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Ausgabe:

1989

Spalte:

923-924

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bliesener, Thomas

Titel/Untertitel:

Klinische Seelsorgegespräche mit todkranken Patienten 1989

Rezensent:

Weirich, Gernot

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Seite 1

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923

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 12

924

Bliesener, Thomas, Hausendorf, Heiko, u. Christoph Scheytt: Klinische
Seelsorgegespräche mit todkranken Patienten. Berlin (West)-
Heidelberg-New York-London-Paris-Tokyo: Springer 1988.
XIII, 214 S. gr. 8". Kart. DM 58,-.

Das Interesse an der Pastoralpsychologie hat in den letzten Jahrzehnten
eine erhebliche Literatur hervorgebracht. Das Schema -
Sterbebegleitung - ist aktuell und wird seit Kübler-Ross weniger
tabuisierl.

In dem vorliegenden Sammelband werden drei Gespräche mit todkranken
Patienten von erfahrenen Klinikseelsorgern analysiert. Man
kann geradezu von einem Lehrbuch pastoralpsychologischer Gesprächsanalyse
sprechen. Die „Heterogenität methodologischer Implikationen
" (VI Vorwort) der Analysen mag verwirren, da aber jedes
Transkriptionsmodell die Entwicklung des Diskurses und in der
Analyse das methodische Vorgehen genau aufzeigt, löst sich die Irritation
in Spannung. Allerdings ist die in schwäbischer Mundart angegebene
Lautschrift der Transkriptionsprotokolle zu berücksichtigen.

Die drei Seelsorger teilen die Intention, daß Sprache als ein Faktor
institutioneller Kommunikation nicht nur Bedeutung z. B. für den
Arzt-Patienten-Dialog besitzt, sondern auch in der Klinikseelsorge
Forschungsgegenstand sein darf. So rückt die entsprechende Gesprächspraxis
in die Korrelation mit Seelsorgetheorie und -praxis.
Das erste von T. Bliesener analysierte Gespräch: „Ich bin immer die
Hauptperson gewesen im Haushalt" verdeutlicht u. a., daß die Haltung
des Seelsorgers der Patientin ermöglicht, von ihrer Sterbensangst
zu sprechen. Die Analyse des Gesprächsprozesses im Detail zeigt
dann, daß der Seelsorger aus seinen Bedürfnissen heraus von seinen
Vorsätzen zur nondircktiven Gesprächsführung abweicht. Positiv und
gegen Perfektionismus argumentierend steht die Beobachtung, daß
auch ein scheinbar nicht gelungener Gesprächsabschnitt zur Gesprächsentwicklung
beizutragen vermag, wenn nur die Bereitschaft
zum Verstehen deutlich wird.

Mit aufschlußreichen Tabellen des prozessualen Geschehens, mit
Erläuterungen der Transkriptionssymbole und Regeln werden die
Gesprächsdaten nachvollziehbar.

Während die Gesprächsanalyse nicht mit einer Vorgabe theologischer
Kriterien behaftet ist. rückt C. Scheytt im zweiten Beitrag das
Gespräch in das alle Wirklichkeit durchdringende ..symbolische
Geschehen" (S. 84). Nicht als Ziel, aber als letzte Begründung und
Vergegenwärtigung der ..Seelsorge im Raum der Kirche" gilt die „in
Christus geschehene Selbstmitteilung Gottes" (ebd.). Scheytt schrieb
1984: „Die seelsorgerlichc Beziehung kann zum .Zeichen', d. h. zur
leibhaft-kommunikativen Interpretation der Botschaft vom .mitgehenden
Gott' werden" (ebd.).

Dieser Vf. reflektiert die in einem Gespräch u. U. besonders gefährdeten
Kriterien: das theologische Kriterium der Freiheit (E. Jüngel)
und das methodische Kriterium der partnerschaftlichen Gegenseitigkeit
(J. Scharfenberg) (S. 88). Brechung des symbolischen Geschehens,
z. B. durch direktive Gesprächssteuerung des Seelsorgers bewirkt die
Schmälerung der „Freiheit eines Christenmenschen" (S. 88). Das läßt
die Schlußfolgerung für die Seelsorge zu, auch dann, wenn der Seelsorger
dem Gesprächspartner „nur" als Mitmenschen begegnet, handelt
er im Auftrag Gottes. Gebet, Bibel usw. gehören in diesen Auftrag
als-Angebot.

In der zweiten Analyse eines seelsorgerlichen Gesprächs: „Man
braucht einfach im Leben einen Halt" wird von T. Bliesener neben
dem Theodizeeproblem auf die Grenzen seelsorgerlichen Wirkens
hingewiesen. Der Patient findet Verständnis und Mitgefühl, aber Vergebung
und Glaubensstärkung erhält er nicht. In der Analyse der letzten
Phase des Gesprächs, beim Beten eines Psalms kann von der
rituellen Geborgenheit des Patienten gesprochen werden.

Im vierten Kapitel bzw. dem dritten Gesprächsbeispiel geht es
H. Hausendorf um konkurrierende Formen der Definition von
Klinikseelsorge. In zwei Gesprächsabschnilten wird die Rekonstruktion
stattgefundener Interaklionsvcrläufe (Fallrekonstruktion) zur
grundlegenden Forschungsstrategie im Gegensatz zur Beobachtung

des Gesprächsverhaltens. Zwei innerhalb der Interaktion angesiedelte
Erklärungen von Klinikscclsorge werden unter den Begriffen „Reproduktion
von Seelsorgcbedürftigkcit und Sinnstiftung" reflektiert
(S. 16). Der Begriff „Seelsorgebedürftigkeit" charakterisiert eine Empfindung
des Patienten, die sich innerhalb der Interaktion (Seelsorger
und Patient) entwickeln kann. Klinikseelsorge erhält Legitimation
und Profilierung. Diese Definition von Seelsorge als Ergebnis institutioneller
Kommunikation bzw. als „verordneter Therapie" konkurriert
mit einer alternativen Gesprächsführung. die vom Patienten als
persönliche Disposition, im Zusammenhang natürlicher Interaktion,
selbst gewählt wird.

Die zweite These der interaktionsinternen Definition von Klinik-
seclsorgc spricht von „Sinnstiftung". Innerhalb ihres Systems wird
eine direkte Verbindung zwischen einer Sinn gewährenden Instanz
und der Gesprächsfortsetzung hergestellt. Der Patient bricht das
Gespräch mit dem Seelsorger ab. wenn dieser die Wahrheit des
Systems „Religion" nicht erweist.

Zusammenfassend sollen noch einmal drei Gemeinsamkeiten der
Autoren skizziert werden. Für sie hat zum ersten nicht der Inhalt, sondern
die Form der seelsorgerlichen Kommunikation bzw. die Gestalt
des Diskurses Priorität. Das bedeutet zweitens für das theologische
Selbstverständnis in einer „nicht vorab festgelegten Gesprächsführung
die .Selbstmitteilung Gottes' symbolhaft vergegenwärtigen zu wollen"
(VIII Vorwort). Eine daraus resultierende dritte Übereinstimmung
besteht in der Grundhaltung, das Gespräch nicht zu instrumentalisieren
, sondern seine Qualität im Geschehen selbst für die Teilnehmer zu
erweisen.

Die Autoren stellen überzeugend dar. wie durch die Gesprächsanalyse
theologische Leitvorstcllungen überprüft werden können.
Klinikseclsorge erhält ihre Legitimation, wenn sie besonders todkranken
Menschen die Erfahrung des „mitgehenden Gottes" vermittelt.

Weimar Wolf-Gernot Weirich

Praktische Theologie:
Katechetik/Religionspädagogik

GOnzler, Claus, Kersticns, Ludwig, Mauermann, Lutz, Pöggeler,
Franz, u. Hans-Joachim Werner: Ethik und Erziehung. Stuttgart-
Berlin (West)-Köln-Mainz: Kohlhammer 1988. 208 S. gr. 8 Pp.
DM 39,80.

Im Zuge der Renaissance des Erzieherischen in Schule. Bildungspolitik
und Pädagogik gewinnt die Problemstellung des vorliegenden
Sammelbandes „Ethik und Erziehung" spannende Relevanz. Wie
Claus Günzler. der federführende Autor, in seinem Vorwort sagt, wollen
die sechs Einzclbeiträge zu einem ..fächerübergreifenden, argu-
mentativ-kooperativen Dialog" anregen (S. 9). Auf Seiten mit- und
weiterdenkender Leser kann ihnen das durchaus gelingen, obschon sie
selbst ohne direkte Bezugnahme relativ isoliert nebeneinander
stehen.

Dem vermögen auch die beiden Aufsätze von Claus Günzler nicht
abzuhelfen, die gleichsam den Rahmen für die anderen Beiträge bilden
. Im Eröffnungsaufsatz ..Zur ethischen Dimension erzieherischer
Neuorientierungen" (S. 11-46) geht es „am Beispiel der Lebens- und
Weltbejahung" um Grundsatzfragen der Thematik. Wichtig ist dabei
die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Pädagogik und Ethik „als
ein problembezogen-dialogisches Kooperieren zweier verschiedener
Disziplinen in gemeinsamen Aufgabenfeldern" (S. 18). Damit ist der
einschlägigen Diskussion ein gangbarer Weg gewiesen, der zwischen
den beiden überholten Extremauffassungen von der Ethik als „Grundwissenschaft
" oder „Hilfswissenschaft" der Pädagogik hindurch- und
weiterfuhrt. Wie das in concreto pädagogisch-ethischer Reflexion aussehen
könnte, macht Günzler an der von ihm favorisierten erzieherischen
Leitorientierung der „Lebens- und Wcltbejahung" deutlich.
Diese zu fördern, sollte zentrales Anliegen schulischer Erziehung sein.