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Ausgabe:

1990

Spalte:

360-361

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Seidel, J. Jürgen

Titel/Untertitel:

"Neubeginn" in der Kirche? 1990

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 1 15. Jahrgang 1990 Nr. 5

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deutsche Kirchenhistoriker im 19. Jh. gegeben haben dürfte als Döl-
linger). Döllinger, 1822 zum Priester geweiht, 1823 Kirchenge-
schichtler und Kirchenrcchtler in Aschaffenburg, wird nach seiner Berufung
1826 an die neue bayrische ,,Landesuniversität'* München
bald ein wesentlicher Mitarbeiter an der katholischen Publizistik, Pionier
des Bonifatiusvereins, Kirchenpolitiker, dessen Anliegen es werden
sollte, die Wahrheit des katholischen Glaubens aus den Quellen
zu begründen. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen kommt
wohl der dreibändigen Reformationsgeschichte besondere Bedeutung
zu. Zunehmend erwies er sich der Stärkung der päpstlichen Zentralgc-
walt gegenüber als kritisch, distanzierte sich stillschweigend vom
neuen Mariendogma (1854) und - offen - vom Syllabus 1864, stand
dem Kampf um die Beibehaltung des Kirchenstaates kritisch gegenüber
, geriet schon dadurch in Rom in Mißkredit: Sein vehementer
Kampf (und welcher historisch informierte katholische Theologe
hätte sich seinen Argumenten entziehen können) gegen das Infallibili-
tätsdogma führte zur namentlichen Exkommunikation des Reichsrates
, Präsidenten der Bayrischen Akademie der Wissenschaften und
des Stiftungspropstes der Hofkirche, der 1872 auch Rektor der Universität
München war. Sich „aus Überzeugung" zu den Altkatholiken
rechnend, starb Döllinger 1890 in ungebrochenem Vertrauen auf
seine Bundesgenossen, „die Wahrheit und die Zeit". Um 1874/75
kreiste sein Denken und Mühen um eine „Wiedervereinigung" der
orthodoxen, evangelischen, anglikanischen und altkatholischcn
Kirchen. Seine Haltung wertet der Vf. so:

"One can not point to any moment in his life in which hc directly encoura-
ged schism or heresy. Hc considered his slancc a 'protest' againsl something Iiis
conscience could not aeeept: a papal infallibility which was exercised indepe-
dently of any communion with the faithful oran infallibility ofthe Church. The
Poc's papalist bchaviour made it difficult Ibr him to submit to the decree. and hc
refused to aeeept something which he could not stand behind in honesty.*'
(XXIII)

Döllingers Gesprächspartner war Alfred Plummer (1841-1926),
der Sohn eines anglikanischen Geistlichen, in Oxford ausgebildet,
Fellow am Trinity College (wo er 1867/1874 als Dekan wirkte), 1874
bis 1902 Dozent am University College, Durham. 1866 hatte er die
Weihe zum Diakon erhalten, die Priesterweihe aber nicht angestrebt.
Seine Interessen galten primär der Exegese, der Alten Kirche und zumal
der englischen Kirchengeschichtc. Viele seiner Büchergingen aus
Vorlesungsreihen hervor (etwa "English Church History" aus einem
1904-1906 gehaltenen Vorlesungszyklus). Plummer legte großen
Wert auf die Identität der anglikanischen Kirche vor und nach der Reformation
. In seiner Wertschätzung für die (echte oder vermeintliche)
Kontinuität traf er sich mit Döllinger, dessen Werke er übersetzen
wollte. Das war einer der Gründe, die ihn bewogen, zu Döllinger nach
München zu reisen: Zwischen 1871 und 1876 übersetzte er etwa Döllingers
„Papstfabeln", „Der Weissagungsglaubc und das Propheten-
tum in der christlichen Zeit" und „Hippolytus und Callistus" ins Englische
.

Die Gespräche zwischen Döllinger und Plummer geben, in überzeugender
Weise ediert, ein wenig die Diskrepanz wieder, die
zwischen einem relativ jungen Anglikaner und einem dcsillusionier-
ten Theologen Kontincntalcuropas herrschte. Plummers Gespräche
wurden durch bestimmte Schwerpunkte gekennzeichnet - etwa durch
Attacken gegen den österreichischen Finanzminister Karl v. Stre-
mayer, sind aber immer durch ein fast naives Staunen darüber bestimmt
, daß in Kontinenlaleuropa alles so „abendländisch" sei, daß
man etwa, wie Döllinger (I 7.7.1873) erklärte, zwei Selbstmorde in der
Woche nicht für ungewöhnlich halte (89). Köstlich ist etwa die Passage
des Streitgespräches, ob es in Linz Jesuiten gebe oder nicht, ob
Linz ein Erzbistum oder ein Bistum sei. Döllinger erklärt, aus dem
Bistum P.assau seien drei Bistümer „herausgeschnitten" worden,
"Vienna, S. Pellau, and Linz . . . S. Pcllau is one ofthe numerous cor-
ruptions of S. Hyppolytus" (95). Hier und an anderen Stellen wäre
eine Korrektur der Hör- und Schreibfehler Plummers wichtig. Der
Rez. zweifelt, ob jeder nicht-deutschsprachige Leser stillschweigend

S. Pellau mit St. Pölten (der neuen Landeshauptstadt Nicderöster-
rcichs) identifizieren wird.

Besondere Bedeutung kommt den Berichten über die Reunionsvcr-
suche 1874 (9911) zu: Es zeigt, wie schwierig diese „protoökumeni-
schen" Bemühungen waren, welche Hemmnisse einer Union
zwischen Orthodoxen, Anglikanern, Altkatholiken und Protestanten
im Wege standen. (Vieles ist auch im Lichte der Lima-Papiere kaum
besser geworden.) Sehr auffällig ist die an vielen Stellen aufscheinende
Animosität beider Gesprächspartner gegenüber der Societas Jesu, die
noch größer war als unter vielen gebildeten Protestanten und Katholiken
in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Sehr prononciert erklärte etwa
Döllinger auf die Frage, wie er den jansenistischen, d. h. häretischen,
Erzbischof von Utrecht empfangen könne: Auf eine solche Frage
könne er nur antworten, er stimme mit Papst Benedikt XIV. in der
Überzeugung übercin, die sog. jansenistische Häresie sei "a piece of
humbug got up by the Jesuits to suit their own purposes"(57). Informativ
sind auch die Berichte über Döllingers Tod, etwa der Brief der
Nichte Johanna Döllinger (30. 1. 1890) (229f). Ein Appendix (Briefe
und Erklärungen Döllingers über die vatikanischen Dekrete
1869-1887), ein umfangreicher Anmerkungsteil und ausführliche In-
diecs erleichtern die Verwertung dieser wertvollen Dokumentation,
die nicht nur für den Döllinger-Forscher unentbehrlich sein wird, sondern
auch für jeden, der an der Geistes- und Kirchengeschichtc der
zweiten Hälfte des 19. Jh. interessiert ist, eine interessante Lektüre
darstellt.

Wien Peter F. Barion

Seidel, J. Jürgen: ,,Neubej>inn" in der Kirche? Die evangelische
Landes- und Provinzialkirchen in der SBZ/DDR im gesellschaftlichen
Kontext der Nachkriegszeit (1945-1953). Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1989.439 S. gr. 8°. geb. DM 92,-.

Die evangelische Zeitgeschichtsschreibung hat sich seit mehreren
Jahren stärkerauch der Entwicklung nach dem Zweiten Wellkrieg zugewandt
. So hat auch der aus der DDR stammende Autor, evangelischer
Pfarrer in der Schweiz, schon Beiträge zur Kirchengeschichtc
der sowjetischen Besatzungszonc vorgelegt, die vorwiegend in
„Kirche im Sozialismus" erschienen sind. Obwohl hiesige Archive
ihm nicht direkt zugänglich waren, konnte er unter gezielter Benutzung
des Evangelischen Zentralarchivs in Bcrlin-Charlottenburg
(neben anderen westdeutschen Archiven) eine bemerkenswerte zeithistorische
Arbeit vorlegen. Viele Vorgänge sind dort auch aus den
Landeskirchen der Ostzone im Duplikat präsent. Im Vorwort wird
vermerkt: Die hier gedruckte Fassung bilde den I.Tcil einer umfassenderen
Darstellung: „Die Evangelischen Landes- und Provinzialkirchen
in der SBZ/DDR 1945 bis 1953". Vf. hat mit diesem Projekt
auch an derthcol. Fakultät Zürich promoviert.

Innerhalb der DDR ist ein Arbeitskreis des Kirchenbundes mit
Sichtung und Sammlung einschlägigen kirchlichen Materials befaßt.
In der von Martin Onnasch in Naumburg (Saale) geleiteten Arbeitsstelle
soll aus den Protokollen der Ostkirchenkonferenz (seit
September 1945) eine dokumcnlativ orientierte Darstellung erscheinen
, die die Probleme des volkskirchlichcn Neuaulbaus in der Ostzone
(1945-1949) über das bei Seidel Gebotene hinaus möglicherweise
noch verdichten und ergänzen wird. Hinzuweisen ist noch auf
den kurzen Beitrag von M. Onnasch über „Die Situation der Kirchen
in der sowjetischen Besatzungszonc 1945-1949" (Kirchliche Zeitgeschichte
2. 1989, 210-220). Auf den Aufsatz des Rez. ist Bezug
genommen (K. Meier: Der volkskirchliche Neuaulbau in der sowjetischen
Besatzungszonc. In: Conzemius, Victor u.a. [Hg.]: Die Zeit
nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, Göttingen 1988.
S. 213-234).

J. Seidel gelingt es, im Darstellungsteil (S. I 7-206) einen konkreten
Aufriß der gesellschaftspolitischen Verhältnisse in der sowjetischen
Zone wie auch der Kirchenpolitik der Sowjetischen Militäradministration
(SMAD) zu geben, wobei er sich aufgedrucktes Material