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Ausgabe:

1990

Spalte:

504-505

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Becker, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Kuhn, Peter, Offenbarungsstimmen im antiken Judentum 1990

Rezensent:

Vogler, Werner

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 7

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führt hier zu einer Art historisch-kritischer Anthologie, bei der sich
um so stärker die Frage stellt: warum eigentlich zu diesem Thema?

Kuhns Untersuchungen haben, wie er schreibt, „von selbst mindestens
ebenso zu einer Charakterisierung (der) verschiedenen Literaturen
wie zu einer Charakterisierung des Motivs in seiner wechselnden
Ausprägung" (S. 4) geführt. Die Fortschritte der judaistischen Forschung
seit den ersten Vorarbeiten des Verfassers im Jahre 1963 (Vorwort
) haben dazu sicherlich auch beigetragen. Die Wahl des Motivs
..Offenbarungsstimmen" war, wie nicht zuletzt der jetzige Untertitel
zu erkennen gibt („Untersuchungen zur Bat Qol und verwandten
Phänomenen"), ursprünglich von einem Interesse an den rabbi-
nischen Bat-Qol-Traditionen geleitet. Gerade die literarischen Probleme
, die mit der Auswertung rabbinischer Schriften verbunden
sind, werden aber bei Kuhn nicht umfassend genug berücksichtigt.
(Der recht isolierte Hinweis auf die Arbeiten J. Neusners und seiner
Schüler auf S. 272f bleibt unbefriedigend.) Daß sich die rabbinische
Literatur im Verlauf der Forschung mehr und mehr als besonders
widerspenstig gegen historische Fragestellungen erwiesen hat, spiegelt
sich zwar darin wider, daß Kuhn im Zusammenhang seiner Analysen
zu tSot 13 nur sehr vorsichtig und in der Zusammenfassung der Ergebnisse
des „rabbinischen" Teils gar nicht historisch argumentiert.
Trotzdem ist es ein wesentliches Defizit dieses Kapitels, daß es sich
kaum grundsätzlich mit den entsprechenden methodischen Problemen
auseinandersetzt. So bleibt vor allem die Frage nach der Beziehung
zwischen rabbinischen „Werken" und Einzeltraditionen sowie-
im Zusammenhang damit! - nach der literarischen Genese verschiedener
„Rezensionen" dieser Traditionen ungeklärt. Entsprechend
wird das untersuchte Totum „rabbinische Literatur" als selbstverständlich
vorausgesetzt. Ist das aber vertretbar, wenn bereits die Identität
dieser Literatur, ihre äußere („Schriften") und innere (Handschriften
) Abgrenzung zur Debatte steht?

Das Problem läßt sich noch von einer anderen Seite her beleuchten.
Kuhn ist sich bewußt, daß die Identität der im Titel genannten Größe
„antikes Judentum" problematisch ist. Das betrifft nicht so sehr den
Zeitraum (von Alexander bis zur „islamischen Invasion"), als vielmehr
die literarische Repräsentanz dieses Zeitraums. Wenn Kuhn den
„frühen Texten der Schrift" ein eigenes Kapitel widmet, dann überschreitet
er - aus einleuchtendem Grund - selber die von ihm gesetzten
Grenzen nach hinten. Wenn er sie nach vorne ausdrücklich nicht
überschreiten will und die Hekhalot-Literatur allein darum nicht
(oder nur marginal) berücksichtigt, weil „gefragt werden muß, ob
diese Texte überhaupt zum antiken und nicht vielmehr schon zum
mittelalterlichen Judentum zu rechnen sind" (S. 4, vgl. S. 332), so
stellt sich um so dringlicher tlie Frage, aufgrund welcher Kriterien
dann die rabbinische Literatur in noch antike und schon mittelalterliche
„Texte" zu trennen wäre. Bei Kuhn tritt aber an diesem Punkt
die historische Begrenzung („Antike") zugunsten der (fiktiven) literarischen
(„rabbinische Literatur") zurück (vgl. S. 255).

Wie notwendig grundlegende Studien zur Traditionsgeschichte rabbinischer
Schriften und zu ihrem Werkcharakter sind, wird an einer
Stelle (S. 297f) besonders deutlich, wenn Kuhn a) die Frage, ob der
babylonische Talmud ein „Sammelbecken von heterogenen Traditionen
auch einander widersprechende(r) Grundanschauungen" oder
aber ein ,,,Werk' im klassischen Sinne" ist, völlig offen erscheint,
wenn er sich dann b) für die letztere Auffassung entscheidet und dies
mit einer Harmonisierung zweier (auch nach seiner Meinung) heterogener
Bat-Qol-Traditionen des Bavli im traditionellen Stil etwa der
Tosafisten untermauert und wenn er c) dabei jeweils den textus
reeeptus zugrunde legt. Das Ergebnis lautet: „So führt die Analyse der
Funktion und der Aussage der b.q. in BM 59b und San 104b in die
Mitte des Selbstverständnisses der rabbinischen Glaubenswclt."
(S. 298, Hervorh. HJ. B)

Diese Passage ist keineswegs charakteristisch für das vorgestellte
Buch. Sie macht aber schlaglichtartig die Schwierigkeiten deutlich,
vor die eine motivgeschichtlichc Untersuchung der jüdischen Traditionsliteratur
heute gestellt ist. In dieser Beziehung ist Kuhns Arbeit

ein spätes Produkt ihrer Gattung. Mir scheint - ohne ihre genannten
Verdienste schmälern zu wollen -, sie will zum Teil da noch Erträge
bringen, wo die Probleme erst anfangen.

Berlin Hans-Jürgen Heeker

Neues Testament

Hofrichter, Peter: Im Anfang war der „Johannesprolog". Das urchristliche
Logosbekenntnis - die Basis neuteslamcntlicher und
gnostischcr Theologie. Regensburg: Pustel 1986, IV, 481 S. 8' =
Biblische Untersuchungen, 17. Kart. DM 48,-.

Bereits Titel und Untertitel dieser Grazer Habilitationsschrift zeigen
deren wichtigste These an: Der Johannesprolog - kein Hymnus,
sondern ein Bekenntnis - ist das älteste literarische Zeugnis der
Kirche. Es bildet die Grundlage eines großen Teils der neutestament-
lichen wie der gesamten gnostischen Lehrentwicklung.

Bevor Vf. diese These begründet, nimmt er eine „Rekonstruktion
des Logosbekenntnisses" (39-82) vor. Hiernach bestand es zunächst
aus drei Abschnitten: 1. VV 1-5 (Thema: das Wort Gottes), 2. VV
6a-b, 7b-c, 9-12 (Thema: das Auftreten Jesu), 3. VV 13, 14a.e-d, 18
(Thema: die „göttliche Identität" Jesu). An dieser „Rekonstruktion"
ist am auffälligsten: V 6a hat sich ursprünglich auf Jesus bezogen. Erst
ein „InterpoIator"der kirchlichen Redaktion fixierte ihn - vermutlich
aus Gründen der „Resynoptisierung des Johannesevangeliums" (80)-
aufden Täufer. An diesen „Interpolator" gehen auch die VV 6c-7a. 8
und 15 zurück, während die VV I4b.e, 16 und 17 „eine ältere ,deu-
teropaulinische' Erweiterung syrisch-klcinasiatischcn Charakters"
(67) darstellen. Der rekonstruierte Text stellt neben Semeiaquelle und
Passionsbericht eine der drei Quellen des 4. Evangeliums dar, die dessen
Autor schon in einer Grundsehrift vorlagen.

Im Anschluß daran eruiert H. die .johanncische und frühchristliche
Rezeption" des Logostextes (83-143). Durch zahlreiche terminologische
Vergleiche kommt er zu dem Ergebnis: Das Johanncsevan-
gelium stellt einen „fortgesetzten und vermutlich auch mehrfach revidierten
Kommentar" (83) zu dem Logosbekenntnis dar. Diese „Be-
zogenheit" auf den Bekenntnistext gilt für „alle Schichten" der Bearbeitung
(104). Dabei wird dieser Text durchweg gegen seine „Eigenaussage
" interpretiert: Der Logos ist nicht Jesus, sondern das von ihm
gesprochene Wort (Gottes). Diese „Ablehnung der Logoschristologie"
stellt H. dann - bei Anwendung der gleichen Methode - auch lür das
übrige Corpus Johanneum sowie für Texte der „nachneutestament-
lichcn Kirche" fest.

Im nächsten Abschnitt wendet Vf. sich der „gnostischen Rezeption
" des Logosbekenntnisses (145-237) zu. Hierbei stellt er -
wiederum durch Textvergleiche - fest: Schon die ältesten Zeugnisse
der Gnosis gehen auf eine paraphrasierende Exegese des Logosbekenntnisses
zurück. Der verbreiteten Anschauung, daß die Gnosis
vorchristlichen Ursprungs sei, stellt H. am Ende dieses Kapitels die
These entgegen: Die Gnosis ist erst „eine auf der Grundlage dieses
normativen Textes und der platonischen Philosophie völlig rational,
ja rationalistisch konstruierte Dogmatik" (236).

Den bisherigen Erkenntnissen ordnet sich die „Rezeption" des
Logostextes „im vorjohanneischen Neuen Testament" (239 bis 307)
zu. Das gilt besonders für den Markusprolog (der eine „bewußte Ab-
sage gegenüber allen subordinatianischen Präexistenzspekulationen
darstellt: 253), die Kindhcitsgeschichtcn des Matthäus und Lukas (die
als „Midraschim" zum Bekenntnistext zu verstehen sind) sowie für
Paulus, der vor allem in den Ausführungen über Gesetz und Gnade
auf diesem Text fußt. Diese (und alle weiteren neutestamentlichen)
Interpretationen des Logostextes zeichnen sich (ebenfalls) ausnahmslos
durch eine „Entchristologisicrung" des Begriffs „Logos" zugunsten
von dessen Verständnis als Wort Jesu bzw. Wort Gottes aus.

Im letzten Abschnitt - „Vorneutestamentliche Interpretation und
Ursprung des Logosbekenntnisses" (309-363) - entwickelt H. die