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Ausgabe:

1990

Spalte:

535-537

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Böhm, Manfred

Titel/Untertitel:

Gottes Reich und Gesellschaftsveränderung 1990

Rezensent:

Rostig, Dittmar

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 7

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es eine berüchtigte antik-mittelalterliche Methode, mit den Dämonen
umzugehen, den Exorzismus. W. Wink ist hier sehr vorsichtig: Das
innerpersonale Dämonische will er durch Bewußtmachung und psychologische
Aneignung bewältigen (ähnlich dem Verdrängten, das
sich in Träumen manifestiert) (S. 52 ff); für die "outer personal posses-
sion" kann ersieh aber einen begrenzten Einsatz von Exorzismen vorstellen
(S. 58), ja er begrüßt sogar neu geschaffene Exorzismen in
öffentlichen Gebeten gegen die nukleare Rüstung (S. 67).

Weiter beschäftigt sich der Autor in drei Kapiteln ausführlich mit
den Engeln. Er leistet zuerst einige nüchterne exegetische Aufarbeitung
, geht dann aber darüber hinaus. Kurz gesagt, versteht er sowohl
die Engel der Kirchen (Kap. 3) als auch die Engel der Nationen
(Kap. 4) als eine Art kollektiver Persönlichkeiten - in Winks Worten
ist ein Engel "the actual inner spirituality of the social entity itself"
(S. 88). Die Engel der Natur (Kap. 7) stehen dagegen für "the numi-
nous interiority of created things" (S. 169); der Autor wagt sich hier
am weitesten in den Randbereich zwischen Realität und Phantasie
vor, und zwar in dem Bestreben, unsere Beziehung zur Natur aus der
ökologischen Krise zu führen.

Am eindringlichsten ist vielleicht das 5. Kapitel, in dem eine tiefenpsychologische
Aneignung der antiken Göttervorstellung geleistet
wird.

Freilich ist es etwas anderes, Mythen und fremde Vorstellungen zu
verstehen, ja zu würdigen, als dämonische und engelhafte Mächte für
aktuell wirksam zu halten. Man folgt dem Autor gern in seiner Kritik
an unserem rationalistisch-naturwissenschaftlichen Weltbild, man
folgt ihm auch im tiefenpsychologischen Ernstnehmen der Dämonen
und „Mächte", jedoch wird das Folgen problematisch, wenn der
Autor stets auf eine außerpsychischc Realität der „Mächte" hinzuweisen
scheint, diese aber mangels eines anderen als des heute gültigen
Weltbildes nicht glaubhaft machen kann.

Wien MaxJ.Suda

Böhm, Manfred: Gottes Reich und Gesellschaftsveränderung. Traditionen
einer befreienden Theologie im Spätwerk von Leonhard
Ragaz. Mit einem Vorwort von O. Fuchs. Münster: liberaeiön
1988. 314 S. m. I Abb. 8°.

Mit dieser Publikation liegt die erste katholische Dissertation über
den Schweizer Theologen Leonhard Ragaz (1868-1945) vor. Sie
wurde 1987 von der Fakultät Katholische Theologie der Universität
Bamberg angenommen. Der eine Gutachter, Ottmar Fuchs, geht in
seinem prägnanten Vorwort auf methodologische Fragen ein, die den
Ansatz und die Intention dieser Arbeit in die Tradition und den Kontext
des II. Vatikanums einordnen. Eigenständigkeit und Originalität
dieser Arbeit, so betont er, liegen gerade darin, das Spätwerk dieses
protestantischen Theologen „im Horizont der aktuellen katholischen
Evangelisierungskonzeption für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar
" (18) werden zu lassen.

Diese Zielstellung der Arbeit weist auf die bestimmende ökumenische
Linienführung hin, ohne das kontroverstheologische Potential
(vgl. z. B. Ragaz' Stellung gegenüber Kirche und Katholizismus,
156-159) unberücksichtigt zu lassen. Doch nicht nur die konfessionellen
Grenzen sollen überschritten werden, sondern auch der historische
Graben zwischen Sozialismus und Christentum, indem der
Zusammenhang von „Glaube und Handeln, Theorie und Praxis, von
Bibel und Leben, von Reich Gottes und Geschichte" (16) verantwortlich
reflektiert wird.

Die Barrieren, die diesem Bemühen entgegenstehen, sieht Böhm
darin begründet, daß der religiöse Sozialismus sowohl in der gegenwärtigen
Theologie als auch in der modernen Gesellschaft ein Schattendasein
fristet, zumal in der katholischen Theologie und Kirche.
Diese versteht ihn zum einen als ein evangelisches Phänomen, zum
anderen als ein sozialistisches Experiment, das a priori im Gegensatz
zur katholischen Lehre steht. Demgegenüber konstatiert Böhm zwischen
den katholischen Entwürfen einer Theologie der Befreiung und
dem religiösen Sozialismus tiefgehende Affinitäten, ja, er charakterisiert
ihn als eine Frühform der „Theologie der Befreiung". (22) Daher
postuliert er: „Wer die europäische Wirklichkeit verändern will,
muß aus ihrer eigenen pluriformen Geschichte und . . . Kultur heraus
handeln." (23) Anders formuliert: „Sich als Europäer mit dem religiösen
Sozialismus zu beschäftigen heißt, nach den eigenen Wurzeln der
Befreiung zu graben." (23)

Als die zentrale Kategorie, die die Vermittlung zwischen religiösem
Sozialismus und Gegenwart sinnstiftend zu tragen hat, zieht Böhm die
der „Evangelisation" heran, wie sie sich seit dem II. Vatikanum in der
katholischen Kirche ausprägte. Da dieser Erkenntnisprozeß aber nur
ungenügend vorangekommen sei, versucht er den Begriff der „Evan-
gelisation" mit der theologischen Konzeption von Ragaz zu konfrontieren
und anzureichern. Inhaltlich geht es bei dieser Begriffsbestimmung
um den Sachverhalt, daß göttliche Erlösung und menschliche
Befreiung untrennbar zusammengehören, aber auch unverwechselbar
bleiben.

Die Arbeit widmet sich nach einer kurzen Einleitung (21-27) in
einem ersten historischen Teil der deskriptiven Erschließung der religiös
-sozialistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum (29-85).
Die Entwicklungsgeschichte des religiösen Sozialismus, Ursachen und
Motivationen, werden in einem kurzen Abriß aus Primär- und Sekundärquellen
für den Zeitraum von .1899 bis 1945 sachgerecht dargestellt
. Böhm scheut aber auch nicht davor zurück, der Erörterung
eine Definition des „religiösen Sozialismus" voranzustellen. Da
gerade an dieser Stelle in der Literatur eine starke Unsicherheit vorherrscht
und weise Zurückhaltung geübt wird, sei sie als eine Möglichkeit
zur Diskussion gestellt. Er beschreibt ihn als „eine lebendige
Bewegung, die in der Gesellschaft geschichtlich handelt, einheitlich in
ihrem Streben, christliche Weltsicht mit sozialistischem Impetus ZU
verbinden, vielfältig in ihren Versuchen, diesen Grundkonsens in die
jeweilige praktisch-politische Situation hineinzuübersetzen". (32)

In diesem geschichtlichen Abriß wird zunächst Christoph Blumhardt
d. J. (1842-1919) vorgestellt, da die religiös-sozialistische Bewegung
bei ihm ihren Ausgangspunkt nahm, ohne ihn freilich selbst als
religiösen Sozialisten zu charakterisieren. Danach stellt er die führenden
Vertreter der religiös-sozialen Bewegung der Schweiz vor (die in
Anmerkung 4 erläuterte und in der Arbeit praktizierte synonyme Verwendung
der Begriffe „religiös-sozial" und „religiös-sozialistisch"
wird allerdings vom Rezensenten nicht geteilt) und skizziert im Anschluß
daran die einzelnen religiös-sozialistischen Gruppen in
Deutschland (Neuwerkbewegung, Bund der religiösen Sozialisten
Deutschlands, Tillich-Kreis). Schließlich stellt er die „Katholischen
Sozialisten" und den „österreichischen religiösen Sozialismus" gesondert
vor.

Der zweite und umfänglichste Teil der Arbeit bringt die „theologische
Konzeption des späten Leonhard Ragaz" (87-204) so zur Sprache
, daß sich dessen theologisches Denken systematisch erschließt-
Aus diesem Ansatz der Ragazschen Theologie „erwachsen Handlungspräferenzen
, die auch für die präsentische Praxis Bedeutung
besitzen". (27)

Die Schwerpunkte in diesem Kapitel sind sowohl streng innertheologisch
als auch auf die soziale Gestaltung der Welt bezogen. Die
Klammer zwischen beiden bildet Ragaz' Bekenntnis zur Botschaft
vom Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit für die Erde. (98) Der
Begriff des Reiches Gottes, der Ragaz' ganzes theologisches Denken
entscheidend strukturiert, wird unter den Aspekten (Reich Gottes:
Gnade und Auftrag; Geschichte: Ort des Reiches Gottes; Bibel: Verheißung
des Reiches Gottes; Christus: Inkarnation des Reiches Gottes
; Eschatologie: Hoffnung auf das Reich Gottes) systematisch entlf
tet. Danach beschreibt Böhm Ragaz' Phänomenologie des Christentums
, ehe er sich den Gestaltungs- und Wirkungskräften des Sozialismus
(u. a. gewaltfreier Widerstand, Genossenschaftswesen und Staatsablehnung
) unter dem Doppelaspekt von Gericht und Verheißung zuwendet
.