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Ausgabe:

1990

Spalte:

284-286

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Pietismus und Neuzeit 1990

Rezensent:

Sommer, Wolfgang

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283

Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 4

284

aus dem Umkreis Melanchthons zu (351-375). Es fehlt die Angabe
der Druckvorlage. - Die wenig befriedigende Edition von WA Br
durch Otto Clemen dokumentiert Martin Brecht mit Beobachtungen
zu „Datierung, Textgrundlage und Interpretation einiger Briefe Luthers
von 1517-1522" (377-391). - Hervorgehoben zu werden verdient
Gerhard Hammers umfangreicher Beitrag „Der Streit um Bucer
in Antwerpen. Ein rätselvoller Textfund und ein unbekannter Lutherbrief
" (393-454). Durch ein neu bekannt gewordenes Exemplar der
Bucerschen Übersetzung von Bugenhagens Psalmenkommentar in
der niederländischen Ausgabe von 1526, dem ein protestierender Anhang
beigegeben ist, kann Hammer nachweisen, daß es I 526 noch
eine vor allem im verborgenen agierende Gemeinde von Lutheranhängern
in Antwerpen gab. Die Lutheranhänger warfen Bucer zu
Recht vor, in Bugenhagens Abendmahlslehre seine eigene oberdeutsche
Auffassung eingetragen zu haben. Hammer verbindet die Antwerpener
Auseinandersetzung um die Abendmahlsichre mit der Person
des Campanus, der damals zu Wittenberg in engem Kontakt
stand. Hammers Einzelergebnisse, aber auch seine Skizze der Reformation
in Antwerpen (vgl. z. B. 422 die allzu pauschalen Bemerkungen
zu den spätmittelalterlichen Einflüssen) bedürfen noch der Diskussion
, vermitteln aber bereits jetzt der Forschung wichtige Anregungen
(Abendmahlsstreit, Rolle der Übersetzungen, Wittenberg
und Antwerpen, reformatorische Bewegung in den Niederlanden,
Apokalyptik). - Schließlich macht Markus Jenny die Lutherforschung
im letzten Beitrag mit dem verblüffenden Tatbestand vertraut,
daß Luthers „Christliche Geseng, Lateinisch und Deutsch, zum
Begrebnis", Wittenberg 1542, sieben lateinische Gesänge nach biblischen
Texten enthält, die zwar bibliographisch bekannt, aber bisher in
textlicher und musikalischer Hinsicht unbeachtet geblieben sind
(455-474: Sieben biblische Begräbnisgesänge - Ein unbekanntes und
unediertes Werk Martin Luthers). Jenny lugt die sieben Gesänge bei.
Er hat sie „aus der gotischen Hufnagelnotation in moderne Choralnotation
" übertragen (463).

Dem gehaltvollen Band, der seinen Platz in der Lutherforschung
behaupten wird, ist ein Namens- und Ortsregister (475-483) beigegeben
. Druckfehler: 327 Anm. 44: Halle 1898;431: Mit Antwerpen.

lierlin Siegfried Brauer

Kirchengeschichte: Neuzeit

Francke, August Hermann: Predigten, Ii. Hg. von E. Peschke. Berlin
(West) - New York: de Gruyter 1989. XXV, 639 S. gr. 8" = Texte
zur Geschichte des Pietismus, Abt. II, Bd. 10. Lw. DM 340,-.

Über Band 1 der Franckc-Predigten informierte ThLZ I 13, 1988.
761 f. Band II hat in erster Linie das Ziel, „den Prediger Francke in den
letzten zwei Jahrzehnten seiner Wirksamkeit zu begleiten. Es wurden
vornehmlich Predigten ausgewählt, die mit besonderen Vorkommnissen
seines Lebens in Zusammenhang stehen und zur Bereicherung
einerneuen Francke-Biographie dienen können" (Vorwort, IX). Der
Herausgeber Erhard Peschke gibt für jede Predigt eine Einführung, die
auch biographische Umstände nennt. Als Beispiel sei eine Predigt
vom 16. Januar 1718 in Ulm herausgegriffen. Francke hatte schon am
20. 12. 1717 aus Ulm abreisen wollen. „Da griff ihn der Prediger Prof.
Funck, der sich bereits zuvor von ihm distanziert hatte, auf das heftigste
an" (267). An jenem Abendgottesdienst nahm Francke teil: die
neben ihm sitzenden Geistlichen „waren zutiefst betroffen". Francke
bleibt daraufhin in Ulm, der Magistrat beschließt, „Francke für den 2.
Sonntag nach Epiphanias, den 16. Januar, die Predigt in Münster aufzutragen
" (267). Einzelheiten sind im Tagebuch aufgezeichnet. Im
Münster war „eine solche Menge Menschen versammelt, daß nicht
nur alle Plätze, deren 6000 gezchlct werden, besetzet, sondern auch
alle Gänge erfüllet waren und man die Anzahl wohl auf 7000 bis 8000
schätzen mochte" (268). Der Gottesdienst begann um 8 Uhr, „und

währete die Rede 2 Stunden lang, weniger 2 Minuten" (269). Hinterherbittet
die Ulmer Geistlichkeit, „daß die Predigt doch gleich so, wie
sie gehalten, möchte gedruckt werden" (269). Die Edition bietet eine
Vorrede und Inhaltsverzeichnis der Einzeldrucke, ehe der Text der
Predigt folgt (275-308).

Im Vorwort nennt Peschke als weitere Ziele seiner Edition, die
Kenntnis der Theologie Franckes zu vertiefen sowie „Antwort auf die
Frage (zu) geben, ob sich die Lehre Franckes im Laufe der Jahre
gewandelt hat" (IX). Er verweist auf Unterschiede zwischen früheren
Katechismuspredigten aus den Jahren 1693-1695 und solchen des
Jahres I 726. Das Ergebnis lautet: „Schwerwiegende Lehrunterschiede
sind nicht erkennbar. Dennoch lassen sich gewisse Akzente erkennen,
die den Argwohn seiner Gegner erregen mußten. Die Andersartigkeit
der Gedankenführung erstreckt sich auf spiritualistische und reformierte
Verfärbungen, begriffliche Eigenarten, gedankliche Besonderheiten
und einen weitgefächerten, wirklichkeitsnahen, durch konkrete
Beispiele aus dem täglichen Leben bereicherten Predigtstil" (XXV).
Zu einem derartigen Urteil ist wohl kaum jemand so berechtigt wie
der Herausgeber des Bandes, der sich seit über drei Jahrzehnten intensiv
mit Francke beschäftigt.

Rostock Gert Haendlcr

Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus
. Im Auftrag der Hist. Kommission zur Erforschung
des Pietismus hg. von M. Brecht, F. de Boor, K. Deppermann,
U. Gäbler, H. Lehmann. J. Wallmann. Bd. 14 - 1988: Chiliasmus
in Deutschland und England im 17. Jahrhundert. Göttingen: Van-
denhoeck & Ruprecht 1988. 315 S. 8". Kart. DM 64,-.

Das für die neuere Kirchen- und Theologiegeschichtc vielfach
bewährte und zentrale Jahrbuch Pietismus und Neuzeit vereinigt in
diesem Band die Referate, die auf dem Wolfenbütteler Arbeitsgespräch
„Chiliasmus in Deutschland und England im 17. Jahrhundert
" im September 1987 gehalten wurden. Jeder, der sich nur ein
wenig mit der Geschichte des 17. Jh. beschäftigt hat, weiß, welch
komplexes, interessantes und vor allem brisantes Thema hiermit angesprochen
ist, das noch weite Forschungsperspektiven eröffnet. Für
den Theologie- und Kirchenhistoriker stellt sich in diesem Zusammenhang
das verwickelte Problem von Pietismus und Chiliasmus. das
in die Verhältnisproblcmatik von Orthodoxie und Pietismus führt
(über den chiliastischen Charakter von Spencers „Hoffnung besserer
Zeiten für die Kirche auf Erden" gab es in den vergangenen Jahren die
lebhafte Debatte zwischen Johannes Wallmann und Kurt Aland). Die
schweren Erschütterungen in allen Bereichen des Lebens im Zusammenhang
des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland undderGroßcn
Revolution in England boten für den allen Chiliasmus gerade in dieser
Zeit vielfältige Deutungsmuster. Aber er „war nicht nur ein phantastischer
Schleier, der sich über die unheimliche Gegenwart legte", sondern
auch „eine aktive Kraft, die auf die Erfüllung der von ihm verkündeten
Verheißungen hinwirkte" (K. Deppermann in seinem Vorwort
, 6). Die erhoffte Bekehrung der Heiden und Juden, der Fall des
Papstes in Rom und seiner kirchlichen und politischen Helfer, die
Erneuerung und Vereinigung der protestantischen Kirchen wurden
als Zeichen des anbrechenden Millenniums gedeutet und zugleich als
Ziele des praktischen Handelns für die wahren Christen.

Die Beiträge dieses Bandes zeichnen ein vielfältiges Bild der chilia-
stischen Vorstellungen im 17. Jh.. die mancherlei Verbindungen eingehen
konnten und Wandlungen unterlagen, so daß man von einem
„Sublimierungsprozeß" und einer „partiellen Säkularisierung" des
Chiliasmus spricht, der mit einer teilweisen Entpolitisierung einherging
. Aufdie jeweiligen thematischen Schwerpunkte in den einzelnen
Referaten sei hier kurz hingewiesen:

Hartmut Lehmann widmet sich dem orthodoxen Lutheraner
Johann Matthäus Meyfart, der kein Chiliast war, dessen Deutung der
Endzeitzeichen in seinem Werk „Das Jüngste Gericht" von 1632 aber