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Ausgabe:

1989

Spalte:

71-72

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Scharrer, Erwin

Titel/Untertitel:

Jesus im Gespräch 1989

Rezensent:

Möller, Christian

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Seite 1

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7! Theologische Literaturzeit

sehen Katechismus für die Bistümer Deutschlands" von 1955, der übrigens
auch in der DDR benutzt wurde, und stellt dessen sexualerzieherische
Intention dar. Die Lehrstücke zum Themenkreis der geschlechtlichen
Erziehung verlassen zwar nicht völlig den Rahmen des
„Einheitskatechismus" von 1925 (Überbewertung der Jungfräulichkeit
, Folgen der Unkeuschheit usw.), zeigen aber einen Wandel deutlich
an (Notwendigkeit geschlechtlicher Aufklärung, Würdigung der
Sexualität als Gesamtwirklichkeit menschlichen Lebens usw.). Daß
dahinter auch neue Überlegungen im Bereich der Moraltheologie stehen
, macht der Vf. in einem eigenen Exkurs in knapper Form deutlich
.

Das zehnte Kapitel ist der Sexualerziehung von 1970 an gewidmet.
Anhand von vier ausgewählten Positionen (Ernst Ell, Sigmund Kripp,
„Katholische Pfadfinderschaft Europas" und „Freundeskreis Maria
Goretti e. V.") wird erkennbar, daß nunmehr die „Katholische
Sexualpädagogik zwischen Tabuisierung und Anpassung" (so die
Überschrift) steht. Während die beiden Autoren eine „dynamische
Sexualmoral" bzw. eine katholische Anpassung an die emanzipatori-
sche Sexualpädagogik vertreten, ziehen sich die „Pfadfinder" auf den
Lchramtspositivismus zurück, und der „Freundeskreis" führt einen
heftigen Kampf gegen die schulische Scxualerziehung. Die damit ausgewählten
Extrempositionen zeigen deutlich, „daß es der gegenwärtigen
katholischen Sexualpädagogik noch nicht gelungen ist, sich von
Einseitigkeiten und Fixierungen freizumachen". (S. 211)

Im vorletzten Kapitel werden lehramtliche Dokumente zur Sexualerziehung
auf dem Hintergrund heutiger „Jugendmoral", wie sie
durch großangelegte Umfrageaktioncn ermittelt wurde, vorgestellt.
Sie zeigen eindrücklich die Diskrepanz zwischen Soll und Sein. „Empirische
Untersuchungen belegen - gerade bei jungen Menschen - eine
radikale Krise gegenüber den sexualethischen Normen der Kirche."
(S. 249)

Das letzte Kapitel widmet der Vf. speziell der Sexualerziehung im
gegenwärtigen österreichischen Religionsunterricht, zumal er dort
eigene Erfahrungen sammeln konnte.

Insgesamt zeichnet Langer ein plastisches Bild von der katholischen
Sexualpädagogik im 20. Jh. Es treten dabei deutliche Entwicklungstendenzen
hervor. Der Vf. aber will sich damit nicht abfinden. Deshalb
legt er als „Ausblick" zehn Thesen zur „Partnerschaftlichen Liebesfähigkeit
" vor.

Leipzig Gottfried Kretzschmar

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Scharrer, Erwin: Jesus im Gespräch. Therapie und Seelsorge in den
Dialogreden Jesu. Wuppertal: Brockhaus 1987. 176 S. 8* = ABC
team, 389. Kart. DM 19,80.

E. Scharrer ist Chefarzt einer Fachklinik für Nerven-u. psychosomatische
Krankheiten bei Frankfurt (M.) und engagiert sich vielfältig in Vorträgen
und Seminaren, in Studentenbetreuung und -beratung, in Haus-,
Kreis- und Gemeindearbeit bei dem Gespräch zwischen Seelsorge und
Psychotherapie. Dem ist auch das vorliegende Buch gewidmet.

Scharrer sieht als Ursache für viele psychopathologische Phänomene
eine zunehmende Monologisierung im menschlichen Reden
und Handeln. Das sei eine Folge der Autonomiebefangenheit des
Menschen, wie sie sich aus der cartesianischen Wende zum Subjektivismus
herleite. Dieser Subjektivismus äußere sich heute in Selbstfixierung
und Selbstentfremdung, die sich in Wiederholungszwängen
äußerten. Scharrer führt es letztlich auf den Sündenfall, den Fall aus
der Gottesbeziehung in die Autonomiebewußtheit, zurück, daß der
Mensch zum wahren Dialog unfähig sei und Verleugnungs- wie Verdrängungsmechanismen
verfalle. Daraus könne der Mensch nur
befreit werden, wenn die tiefste Ursache, die gestörte Gottesbeziehung
, behoben werde. Dies geschehe durch Herauslösung aus dem
monologischen Dasein in die dialogische Begegnung mit Jesus, dem

ng I 14. Jahrgang 1989 Nr. 1 72

wahren Seelsorger und Therapeuten. Eine solche Herauslösung vollziehe
sich in einem durch den Heiligen Geist vermittelten, inneren
Hören und in der inneren Offenheit für die Dialogreden Jesu im
geschriebenen Wort. Die Bibeltexte sind für Scharrer Therapie.

Er entwickelt einen hermeneulischen Zirkel als Verstehenshori-
zont: Das Wort Jesu, durch den Geist vergegenwärtigt, sei abhängig
von vorgängigen Erfahrungen, ermögliche aber im Verweisen von sich
weg auf den Vater zugleich neue Erfahrung, die wiederum ein vertieftes
Verstehen des Wortes zur Folge hätte. In diesem Prozeß bilden
Heilung und Heil, psychologisch-tiefenpsychologische Wahrheitszusammenhänge
und biblisch-theologische Wahrheitszusammenhänge
eine Einheit. In der Begegnung mit Jesus komme es zu einem Gottesvertrauen
, das Lebenshilfe sei. Ziel des Buches ist es, durch Auslegung
der Dialogreden Jesu aus dem Lukas-Evangelium einen Hörprozeß
auf die Texte der Bibel zu fördern und darin „soweit wie möglich die
Nähe der Person Jesu spüren zu lassen" (9).

Im Lukas-Evangelium werde geschildert, wie Jesus unterschiedlichen
Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen begegne. Im
Gespräch mit den Armen. Unterdrückten und Kranken rufe er den
Einzelnen aus Unwissenheit und Bequemlichkeit zur Erkenntnis und
Anerkenntnis der Sünde heraus, damit sie ausgchalten und im Dialog
mit Jesus losgelassen werden könne, woraufhin die Heilung erfolge.
Das Aufleuchten des Reiches Gottes in der Person Jesu sei die eigentliche
Heilung. Wenn Jesus „in alleiniger Vollmacht" von Fremdbestimmtheit
zu einer mit Gott geeinten Autonomie befreie, geschehe
das immer mit Empathie, die den Menschen zur Liebesfähigkeit und
zur Hingabe erwecke, deren Ziel Freude sei. Diese Freude bewähre
sich darin, Christi Beziehungsangebot treu zu bleiben. Die Widerstände
dagegen zeigten sich in den Gesprächen Jesu mit seinen Feinden
: die Pharisäer verpaßten das Entscheidende, das weder der eigene
Glaube noch eine äußere Gesetzesgerechtigkeit rette sondern die
geschenkhafte Überwältigung des eigenen Sehvermögens und seiner
Einordnung auf Gottes Willen und die Wirkmächtigkeit des Heiligen
Geistes. So blieben die Pharisäer in Verfestigung und Verabsolutierung
dogmatisch richtiger Normen und der Abwertung von Inhalten
der Heuchelei und letztlich monologischem Denken verhaftet, das
Selbstgerechtigkeit, die Leugnung des Heiligen Geistes, d.is Festhalten
religiöser Macht und Geiz zur Folge habe.

Die langsame Überwindung der Widerstände schildert Scharrer an
den Dialogreden Jesu mit seinen Jüngern. In ihnen werde ein stiifen-
weiser Lernprozeß deutlich, der die Jünger zunehmend von einem
anfänglich noch narzißtischem Bedürfnis zu einer in Einheit von
Symbiose mit Christus und Autonomie erfüllten Gottesbeziehung
führe. Die Folge sei, daß die Sorge um äußere Dinge abgelegt Vierden
könne, weil im Gottesvertrauen die Veihcißung gelte, daß für alles
Äußere durch das Trachten nach Gottes Reich gesorgt sei.

Es ist spannend, in Scharrers Buch mitzuverfolgen, wie hierein Arzt
die Bibel im Licht seiner Erfahrungen mit Kranken entdeckt und dabei
das Evangelium seines „Kollegen", des Arztes Lukas, auf theologische
Strukturen in Jesu Begegnungen durchgeht. Hat aber nicht
Lukas sein Evangelium für die Gemeinde Jesu Christi aufgeschrieben
und darin zugleich die Gemeinde zu demjenigen Ort gemacht, wo ich
der Seelsorge Jesu Christi konkret begegnen kann? Das scheint mir
eine empfindliche Lücke in Scharrers Buch zu sein, daß er den Leib
Christi, d. h. die Gemeinde, als konkreten Begegnungsort für Jesu
Seelsorge überspringt und ausklammert. Dadurch schleicht sich in das
Buch ein Individualismus ein, der die Begegnung des Einzelnen mit
Jesus so unvermittelt und kurzschlüssig macht, wie sie wohl in der
Bibel selbst, vorbei an der Gemeinde als dem Leib Christi, nicht zu
haben ist. Dennoch ist dieses Buch ein anregendes und ein wichtiges
Dokument für die Begegnung von biblischer Auslegung und therapeutischer
Erfahrung, von Glaube und Psychologie und von dem unbefangenen
Umgang eines Nichttheologen mit der Bibel. Es scheint, als
ob der Weg der Seelsorge wieder zu den biblischen Quellen zurückführt
, ohne daß die Psychotherapie auf der Strecke bleibt.

. Heidelberg Christian Möller