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Ausgabe:

1990

Spalte:

276-277

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Neues Testament, antikes Judentum 1990

Rezensent:

Holtz, Traugott

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Theologische Literaturzeitung 115. Jahrgang 1990 Nr. 4

276

Einzelstudien vor, die wiederum Problemen der paulinischen Theologie
gewidmet sind. So wie der Titel jetzt geradezu bekenntnishart von
der Heiligkeit der Tora spricht, hat die Position des Autors noch an
Schärfe und Profil gewonnen. Da die ersten vier Studien je einem der
paulinischen Hauptbriefe gelten, haben wir einen Querschnitt durch
die Theologie des Paulus aus der Sicht des engagierten Vf. vor uns.
Diese ist unabtrennbar von seinem Einsatz für die Neubegründung des
Verhältnisses von Kirche und Judentum. Ausgangspunkt ist eine for-
schungs- und ideologiekritische Einsicht. Der der existentialontolo-
gischen Paulusinterpretation immanente latente Antinomismus hatte
den Blick für Israel verstellt. Doch richtet sich die z. T. in gereizter
Polemik vorgetragene Abgrenzung nun auch gegen Autoren, die
schwerlich dieser Position zuzuordnen sind, wie H. Räisänen und
E. P. Sanders.

Im ersten und wohl gewichtigsten Beitrag über das Gesetz im
Römerbrief (9-59) geht es wie in allen folgenden Stücken um die Kontinuität
zwischen Tora und Christentum, die freilich unter einem
dialektischen Vorbehalt begriffen wird. Die Offenbarung der Gerechtigkeit
Gottes ist außerhalb des Nomos geschehen in Jesus Christus,
aber „damit ist nicht das Geringste gegen das Gesetz gesagt" (26). Dies
bestimmt die Auslegung der zentralen Stellen Rom 3,27 und 31.
Nicht der Nomos, sondern der Nomos der Werke wird abgewehrt,
Aufrichtung der Tora und Glaubensvollzug im Sinne von Rom 4 bilden
keinen Widerspruch (30). Geht man von Rom 9,30ff auf 10,4 zu,
„so spricht nichts für die Übersetzung Ende des Gesetzes, dagegen
alles Tür seine Übertragung mit Ziel oder Erfüllung" (34). Rom 8,2
erscheint als.Zusammenfassung von Rom 7 (20). Die Kernaussage
von der Liebe als Erfüllung des Gesetzes zeigt, daß jetzt die Zeit
gekommen ist, „in welcher das Gesetz nicht mehr zum Tode, sondern
zum Leben aufgerichtet wird." (45) So ergibt sich ein harmonisches
Bild: Jesus Christus - Ziel der Tora, der Geist - die Kraft, ihr zu entsprechen
, der Glaube - die Aufrichtung des Gesetzes, die Agape -
seine Erfüllung. Gewiß steht das Konzept des Rom im Zeichen der
Synthese. Aber ist sie nicht einer ungleich sperrigeren Wirklichkeit
'abgerungen? Wird in dieser Interpretation dem Scheitern am Gesetz
als individuelles und koMektives Phänomen Rechnung getragen? Sind
Kreuz und Auferstehung in ihrem eschatologischen Charakter zur
Geltung gebracht?

Die Frage nach dem Umgang des Paulus mit der Tora läßt sich nur
an wenigen Texten so deutlich demonstrieren wie an 1 Kor 10.1-13.
So ist dieser Perikope eine eigene Untersuchung gewidmet „Geschrieben
zu unserer Ermahnung" (60-86), in dem das in sorgfältiger
Analyse dargebotene Aussagengeflecht des Midrasch als „Tora für die
Korinther" herausgestellt wird. In ihr geht es um die Identität des
Gottes Israel mit dem Gott der Gemeinde in Korinth, um die Präsenz
Jesu Christi im biblischen Bewährungsgeschehen (Fels in 10,4) wie in
der christlichen Gemeinde: um die Gewährung pneumatischerGaben
an die Kinder Israels wie an die Korinther und die Zusammengehörigkeit
beider im genealogischen Sinne („unsere Väter"). Die Aussage:
„Der Typus bleibt im Antitypus gegenwärtig" (86) krönt die meisterhafte
, im Gespräch mit der gegenwärtigen Forschung erarbeitete
Skizze.

Einem der schwierigsten Abschnitte im 2Kor ist die dritte Studie
gewidmet: Die Decke des Mose (87-115). Auch hier geht es nicht ganz
ohne Polemik ab. E. Käsemann, der über diesen Komplex einen
bedeutsamen Beitrag verfaßte, wird als Repräsentant eines christlichen
Triumphalismus vorgeführt, dereinst in den mittelalterlichen
Ekklesia-Synagoge-Darstellungen seine bildnerische Gestalt gefunden
hat. Die Attacke wäre überflüssig gewesen, denn es überwiegen durchaus
die konsensfähigen Aussagen. In großflächiger Nachzeichnung
von 2,14-7,4 wird dargetan, wie sich die in 3,7-18 vorliegende
Deutung von Ex 34,29-35 in die „Gegnerschelte" einfügt. Klar wird
herausgestellt, wie von V- 12 ab an die Stelle der Überbictung des
Alten Bundes seine christologische und pneumatologische Erschließung
tritt. „Die heiligen Schriften werden zum Wort des lebendigmachenden
Geistes und verlieren ihren Charakter als tötender Buchstabe
" (105). Hilfreich ist die Konfrontation mit dem rabbinischen
Verständnis, wo der Geist einerseits als Phänomen der Vergangenheit
erscheint, andererseits der Zukunft vorbehalten ist. Auch an der
Pneumatologie erweist sich, daß Gemeinde und Rabbinat durch die je
unterschiedliche geschichtstheologische Grundentscheidung getrennt
sind.

Die meisten Überraschungen birgt die unter den Titel Paulus und
die Wahrheit des Evangeliums (I 16-160) gestellte Untersuchung zum
„Umgang des Apostels mit Evangelium, Gegnern und Geschichte in
Gal 1-2". Entschiedener als nahezu alle zeitgenössischen Ausleger
des Briefes betont der Vf. den tendenziösen Charakter der Darstellung.
„Es läßt sich schwerlich sagen, Paulus habe Falsches berichtet, aber
ebenso problematisch dürfte die Behauptung sein, er habe alles richtig
dargestellt" (134). Dabei ist es ihm weniger um eine Aufwertung der
Acta zu tun als um etwas viel Grundsätzlicheres. Es geht um das Bild,
das Paulus von seinen judenchristlichen Gegnern in Jerusalem und
Galatien entwirft. „Auch wenn man die paulinischc Deutung der
Schrift vom Evangelium her den Vorzug gibt, wird man den Gegnern
des Apostels Gerechtigkeit widerfahren lassen und sie von dem Zerrbild
trennen, das bereits bei Paulus von ihnen gezeichnet ist" (144).
Man kann dem Autor die Konsequenz seiner Haltung nicht absprechen
. Wo so entschieden von der Heiligkeit der Tora gesprochen wird,
ist eine wenigstens teilweise Rehabilitierung des Judenchristentums
unausweichlich. So gehört es nach ihm zur Tragik des paulinischen
Evangeliums, daß es zur Abdrängung des Judenchristentums in die
Sektenexistenz führte. Schließlich bleibt auch eine „sachkritische"
Neugewichtung innerhalb des Corpus Paulinum nicht aus: bei der
Entfaltung der Theologie des Paulus sollte die von reduktiver Sicht
bestimmte Position des Gal der umfassenden Schau des Rom, einschließlich
cap. 9-1 1 untergeordnet werden.

Berlin, wo Vf. wirkt, ist nicht nur ein herausragender Ort christlichjüdischer
Begegnung, sondern auch eine Stätte leidenschaftlicher
geistig-politischer Auseinandersetzung. DiQS mag der Sitz im Leben
für den abschließenden Beitrag Evangelium und Anarchie (161-170)
sein. In ihm wird Gershom Scholem folgend die Konvergenz aufgewiesen
zwischen der antihalachischen Losung der korinthischen
Spiritualisten „Alles ist (mir) erlaubt" und der das Judentum sprengenden
Bewegung um den Pseudomessias Sabbatai Zwi, wobei gegenüber
einem libertären Enthusiasmus das paulinische Kriterium der
Agape als Hinweis auf die Heilsamkeit des Gesetzes verstanden wird.
Heiligkeit der Tora unter dem Vorzeichen der Agape - für einen dem
Grundanliegen des Autors aufgeschlossenen Leser schließt sich hier
der Kreis.

Leipzig/ Halle (Saale) Wolfgang Wiefel

Strecker, Georg, u. Johann Maier: Neues Testament - Antikes Judentum
. Stuttgart-Berlin (West)-Köln-Mainz: Kohlhammer 1989,
192 S. m. 10 Abb. kl. 8" = Urban-Taschenbücher, 422. Grundkurs
Theologie, 2. Kart. DM 22.-.

Die Veröffentlichung bildet den Band 2 der Reihe „Grundkurs
Theologie", die, herausgegeben von G. Strecker, in 10 Bänden „einen
umfassenden, allgemeinverständlichen Einblick in die Probleme und
Aufgabenstellungen, die sich für die wissenschaftliche Theologie
heute ergeben", vermitteln will. Sie vereinigt die Behandlung des
Neuen Testaments durch G. Strecker (128 Seiten) und die des „antiken
Judentums" durch J. Maier (48 Seiten). Diese Zusammenstellung
in solcher Reihenfolge sowie überhaupt die Aufnahme des antiken
Judentums als eigener Gegenstand in einem „Grundkurs Theologie",
der eine Behandlung des gegenwärtigen Judentums oder anderer zeitgenössischen
Religionen nicht vorsieht, ist bemerkenswert und reizt
zu Fragen.

Beide Teile sind sehr informativ, und zwar hinsichtlich sowohl des
Gegenstandes, den sie behandeln, als auch der wissenschaftlichen
Literatur über ihn. Strecker arbeitet stärker als Maier mittels kriti-