstand sei "not a decisive argument"
gegen die Historizität des Berichteten (191). Denn: "Stories in a
single version are so frequent in the Gospel tradition that only bad
fäith can turn this fact into an argument against historicity" (213). -
Warum aber überhaupt Kriterien entwickeln, wenn man sie dann
doch für beliebig aussagekräftig oder irrelevant erklärt?

b) Diskontinuität: Das bekannte Kriterium zur Beurteilung der
Jesuslogien, nach dem als echt gilt.was weder aus zeitgenössischer
jüdischer Theologie und Frömmigkeit noch aus christlicher Gemeindeverkündigung
erklärt werden kann, überträgt L. auf die Wun-
derüberlieferung. Dabei übersieht er, daß die von Anfang an durch
Verkündigungsinteressen geprägt war. Da die Wundererzählungen
der Evangelien nun einmal keine Protokolle sind, sondern von Anläng
an zur Verkündigung gestaltete Tradition, erläßt das „Diskonti-
nuitäts"-Kriterium höchstens die Überlieferung, nie die ihr zugrundeliegenden
Ereignisse. Dieser Erkenntnis geht L. freilich aus dem Weg.
indem er die traditionsgeschichtliche F rage ausblendet.

c) Das Kriterium der Kontinuität basiert auf der Erkenntnis, daß die
Reieh-Gottes-Verkündigung das Zentrum der Bolschaft Jesu markiert
. Die Wunder, so postuliert L.. "are closely connected with this
themc". Das gilt nun freilich wieder nur sehr eingeschränkt; die
Wundererzählungen jedenfalls sind viel stärker von messianischer
und Theios-aner-Frömmigkeit diktiert als von der Reich-Gottes-
Vcrkündigung.

d) Ein weiteres Historizitätskriterium soll der .SV/7./cv» abgeben, den
L. in den Wundererzählungen dokumentiert findet. Dazu gehört, daß
Jesus nur notwendige und keine Strafwunder tut. daß seine Taten
"simplicity and mastery" (62) ausstrahlen, die Heilungen meist spontan
wirksam werden, er Wunder nicht benutzt, um sich selber darzustellen
und seine Wunder angeblich in einem religiösen Kontext
stehen. Wieder einmal liegt der Grundirrtum bei Ausbildung dieses
Kriteriums darin, daß zwischen dem ..Stil Jesu" und dem der Erzähler
und Gestalter der Wundererzählungcn methodisch, nicht unterschieden
wird.

e) Von innerer Einsichtigkeil möchte L. sprechen, wenn ein Geschehen
perfekt in seinen Kontext paßt und eine kohärente innere
Struktur aufweist. Wie dies Kriterium funktioniert, stellt er ausgerechnet
an der Auferweckung des Lazarus (Joh 1 1) dar. Wieder wird
dabei Tradition gleich Historie gesetzt.

Nach dieser methodologischen Vorarbeit werden die einzelnen Erzählungen
von den Wundern Jesu der historischen Kritik unterzogen.
Von einer Wundererzählung zur nächsten kommt L. zu dem - nur
anfangs noch überraschenden - Ergebnis, daß eine jede auf einem
historischen Vorgang fuße. Selbst für die Sturmstillung (Mk 4,3511).
das Weinwunder (Joh 2) oder die Totenauferweckungen findet er ein
faktisches (ieschehen als historischen Kern. Historische Kritik ist hier
zur pauschalen Bestätigung einer Faktizität degeneriert, die von vornherein
feststeht. Die Trennlinie zwischen kerygmatischem Christus
und historischem Jesus wird dabei großzügig aufgelöst. Auch die Verarbeitung
alttestamentlicher Uberlieferung in der neutestamentlichen
wird nur ungenügend wahrgenommen und in ihrer Bedeutung praktisch
nicht gewürdigt. Das gilt etwa für die Elia-Überlieferung hinter
Lk 7,1 III' oder den allteslamentlichen Motivkomplex hinter Mk
4.35IT. Die Geringsehätzung der Traditionsgeschichte zeigt sich
schließlich auch darin, daß L. über das johanneische Verständnis der
Wunder handeln kann (254-256), ohne die Semeia-Quclle auch nur
zu erwähnen.

Wer nichts von Traditionskritik hält, steht der Tradition schließlich
kritiklos gegenüber. So erliegt L. dem Vorurteil, daß Personennamen.
Zeit- und Ortsangaben in Wundcrerzählungen automatisch Historizität
signalisierten. Endlich kann er auch kein Empfinden lür die keryg-
matischen Intentionen und Funktionen der Wundererzählungen entwickeln
(trotz eines Kapitels "The Sign Values and Functions ol
Miracles"). So etwas wie „pragmatische Blindheit" hindert ihn beispielsweise
an der Erkenntnis, daß die Erzählung von der Blindcnhei-
lung Mk I0,46ffihrcr Intention nach viel weniger Hcilungsgeschichtc
als Begegnungsgeschichte ist.

Im letzten Teil konzipiert L. eine „Theologie des Wunders". Da/u
arbeitet er eine kirchliche Tradition von Augustin über Thomas bis
hin zu Maurice Blondel auf. Wie er schließlich neutestamentlichc
Wunderüberlicferung und die Heilungen von Lourdes in eine Reihe
stellt-das ist schon gewagt. Ich bin nicht kompetent, die Wunder von
Lourdes einzuschätzen, meine aber, man sollte anerkennen, daß die
neutestamentlichc Wundertradition und die Berichte von Lourdes
zwei grundsätzlich verschiedene Phänomene darstellen. Was L. betrifft
, so entzieht er sich dem Gespräch mit moderner Naturwissenschaft
. Medizin. Psychologie und schließlich auch nichtchristlicher
Religiosität auf denkbar einfachste Weise: indem er sie für wirkliche
Wunder generell für inkompetent erkjärt. Denn: "Nowhere oulside
the Christian and Catholic Community do wc find solid altested and
relatively numerous phenomena that can be compared with the
wonders acknowledged as miracles in the Gospel stories. in canoniza-
lion causes. and in the annall of Lourdes" (323). So entzieht Theolo-