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Ausgabe:

1990

Spalte:

219-221

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lenz, Hubert

Titel/Untertitel:

Mut zum Nichts als Weg zu Gott 1990

Rezensent:

Vetter, Helmuth

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219

Theologische Literaturzeitung 1 15. Jahrgang 1990 Nr. 3

220

das erste menschliche Wort. Wer nicht erschrocken, sondern vertrauensvoll
„Mein Gott" (vgl. Mt 27,46) sagt, bejaht Gott und ist
selbst in der Gottverlassenheit nicht verlassen. - Der langen Rede
kurzer Sinn: Da es S. um die Frömmigkeit geht, ist eine Auslegung,
bei der etwas herauskommt, was mit Frömmigkeit nichts zu tun hat,
sondern was nur der dialektische Gehalt ist, welches Dialektische nur
die Form sein muß (vgl. Enz., S. 188), keine Auslegung.

Auslegen heißt für R.: Verallgemeinern und Spekulieren. So soll
an einer Stelle der Ethik (Auswahl Braun II, S. 549f). wo die Hermeneutik
noch nicht einmal erwähnt wird, von der Hermeneutik die
Rede sein, weil das Verstehen ein Empirisch-Einzelnes, den Text, auf
ein Spekulativ-Allgemeines, das Denken, bezieht (S. 245). Immerhin
räumt R. ein, daß S. in seiner Ethik die Hermeneutik als Theorie nicht
erwähnt (S. 257). Dafür hat S. gute Gründe. Denen geht R. nicht nach.
S. führt die ganze Operation der Auslegung zurück auf den Begriff der
Kunst. S. vermeidet damit den nicht ganz angemessenen Ausdruck
einer Theorie. Statt dessen entscheidet er sich für den altertümlichen
(nicht: den heutigen!) Ausdruck „Technik" = „Kunstlehre" (Enz.,
S. 125f). Eine bloße Theorie ergibt noch nicht die Kunst, die aus dem
Verstehen und Auslegen zu machen ist (vgl. Auswahl Braun II, S. 356;
IV, S. 141). Eine Technik kann „nur stattfinden, wo es eine Kunstleistung
giebt, und eine solche muß also das Verständniß einer Schrift
seyn, wenn es darüber eine Kunstlehre geben soll." (Enz., S. 126)

Eine allgemeine Hermeneutik legt für S. „ganz allgemein das Ver-
hältniß eines Redenden und Hörenden zu Grunde" (Enz., S. 129f).
Was wird bei R. daraus? Nach R. bezieht S.s Hermeneutik des Sinns
ihre Dynamik aus der Polarität zwischen Subjekt und Objekt, deren
Differenz sich nicht in absolute Idendität auflösen lasse (S. 333); die
Subjekt-Objekt-Trennung sei kein Mangel (S. 339). Doch: wer ist
schon „Subjekt", wenn ein Text beredt wird? Ist ein Ausleger, der auf
einen Text hört, ein „Subjekt"? Nach R. steht der Autonomie des
Objekts die Autonomie des Subjekts gegenüber (S. 339). Das begreife,
wer sich unter der Autonomie eines Hörenden etwas denken kann!

R. gibt zu, daß der Textbegriff bei S. im terminologischen Sinn für
den Sprachvollzug (im Unterschied zum Sprachsystem) gar nicht vorkommt
(S. 285). Ist S. nicht Theologe und Philologe genug, um der
Aufklärung darüber zu bedürfen, was ein „Text" ist? Lassen bewährte
Begriffe sich beliebig ändern? In einem kunstmäßig geführten Gespräch
(Einleitung zur Dialektik von 1833) eine Textkonstitution
durchzuführen wäre m. E. die Aufgabe eines Protokollanten. Ist aber
die Erstellung eines Protokolls fruchtbarer als das Miteinander-
Sprechen und das Zueinander-Kommen derer, die im Streit liegen
und im Zweifel sind?

Kirchnüchel Hermann Peiter

Feige, Ingeborg: Geschichtlichkeit. Zu Bernhard Weltes Phänomenologie
des Geschichtlichen auf der Grundlage unveröffentlichter
Vorlesungen. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1989. X, 473 S. 8' =
Freiburger theologische Studien, 138. Pb. DM 58,-.

Lenz, Hubert: Mut zum Nichts als Weg zu Gott. Bernhard Weltes religionsphilosophische
Anstöße zur Erneuerung des Glaubens. Freiburg
-Basel-Wien: Herder 1989. XII, 339 S. 8" = Freiburger theologische
Studien, 139. Pb. DM 46,-.

Die Arbeit von Ingeborg Feige hat einen Zentralbegriff Bernhard
Weltes (1906-1983) zum Thema, die Geschichtlichkeit. Mit dieser
hat es das Christentum nicht nur deshalb in hervorragender Weise zu
tun, weil zu ihm sein geschichtlicher Ursprung gehört, sondern weil es
sich selbst nicht anders als innerhalb der Geschichte, wenngleich diese
transzendierend, entfaltet.

Für Welte mußte die Geschichtlichkeit wenigstens in einer zweifachen
Weise zu einem drängenden Problem werden: als Philosoph
einer bestimmten Tradition, der von Heideggers Entwurf des endlichgeschichtlichen
Daseins entscheidende Anstöße empfangen hatte,
und als Religionsphilosoph, der es sich zur Aufgabe gestellt hatte, das
Walten des übergeschichtlichen Gottes in der Geschichte nachvollziehbar
werden zu lassen. Er ist diesen Fragen wiederholt, vor allem in
den beiden Aufsatzsammlungen Aul der Spur des Ewigen und Zeil
und Geheimnis sowie in seiner Religionsphilosophie nachgegangen.
Nun zeigt die Autorin - Schülerin des Welte-Schülers und Freiburger
Religionsphilosophen Bernhard Caspcr-anhand von Quellen, die der
Öffentlichkeit bisher entzogen waren, wie Weltes Auseinandersetzung
mit der Geschichte innerhalb seiner Vorlesungen selbst eine Geschichte
hat - angefangen von der ersten geschichtsphilosophischcn
Vorlesung aus dem Wintersemester 1949/50 (mit dem wegweisenden
Titel „Geschichtlichkeit als Grundbestimmung des Christentums")
bis zu der von 1967/68, „Geschichtlichkeit und Offenbarung". Ingeborg
Feige beschränkt sich aber nicht auf diese im engeren Sinn
geschichtsphilosophischen Vorlesungen, sondern schöpft auch aus
zahlreichen anderen Kolleg-Manuskripten.

Geschichtlichkeit war für den christlichen Philosophen der Anstoß,
das Unvordenkliche zu bedenken, die Resistenz der Wirklichkeit
gegenüber all jenen Versuchen, ihr mit der Totalität von Systemen
beikommen zu wollen - die Spannweite dieser Auseinandersetzung ist
spätestens seit Kierkegaards Kritik an Hegel vorgegeben. Wie die
Autorin aber deutlich macht, gewinnt dieser gleichsam negative
Abstoß in der Folgezeit die Positivität der Bestimmung des Geschichtlichen
selbst: der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins und
dann zunehmend (unter dem Eindruck Heideggers) des Seins selbst.
Philosophie wird von der Sache her Phänomenologie, d. h. geduldiges
Offenstehen für die darin gründende Explikation der Phänomene.
Es ist ein besonderes Verdienst dieser Studie, den Wandlungen dieses
Denkens nachzugehen, nicht nur auf seine innere Einheit zu achten.
Aber auch diese bleibt im Blick, indem die Autorin Grundbestimmungen
Weltes reflektiert: Singularität und Kontinuität, Geschehen.
Personalität und Bedeutsamkeit, Augenblicklichkeit, Seinsgeschichte
und Epochalität sowie eine Reihe grundlegender Merkmale im Umkreis
des „Verstehens", schließlich die Dialektik von Endlichkeit und
Unendlichkeit - kategoriale (oder besser: existenziale) Bestimmungen
, welche dieses Werk durchziehen und - wie jetzt deutlicher wird-
an bestimmten Wegstrecken akzentuiert hervortreten.

Gerade für die Erfahrung Gottes irr der Geschichte bringt Welte
wichtige Gedanken: der Eine, der doch nicht vorweggenommen
werden kann, sondern sich als die unausdenkbare und unvordenkliche
Fülle über alles Endliche hinaus, aber in Endlichkeit erweist. Dieser
Charakter des Unverfügbaren gehört wiederum zum Personsein, dessen
Relationalität und Ereignishaftigkeit Welte auch in seinen Veröffentlichungen
(ich denke etwa an den weitgespannten Aufsatz ZUt
Christologie von Chalkedon) wiederholt bedacht hat. Wenn die Autorin
mit Welte „Hoffnung als Wahrheit der Geschichte" heraushebt, so
darf dies nicht mit dem illusorischen Wunschdenken, wie es für die
neuzeitliche Auffassung von Religion charakteristisch war (und in der
entsprechenden Religionskritik mit Recht zurückgewiesen wurde)
verwechselt werden, sondern gründet in Weltes eigenem Ansatz, personal
-dialogischen Philosophierens. Daß dies nicht im Allgemein-
Philosohischen bleibt, sondern seine genuin christliche Stelle erhält,
zeigt die gegen Ende des Buches entfaltete „formale Deutung", „insofern
die Wahrheit des Christentums als geschichtlich ereignete
Offenbarung der Zusage des Heils aus dem unverfügbaren Geheimnis
selbst im Ereignis der Person Jesu nur im Glauben und damij nur im
Ernste je geschichtlichen Selbstseins aufgehen kann" (S. 367) - bei
allem Gewicht, welches Heideggers Denken für Welte hatte, doch eine
Rückkehr zum Ursprung der Glaubcnszeugen, zu den Evangelien, zu
Paulus, aber auch (wenn auch weitgehend im Hintergrund verbleibend
) zu Kierkegaard.

„Anstöße zur Erneuerung des Glaubens" vermochte Welte in seiner
behutsam phänomenologischen und gerade darin weltoffenen Art zu
geben - dies ist auch der Untertitel der Arbeit von Hubert Lenz, entstanden
bei dem in Frankfurt und München lehrenden Philosophen
JörgSplctt. Daß dieses Buch über denselben Autor im selben Jahr und
in derselben Verlagsreihe erschienen ist, mag jenseits editorischer Zufälle
auf das Ergänzende hinweisen, das beiden Arbeiten eigen ist-