Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1990

Spalte:

512-513

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Das Erzbistum Paderborn 1990

Rezensent:

Haendler, Gert

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

511

Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 7

512

Kirchengeschichte: Allgemeines

Thadden, Rudolf von: Weltliche Kirchengeschichte. Ausgewählte
Aufsätze. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989. 219 S. 8°.
Kart. DM 38,-.

Der Göttinger Ordinarius für Neuere Geschichte zählt zu den nicht
sehr zahlreichen Allgemeinhistorikern, die den Brückenschlag
zwischen Kirchengeschichts- und allgemeiner Geschichtsschreibung
gleichermaßen anbieten wie praktizieren. Die Kirchen unter Ausklammerung
gesellschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektiven
lediglich als Träger ihrer Botschaft zu behandeln, ist nicht angängig.
Eine Verkürzung der Kirchengcschichte zur bloßen Frömmigkeitsund
Theologiegeschichte wäre die Folge. Dezidiert geht es von
Thadden um das Gefüge von Kräften und Realitäten, die sich auf die
Kirchen auswirken und die sie mitgestalten. Daß Kirche neben ihrer
empirischen Vernetzung auch eine transempirische Größe darstellt,
ist dem Protestanten von Thadden geläufig. Insofern unterscheidet
sich sein Programm, Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschichte zu
schreiben, von jenen Zugriffen auf die Phänomene Religion und
Kirche, wie sie in Teilen der „Historischen Sozialwissenschaft" geübt
werden. Die Kirchengeschichte, so von Thadden, „verliert nichts von
ihrem Proprium, wenn deutlich gemacht wird, daß die in ihr wirkenden
Menschen an den Bewegungen und Konflikten der säkularen Gesellschaft
partizipieren, in Politik verstrickt sind und kulturellen Einflüssen
unterliegen" (8).

Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschichte zu begreifen, erscheint
aus dem Blickwinkel eines neuzeitlich-modernen Geschichtsverständnisses
, welches zwischen historia sacra und historia civilis
schon seit dem 18. Jh. keine methodologischen Mauern mehr aufrichtet
, als so selbstverständlich, daß die Darbietung des Selbstverständlichen
als Programm schon wieder erklärungsbedürftig wird. Die
Gründe für das methodische Credo des Autors sind vielschichtig. In
manchen Bereichen der Kirchengeschichtsschreibung hat sich die
Forderung breitgemacht, die theologisch-ekklesiölogischen Dimensionen
der kirchlichen Historiographie neu zu favorisieren. Derartige
Akzentuierungen fördern wiederum die Neigung mancher Allgemeinhistoriker
, die kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Aspekte der
neueren und neuesten Geschichte für marginal, wenn nicht gar für
irrelevant zu halten.

Auf der Ebene des Historischen heißt der die Kirchen und alle
anderen Lebensbereiche übergreifende Wirklichkeitsbegriff Welt.
Welt ist nicht mehr - wie noch in der frühen Neuzeit - bloß Kontrastbegriff
zu Kirche, sondern jener Raum, dem sich Kirche zuordnet,
ohne daß ihr metahistorisches datum dabei zur Disposition stehen
muß. „Weltliche Kirchengeschichte" ist auf diesem Hintergrund ein
wohlüberlegter Titel. Er eröffnet fast noch reizvollere methodologische
Horizonte, als es die Formulierung „Kirchengeschichte als
Gesellschaftsgeschichte" zu feisten vermag. Ein wenig inkonzinn
mutet es gegenüber der Leitformel „Weltliche Kirchengeschichte" an,
wenn von Thadden die allgemeine Geschichte, einem geläufigen
Sprachgebrauch folgend, als „Profangeschichte" firmiert (8. 19. u. ö.).
Der doch eigentlich zu überwindende Dualismus zwischen Kirchen-
und Allgemeingeschichte wird dadurch ungewollt noch einmal verfestigt
.

Über die in dem Band versammelten Aufsätze einzeln zu berichten,
ist nicht unbedingt notwendig. Es handelt sich um Reprisen früherer
Drucke. Die Fachwelt wird die meisten Aufsätze schon kennen:

..Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschichtc" (11-28); ..Wahrheit und
institutionelle Wirklichkeit der Geschichte" (29-49): ..Luther in PreuUcn"
(50-71); „Calvin und der Fortgang der Reformation im Reich" (72-89); „Die
Fortsetzung des .Reformationswerks' in Brandenhurg-PreuHen" (90-106);
„Die Hugenotten. Eine innovatorische Schubkraft in der Geschichte Branden-
hurg-Prcußens?" (107-116): „Schleiermacher in Preußen" (117-125); „Protestantismus
und Liberalismus zur Zeit des Hamhacher Festes 1832"
(126-145); „Bismarck - ein Lutheraner?" (146-16.1); „Protestantismus und
Demokratie hei Ernst Troeltsch" (164-182).

Zu dem Aufsatz „Protestantismus und Liberalismus zur Zeit des
Hambacher Festes 1832" soll gleichwohl eine Frage nicht unterdrückt
werden. Werden Protestantismus und politischer Liberalismus in den
1830er Jahren (bei aller anerkennenswerter Bemühung, alte Klischees
außer Kraft zu setzen!), nicht in ein allzu positives Verhältnis
zueinander gebracht? Das kirchlich-theologische Kräftefeld war
heterogener, als daß man im Anschluß an H. Rosenberg meinen
könnte, die Mehrzahl der protestantischen Theologen sei bis in die
1830er Jahre dem „theologischen Rationalismus" gefolgt (128). Wie
stichhaltig wäre dann noch Schleiermachers zeitgenössische Klage
über die „düsteren Larven" und „enggeschlossenen religiösen
Kreise"? (Zweites Sendschreiben an Dr. Lücke. In: Theologische
Studien und Kritiken Jg. 1829, Drittes Heft, 490): Ungeachtet des
Problems der Gewichtung der theologischen Kräfteverhältnisse zeigt
der Aufsatz an vielen erhellenden Beispielen die Interdependenzen
zwischen synodaler Kircnenreform- und konstitutioneller Bewegung
in den deutschen Territorien. Offen bleibt, inwieweit die angestammten
Synodaltraditionen Rheinlands und Westfalens in eine direkte
Beziehung zum konstitutionellen Geist der Zeit gebracht werden
können.

Von Thadden verfügt über die Gabe der prägnanten Formulierung
und der übersichtlichen Darstellung auch verwickelter Sachverhalte.
Zwischen Narratio und Strukturanalyse pendelnd hat der Autor seine
eigene historiographische Darstellungskultur ausgeprägt. Ein Nachweis
der ursprünglichen Druckorte ist dem Sammelband beigelugt.

Leipzig Kurt Nowak

Brandt, Hans Jürgen, u. Karl Hengst: Das Erzbistum Paderborn.

Geschichte - Personen - Dokumente. Paderborn: Bonifatius 1989.
302 S. m. zahlr. Abb., 8 Farbtaf. gr. 8'. Pp. DM 29,80.

Die Verfasser haben schon 2 Bände zur Geschichte des Erzbistums
Paderborn vorgelegt: Die Bischöfe und Erzbischöfe von Paderborn.
1984 (ThLZ 110, 1985, 5350- Die Weihbischöfe in Paderborn, 1986
(ThLZ 113, 1988, 400. Auch der jetzt vorgelegte Band ist vorzüglich
ausgestattet, das Bildmaterial greift mitunter über Paderborn hinaus.
Für den Historiker am wertvollsten sind 50 ausgewählte Quellen in
deutscher Sprache. Quelle Nr. 3 ist das Lied von der Sachsenbekehrung
(Carmen de conversione Saxonum), das man jetzt in das Jahr 777
datiert (168-170). Das Paderborncr Epos „Karolus Magnus et Leo
Papa" von 799 erscheint als Nr. 5 (173-177). Die Translatio
Liborii wird zweimal in Anspruch genommen (Nr. 6 und 8). In Auszügen
wird eine Marienvision aus dem 10. Jh. gebracht (183-187)-
Die Quellen 12 und 13 gelten dem Bischof Meinwerk, der 1009-1036
amtierte. Für Jahrhunderte ist von Fürstbischöfen die Rede (ab Quelle
Nr. 16).

Auf dem Konzil von Basel wehrte sich 1434 das Paderborner Domkapitel
gegen eine erneute Inkorporierung in das Erzbistum Köln
(Quelle 20). Die folgende Quelle berichtet, daß 1577 keine lutherischen
Prediger zu dulden seien (2070. Dietrich von Fürstenberg
wird in Quelle 22 als „Reformbischof', in Quelle 23 als „Fürstbischof
bezeichnet. Friedrich von Spees Protest gegen Hexenwahn
von 1631 wird auszugsweise gebracht (2180- Die Texte 25-27 gelten
Niels Stensen, der 1680-1683 Weihbischof auch in Paderborn war.
Die Besetzung durch Preußen bringt 1802 zunächst ein Ende des
Bistums, das jedoch 1821 in vergrößerter Form neu entsteht und

1930

zum Erzbistum erhoben wird (Quelle 30 und 31). Es folgen Dokumente
über die Gründung des Bonilätiusvereins 1^49 (Nr. 32). eine
Erlaubnis zum Tragen violetter Chorkleidung 1859 durch Papst Pius
IX. (Nr. 33) sowie aus dem Kulturkampf 1874 (Nr. 34). Quelle 39
bringt einen Protest gegen die Tötung sog. unwerten Lebens von 1941 ■
Mit Quelle 40 beginnt die Entwicklung nach 1945 mit der relativen
Verselbständigung Magdeburgs (Quelle 44 und 48). Register und
Nachweise beschließen den Band (277-302), der aufschlußreich ■