Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1990

Spalte:

472-473

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Titel/Untertitel:

Werkbuch Theologie der Befreiung 1990

Rezensent:

Althausen, Johannes

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

471

Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 6

472

,Evangelikaien' mit der Gründung der National Association of Evan-
gelicals. Persönlichkeiten wie J. E. Wright, H. Ockenga, C. Henry und
(später) Billy Graham vertraten zwar die theologischen Grundanliegen
des Fundamentalismus, setzten sich jedoch für Infiltration (der
bestehenden Institutionen und Kirchen) statt Separation ein. Seither
ist die evangelikale Bewegung breiter und zugleich unterschiedlicher
geworden.

Von besonderem Interesse für den deutschen Leser ist die kenntnisreiche
Darstellung der Entwicklung der Evangelikaien außerhalb der
U.S.A. mit besonderer Berücksichtigung Europas (107-122). Ellingsen
stellt dabei die These auf. daß gerade im deutschsprachigen Raum
die evangelikale Bewegung kein amerikanischer Importartikel ist.
Während in den U.S.A. die Evangelikaien aus dem Fundamentalismus
hervorgingen, ist die Herkunft der deutschen Evangelikaien
gekennzeichnet durch Pietismus, Neupietismus (Erweckungs- und
Gemeinschaftsbewegung), Heiligungs- und Freikirchliche Restitutionsbewegung
, Neuluthertum und Evangelische Allianz.

Im zweiten Teil seines Buches (135-200) stellt Ellingsen im
Überblick die wichtigsten Kirchen, Ausbildungsstätten, freien Werke.
Missionsgesellschaftcn und übergreifenden Bewegungen (Weltweite
Evangelische Allianz, Lausanner Bewegung) dar, die sich selbst als
evangelikal bezeichnen. Der Schwerpunkt ruht in diesem Abschnitt
auf der amerikanischen Situation. Und es kann nicht ausbleiben, daß
gerade hier die Aufzählung lückenhaft gerät.

In Teil III (201-300) analysiert der Vf. die theologischen Grund-
Positionen der Evangelikaien. Dabei unterscheidet er zwei Grundbetonungen
und sieben theologische Charakteristica. Die Grundbetonungen
der Bewegung sieht er in der pessimistischen Schau des
Zustands von Gesellschaft und Kirche und in der dagegen zu
setzenden Ordnung und Moral, die durch die Betonung der Autorität
der Bibel und des geistlich erneuerten Lebens verwirklicht werden
sollen. Aus dieser Grundsicht folgen die charakteristischen Positionen
evangelikaler Theologie: I) die kritische Sicht des Katholizismus und
der ökumenischen Bewegung; 2) eine mehr oder weniger ausgeprägte
Betonung der Ganzinspiration und Irrtumslosigkeit der Heiligen
Schrift; 3) die Verbindlichkeit der Bibel für die christliche Lebensführung
; 4) ein überwiegendes Interesse an der Frage, wie man Christ
wird und als Christ lebt (Bekehrung, Heiligung) gegenüber Themen
wie Sakrament, Amt und kirchliche Strukturen; 5) ein Betonen von
Evangelisation und Mission; 6) Eintreten für eine Ordnungsethik statt
einer Situationsethik; und 7) Zurückhaltung im Blick auf Verbindungen
mit Kirchen oder Personen, die die genannten Positionen nicht
teilen. Als mögliche zusätzliche Charakteristica sieht Ellingsen noch
die Erwartung der baldigen sichtbaren Wiederkunft Christi und die
Betonung der Notwendigkeit einer persönlichen Annahme des Versöhnungswerkes
Christi durch den einzelnen (296). Die Diskussion
dieser Punkte ist differenziert und trägt den Nuancen Rechnung, die
sich angesichts der Unterschiedlichkeit der Evangelikaien ergeben.
Daß es sich bei den genannten Punkten insgesamt aber um evangeli-
kales Gemeingut handelt, wird allerdings überzeugend nachgewiesen.

Für jeden, der eine gründliche und auch faire Einführung in
Geschichte, Erscheinungsbild und Theologie der internationalen
evangelikalen Bewegung sucht, sind die drei ersten Teile von Ellingsens
Buch mit ihrer reichhaltigen Dokumentation und den exakten
Literaturbelegen die geeignete Information. Es gibt bisher nichts
Entsprechendes in deutscher Sprache. Der letzte Teil des Buches
(301-395) möchte Grund legen für einen künftigen Dialog zwischen
den traditionellen Kirchen (reformierter, anglikanischer, katholischer
und vor allem lutherischer Konfession) und den Evangelikalen. Vor
allem die lutherischen Bekenntnisschriften und die Schriften Luthers
werde:! daraufhin untersucht, inwieweit ihre Aussagen vereinbar sind
mit evangelikalen Lehrüberzeugungen und inwieweit sie eine hilfreiche
Korrektur bieten könnten angesichts der Gefahr evangelikaler
Vereinseitigung. Umgekehrt wird aber auch gefragt, inwiefern Theologie
und Praxis der evangelikalen Bewegung eine Befruchtung für die
traditionellen Kirchen darstellen könnten und inwieweit hier vielleicht
Anliegen der Reformation erhalten sind, die in den heutigen
Kirchen in Vergessenheit zu geraten drohen. Die Anfragen Ellingsens
sind in positiver Weise provozierend. Der Dialog der traditionellen
Kirchen mit den Evangelikalen hat von daher seine Eigenart, daß
diese keine abgegrenzte Denomination bilden. Die meisten Evangelikalen
gehören ihrerseits ja zu den traditionellen Kirchen und Freikirchen
und haben auf der Basis ihrergemeinsamen Überzeugung eine
konfessionsübergreifende, geistliche (und teilweise auch organisatorische
) Verbindung. Angesichts der biblizistischen Prämissen der
Evangelikalen ist allerdings zu vermuten, daß der Dialog bei ihnen
nur dann etwas bewegen kann, wenn es gelingt, sie von der Heiligen
Schrift herzu überzeugen.

Ellingsens Buch schließt mit einem ausführlichen Fußnotenanteil
und übersichtlichen Registern. Der Leser legt das Buch aus der Hand
mit dem Empfinden, daß es dem Vf. gelungen ist, seinem Gegenüber
gerecht zu werden, ohne den Standpunkt in der eigenen Tradition zu
verleugnen.

Gießen Helge SUnlelmann

Hoff, Leonardo. Kern, Bruno, u. Andreas Müller [Hg.]; Werkbuch
Theologie der Befreiung. Anliegen - Streitpunkte - Personen.
Materialien und Texte. Düsseldorf: Patmos 1988. 192 S. m. Abb.
gr. 8' Kart. DM 28.-.

Je umfangreicher die Materialien, desto größer der Bedarf. Übersichten
und Einführungen zu erstellen. Das Werkbuch haben Beteiligte
und Sachkenner verläßt. Sie wollen denen, die nicht das Ganze
studieren können, das Wichtigste über die Theologie der Befreiung
mitteilen. Sie tun es nicht vom grünen Tisch her. Im Hintergrund
stehen lebendige Erfahrungen und retlektierte Diskussionen. In eil
Kapiteln werden die wichtigsten Anliegen und Streitpunkte behandelt
. Jedes Kapitel bietet A Informationen. B Übungen, C Vorschlägt'
lür Unterricht und Gruppenarbeit und D Literaturhinweise. Ein
Glossar gibt in 46 Worterklärungen die Möglichkeit, sich über wichtige
bekannte und weniger bekannte Stichworte kundig zu machen.
Von 16 Theologen werden Kurzbiographien geliefert. Die Autoren
fügen hier jewc;is eine kurze Schilderung des Beitrages für die Theologie
der Befreiung sowie eine charakteristische Leseprobe an. Saeh-
und Personenregister sind ein zusätzlicher Schlüssel für die Benutzung
des Buches.

Die Texte sind last ausschließlich der Literatur entnommen. Selbst
die jedes Kapitel einleitenden Informationen bestehen weithin aus
Zitaten. Wir können uns deshalb darauf beschränken, Anmerkungen
zur Anlage des Werkbuches zu machen.

Das Buch will von der Praxis in die Praxis führen. Das heißt, es
möchte nicht so sehr Theorie vermitteln, aber um so mehr zum Handeln
motivieren. Auf jeden Fall ist deutlich spürbar, daß der Leser genötigt
wird, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie er sich angesichts
der himmelschreienden Armut auf der südliehen Halbkugel-
angesichts der Schuldcnkrise in der Weltwirtschaft und angesichts der
Nord-Süd-Probleme verhalten soll. Die Texte liefern viele Informationen
über Armut in der dritten Welt und über die Depcndenztheo-
rie. An beißender Kapitalismus-Kritik fehlt es nicht. Dabei werden
die Anregungen des Werkbuches sicher erst richtig wirksam, wenn
man sich nicht mit den hier gelieferten Informationen begnügt, sondern
auch die Anregungen aufgreift, die in den Vorschlägen (C) und
Literaturangaben (D) mitgeliefert werden. Im Vergleich zu der Einführung
der Gebrüder Baff ..Wie treibt man Theologie der Befreiung
?" (vgl. die Behandlung in Thl.Z 113. 1988, 641-660) wird den
ökonomischen, sozialpolitischen und weltpolitischen Fragen im
Werkbuch wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Man w ill Bewußtsein
schaffen, nicht eine Theologie verteidigen. Trotzdem: Anlaß
zur Erstellung des Werkbuches war auch die Aulbereitung der
Materialien für Nicht-Eingeweihte und sogar eine Standortbestim*