Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1990

Spalte:

591-593

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Das Evangelium nach Lukas, 1. Teilband: Lk 1

Titel/Untertitel:

1 - 9,50 1990

Rezensent:

Ernst, Josef

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

591

Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 8

592

Bovon, Frangois: Das Evangelium nach Lukas. 1. Teilband
Lk 1,1-9, 50. Zürich: Benziger; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener
1989. VIII, 524 S. gr. 8° = EKK. Evang. Kath. Kommentar zum
Neuen Testament, III, 1. Pb. DM 128,-.

„Lohnt es sich heute noch, Kommentare zu schreiben?" - eine
provozierende Frage! In den siebziger Jahren sagte mir der Utrechter
Exegct Willem Cornelis van Unnik einmal anläßlich eines ökumenischen
Gespräches in Genf oder Rom: Was zu den meisten neutesta-
mentlichen Schriften, insbesondere zu den Evangelien, zu sagen ist,
sei bereits gesagt und geschrieben worden. Moderne Kommentare zu
lesen sei deshalb frustierend. Das ist ein Standpunkt. Ganz anders
argumentierte mein eigener Lehrer Otto Kuss bei den Vorüberlegungen
zur Neubearbeitung des Regensburger Neuen Testaments: Solange
Nachfrage vorhanden ist, muß geschrieben werden! So steht
Meinung gegen Meinung. Ich möchte das angesprochene Problem am
Beispiel des Lukaskommentars von Frangois Bovon etwas näher
beleuchten.

Der Kommentar hält sich formal an den üblichen Aufbau des
Genres, also: Das Literaturverzeichnis (nicht ganz auf dem neuesten
Stand), die Einleitung (A) mit den wichtigsten Informationen literarischer
Art über Gliederung und Stil, Sprache, Gattung und Absicht,
Quellen, den Verlässer und die Theologie. Der eigentliche Textkommentar
(B) bietet für die einzelnen Abschnitte eine Übersetzung
sowie die Analyse, d. h. Anmerkungen literar-, form- und redaktionsgeschichtlicher
Art, die dem Verfasser nach seinen eigenen Worten
„besonderes Licht gebracht" haben. Die Vers-für-Vers-Erklärung mit
sprachwissenschaftlicher, religionsgeschichtlicher und theologischer
Ausrichtung ist das eigentliche Herzstück. Eine Zusammenfassung,
welche das Anliegen des Evangelisten im Auge hat, rundet ab. In den
meisten Fällen folgt ein Ausblick auf die Wirkungsgeschichte, die teils
(zu) knapp, teils ausführlich dargestellt ist. In den Text sind vier
Exkurse über „Die Jungfrauengeburt und die Religionsgeschichte",
„Der Teufel", „Das Wort Gottes" und „Die Vergebung der Sünden"
eingeblendet. Für den Kommentator ist das Evangelium der erste Teil
eines ursprünglich zusammengehörigen Doppelwerkes (Evangelium +
Apostelgeschichte), das bei der Einordnung in den Kanon auseinandergerissen
worden sei. „Aber warum'?", so darf man fragen. Eine
Antwort bleibt aus. Das Werk ist dem reichen Freund Theophilus gewidmet
, vielleicht mit der Absicht, bisher noch nicht erreichte Leserschichten
anzusprechen. Der Verfasser gehört zur gesellschaftlichen
Oberschicht - ein gebildeter „Gottesfürchtiger", der sich sowohl in
jüdischen Bräuchen und in der jüdischen Theologie als auch in der
griechischen Rhetorik gut auskennt. Die Textstelle Apg 16,9f
(Troas!) führt den Verfasser zu der gewagten Vermutung, Lukas sei
wahrscheinlich ein Makedonier, de,r Verbindung nach Troas gehabt
habe. Für den Entstehungsort des Werkes sei die Romhypothese noch
am wahrscheinlichsten. Adressaten des Werkes seien gebildete Heiden
, hellenistische Juden und Christen, die durch den Übergang von
der Apostolischen Zeit verunsichert seien (Lk 1,4; Apg 22,30).
Lukas vertritt nach der Auffassung des Kommentators eine hellenistische
Form des Christentums, die sich in den gesetzeskritischen
Tendenzen an Paulus orientiert. Die alte These des Reisebegleiters
findet indes keine Zustimmung.

Ich beginne mit den positiven Eindrücken: Die Übersetzung ist
nahe am Urtext, ohne überflüssige Modernisierungen. Die eigentliche
Erklärung besticht durch die sprachwissenschaftliche und philosophische
Kompetenz. Der religionsgeschichtliche Teil bietet ausgezeichnete
Informationen, die zum Teil über das schon bekannte Material
hinausgehen (z. B. zur Jungfrauengeburt). Als besonders wohltuend
empfinde ich die ausgeglichenen Urteile in redaktionsgeschichtlichen
Fragen, die sich von der auch heute noch in manchen
Kreisen üblichen Lukasschelte (Frühkatholizismus) abheben. Gegenüber
der heute üblichen heilsgeschichtlichen Dreiteilung, die auf eine
kritische Beurteilung des dritten Abschnitts (Zeit der Kirche) hinausläuft
, bezieht Bovon mit Recht eine distanzierte Position mit

Sem Zwei-Stufen-Schema: Zeit der Verheißung - Zeit der Erfüllung.
Zu begrüßen ist die Absage an die falsche Alternative: Heilsgeschichte
oder Eschatologie. Ich stimme voll zu in der betonten Herausstellung
der dominierenden Rolle der Christologie und in der differenzierten
Beurteilung der sotcriologisehen Thematik. Lukas hat sie selbstverständlich
anders als Paulus gesehen, aber keinesfalls verdrängt. In all
diesen Punkten und noch in manch anderen hat der Verfasser ein aus-.
geglichenes Urteil, das allen Einseitigkeiten abhold ist. Die Einzelerklärungen
sind kenntnisreich und gewinnbringend. Anerkennung
verdient auch die umfassende, fast vollständige Literaturverarbeitung.
Der neueste Forschungsstand ist in jedem Fall berücksichtigt, für den
deutschen Leser sind die Informationen über die französischen Arbeiten
, die meistens zu kurz kommen, sehr hilfreich. Als Beispiel nenne
ich die Feldrede, deren Bearbeitung vorbildlich genannt werden kann.
Für mein Empfinden ist die genetische Analyse und der Durchblick
durch die gesamtneutestamentliche Motivverwendung mit Rückschlüssen
auf die älteste Überlieferung bis hin zur Jesustradition
besonders geglückt (308-311). Bestechend sind in Einzelperikopen.
z. B. zu 4,31-44, die exakt durchgeführten Quellcnuntersuchungen
(Mk + Q) und die Überlegungen zur lukanischen Verarbeitung. Als
Musterbeispiel einer vortrefflichen Exegese nenne ich die Untersuchung
des Prologs (29-43), die in aller Kürze einführt und das literarische
Vorhaben der Verfassers herausstellt. „Bescheiden wirkt
Lukas, wenn man ihn mit dem Seher von Patmos vergleicht, der eine
neue Offenbarung empfing und verkündigt, anspruchsvoll ist er hingegen
in seinem Drang nach Ordnung, Zuverlässigkeit. Kunst und
theologischer Disposition des Zeitablaufs" (43).

Nach soviel Lob und Zustimmung sind aber auch einige kritische
Bemerkungen erlaubt. In der Kindheitserzählung stimme ich der
Annahme einer vorlukanischen Täuferlegende zu, über die Details
kann man streiten, aber das ist unwesentlich. Daß es aber neben
2,1-20 eine an der Verkündigungspcrikope ausgerichtete Geburtserzählung
(2,21 soll ein erhaltener Restbestand sein!) gegeben habe, ist
genauso phantastisch wie die Annahme einer Nazarethgeburt. Wo
sind die exakten Belege? Die Hypothese ist nicht neu, aber trotz der
Schwierigkeiten mit der Bctlehemgeburt und dem Zensus ist sie nicht
überzeugend. Betlehem ist in der Tat nicht kontrollierbar, aber
immerhin doch auf einer anderen Ebene geschichtlich zu bewerten als
Ostern neben Karfreitag, wie der Autor annimmt. Der ansonsten recht
sachliche und auf wissenschaftliche Nüchternheit bedachte Kommentar
erlaubt sich gelegentliche Ausrutscher wie beispielsweise zur
Geburtserzählung der Vers eines modernen Autors von dem Gott zwischen
den Schenkeln Marias (121). Angesichts solcher modischer
Effekthaschereien ist es verständlich, daß dem Verfasser mein eigener
Hinweis auf die Banalität der Umstände der Geburt (vgl. die phantastischen
ägyptischen Geburtsmythen als Gegenbeispiele) nicht sonderlich
behagt. Ich möchte nicht zu sehr auf Einzelheiten eingehen,
aber einige Anmerkungen seien noch erlaubt: trotz H. Sahlin wage ich
zu bezweifeln, daß der Kyriostitel neben dem Messiasnamen zum traditionellen
Inventar jüdischer Erwartungen gehört hat (126). Gut ist
die Formulierung: „Die Art der Geburt und die Art des Todes entsprechen
sich" (127). Aber was soll der Satz: „Die Auferstehung (mit
Himmelfahrt) verhält sich zu Geburt, Leben und. Tod Jesu wie die
Sache zum Zeichen"? Phantastisch sind die Überlegungen zur Art
und Beschaffenheit der Krippe: „Wahrscheinlich besteht der Trog aus
Stein, etwa in die Wand einer Höhle oder eines Felsens gehauen, oder
aus Lehm; Holz war zu teuer" (127). Woher weiß er das? In der Annahme
, die Rede vom Vater Jesu (Josef) in der Darstellungs- (2,22-40)
und Wiederfindungspcrikope (2.41-52) deute auf eine Vorlage,
welche noch nicht von dem Dogma der Jungfrauengeburt wisse, hin.
ist zwar nicht neu. aber deshalb doch nicht zwingend. Für mein Gefühl
sind manche Ausfuhrungen zu der Geschichte von der Wiederfindung
des Zwölfjährigen zu sehr psychologisierend. Man sollte das
Stück als Personallegende verstehen, wie es Martin Dibelius gesehen
hat, und dabei bewenden lassen. In der Täuferperikope (3,1-20)
entscheide ich mich für eine bewußte Markus-Umarbeitung und nicht