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Ausgabe: | 1990 |
Spalte: | 367-369 |
Kategorie: | Philosophie, Religionsphilosophie |
Autor/Hrsg.: | Kerr, Fergus |
Titel/Untertitel: | Theology after Wittgenstein 1990 |
Rezensent: | Flach, Wilfried |
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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 5
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Philosophie, Religionsphilosophie
Kerr, Fergus: Theology after Wittgenstein. Oxford: Blackwell 1986.
XII, 202 S.gr. 8*. geb. £22.50.
In Großbritannien und in den USA gilt eigentlich D. Z. Phillips als
maßgebende Autorität auf dem Gebiet der sprachanalytischen Religionsphilosophie
Wittgensteinscher Provenienz. Um so überraschender
ist es, daß Vf., ein Dominikaner aus Edinburgh, ehemaliger
Herausgeber der Zeitschrift "New Blackfriars", ein gelehrter Theologe
und Philosoph, nun ein einführendes Buch für Theologiestudenten
und andere Interessenten vorlegt, das neue Akzente setzt, um die
zweifellos hohe Bedeutung Ludwig Wittgensteins für das moderne
theologische Denken zu erhellen.
Zuerst stellt Vf. fest, daß die gängigen Vorstellungen vom Ich in der
heutigen Theologie noch weitgehend von Descartes beeinflußt sind.
Bei K. Rahner und H. Küng läßt sich das mühelos nachweisen.
E. Jüngel beklagt zwar diesen Einfluß, ist aber außerstande, ihn wirklich
zu überwinden. Das Ich wird hier noch völlig als eine nichtmaterielle
Substanz gedacht, zu der nur das je einzelne Individium durch
einsame Introspektion einen direkten Zugang hat. Dieser Zugang bedarf
nicht der sprachlichen Erschließung, ist unabhängig von körperlichen
Reaktionen, kann von gesellschaftlichen und historischen Bedingungen
absehen. Wir haben es mit der Theorie eines „reinen Ichs"
zu tun, das G. Ryle in seinem berühmten Buch „Der Begriff des
Geistes" als „Gespenst in einer Maschine" karikiert hat.
In diesem Ich vollziehen sich geistig-seelische Prozesse, die völlig
privater Natur sind. Nur wenn das Ich sich entschließt, sie einem
andern durch sprachliche Zeichen und körperliches Verhalten mitzuteilen
, kann dieser sie erkennen. Dieses Erkennen vollzieht sich durch
Analogieschluß. Da der andere vom „eigenen Fall" weiß, daß seine
geistig-seelischen Prozesse mit ebendenselben körperlichen Reaktionen
verbunden sind, kann er über diese ei nen mittelbaren Zugang zum
Bewußtsein des anderen bekommen.
Dieses so verstandene Ich hat nun nicht nur einen völlig privaten
Zugang zu sich selbst, sondern auch zur Realität. Es ist wesenhaft
reine Offenheit für das Sein als solches, für die Fülle der Wirklichkeit
und schließlich auch fürGotl (p. 12f).
Vf. verwendet nun die Philosphie des späten Wittgenstein, um diese
Theorie des reinen Ichs gründlich zu kritisieren und sie durch eine
Theorie fundamentaler gemeinsamer Reaktionsweisen innerhalb
einer Lebensform zu ersetzen. Zuerst wird festgestellt, daß das Ich nur
durch die Sprache seiner selbst bewußt wird. Die Sprache ist aber nie
ein privates Verständigungsmittel, sondern stets ein durch öffentliche
Regeln konstituiertes Kommunikationsmittel. Diese öffentlichen
Regeln haben ihre letzte Grundlage in einem in ganz bestimmter
Weise geregelten und strukturierten körperlichen und sozialen Verhalten
der Mitglieder einer historisch gewachsenen Sprachgemeinschaft
: "The 'foundations' upon which 1 exist as a self-conscious and
autonomous being are the innumerable practices that collectively
establish the tradition which is my native element" (p. 74).
Diese Sicht der Dinge wird durch eine Vielzahl subtiler Beobachtungen
unseres Sprachgebrauchs gewonnen. Vf. zitiert u. a. die
Stellen, in denen Wittgenstein die Verwendungsweisen von Schmerzausdrücken
untersucht. Er kommt zu dem Schluß, daß Schmerzausdrücke
niemals unmittelbar Schmerzempfindungen benennen,
sondern sich in ganz bestimmten Situationen auf ganz bestimmtes
körperliches Schmerzverhalten beziehen. Dieses körperliche
Schmerzverhalten ist freilich der direkte Ausdruck der jeweiligen
Schmerzempfindung. Dies ist dann auch der eigentliche Grund,
warum man kleinen Kindern beibringen kann, ihre subjektiven
Empfindungen zu identifizieren. Von sich heraus kann das kein Ich.
Ohne die am öffentlichen Schmerzverhalten orientierte gemeinschaftliche
Sprache wäre es für den einzelnen unmöglich, sich seiner
Empfindung bewußt zu werden.
Nach Kommentierung vieler anderer Wittgensteinzitatc. die alle
das zentrale Anliegen des Vf. unterstützen, und nach einer intensiven
Idealismus-Realismus-Debatte, wendet sich Kerr der Frage zu, wie
nach Wittgenstein eine Theorie aussehen müßte, die die Theorie des
reinen Ichs zugunsten einer Theorie fundamentaler gemeinsamer
Reaktionsweisen innerhalb einer Lebensform aufgibt. In der Beantwortung
dieser Fragestellung stützt sich Vf. vor allem auf Bemerkungen
, die Wittgenstein über das in England sehr einflußreiche Buch von
J. G. Frazer "The Golden Bough" (1. Auflage 1890) machte. Hier
suggeriert Wittgenstein, daß auch das religiöse Bewußtsein nicht in
freien Bewußtseinsakten eines „reinen Ichs" wurzelt, sondern vielmehr
in uralten, vor jeder Reflexion liegenden instinktiven Ritualen
und Handlungsweisen seinen Grund hat. Als Beispiel wird immer
wieder die schreckliche Opferung des Priesterkönigs im heiligen Hain
zu Nemi angeführt. Es zeigt sozialpsychologische Faktoren, die bis auf
den heutigen Tag wirksam sind.
Gegenüber diesen Ritualen und Handlungsweisen ist rationales
Argumentieren'für eine oder gegen die Existenz Gottes zweitrangig-
Der Gottesglaube hat vielmehr in solchen instinktiven Reaktionsweisen
seine Wurzel. "Religions are an expression of human natur
long before they give rise to reflexions about the divine" (p. 162).
Der gelebte Glaube, der solch einen Hintergrund hat, ist dann folgerichtig
nicht ein höchst privater, innerer Bewußtseinsprozeß, sondern
ein öffentlich sichtbares Verhalten. Wittgenstein sagt, Luther zitierend
, pointiert: „Der Glaube ist unter der linken Brustzitze" (Philosophische
Untersuchungen 589).
Von hieraus wird verständlich, daß Wittgenstein. K. Barth aufgreifend
, den Sinn religiöser Wörter in ihrem tatsächlichen Gebrauch
in der öffentlichen Lebenspraxis sieht (p. 152). Die Beschreibung
dieser Regeln wird als Grammatik bezeichnet. So wird plausibel, daß
der große Sprachphilosoph in abermaliger Anlehnung an Luther die
spezielle Theologie als „Grammatik des Wortes .Gott*" versteht
(p. 146).
Der Wittgensteinsche Denkansatz ist nun nicht nur für den
Themenbereich der sogenannten Fundamentaltheologie fruchtbar,
sondern auch für die Moraltheologie, die Eschatologie, die Christolo-
gie, die Soteriologie und andere theologische Gebiete. Gerade die von
Wittgenstein inaugurierte sprachanalytische Durchdringung des
schrecklichen Brauchs der Opferung des Priesterkönigs im heiligen
Hain zu Nemi wirft ein bezeichnendes Licht auf die Erlösungslehre:
Offenbar hat es jede menschliche Gruppe um ihrer Stabilität willen
nötig, von Zeit zu Zeit ein willkürlich gewähltes Gemeinschaftsmit-
glied auszustoßen. Dieses Ereignis stellt den bedrohten inneren
Frieden wieder her: ja, nach einer geraumer Zeit kann das Opfer sogar
als Retter rehabilitiert werden. Dieses uralte instinktive menschliche
Verhalten ist der Hintergrund, auf dem das Versöhnungshandeln Jesu
durch seinen freiwilligen Opfertod erst richtig verständlich wird. (Vgl-
auch R. Schwager: „Brauchen wir einen Sündenbock?", München:
Kösel 1978).
Es ist hier nicht der Platz, alle Probleme, die Vf. diskutiert, anzurühren
. Auf jeden Fall ist es ihm in hervorragender Weise gelungen, an
Hand von vielen, sorgfältig zusammengetragenen Wittgensteinzitaten
die Bedeutung dieses großen Philosophen für die heutige theologische
Arbeit deutlich gemacht zu haben. Es liegt natürlich in der
Natur seines gesetzten Akzents und an der Vielzahl der relevanten
Wittgensteinschen Äußerungen, daß er keine abschließenden Antworten
geben konnte noch wollte. So sind z. B. entscheidende Stellen
aus "Culture and Value" (Oxford: Basil Blackwell 1980), vor allem
p. 33 und 46, unerwähnt geblieben. Selbständiges Weiterlcscn in
Primär- und Sekundärliteratur bleibt dem wirklich Interessierten
keineswegs erspart.
Das Hauptanliegen des Buches, das in der radikalen Kritik der
Theorie des reinen Ichs in Philosophie und Theologie besteht, is'
zweifellos gut begründet. Ihrer Ersetzung durch eine Theorie fundamentaler
gemeinsamer Reaktionsweisen innerhalb einer Lebensform
ist nicht Grundsätzliches entgegenzusetzen. Doch ist m. E. damit das