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Ausgabe:

1989

Spalte:

912-914

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

England 1 und 2 1989

Rezensent:

Schulthess, Peter

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Theologische Literaturzeitung I 14. Jahrgang 1989 Nr. 12

912

zitiert, aber nicht wirklich rezipiert. Sollte die intensive Beschäftigung
mit diesem Aspekt des späten 16. und der ersten Hälfte des 17. Jh. der
historiographischen Konzeption, der W. folgt, quer gelegen haben?
Möglicherweise hängen damit auch Disproportionen im Aufriß des
Werkes zusammen. So z. B. leuchtet es nicht ein, welche im eigentlichen
Sinne philosophiegeschichtliche Bedeutung der Sozinianismus
hat, dem das gesamte 6. Kapitel gewidmet ist. W. kann für ihn im
Grunde genommen auch nur einen einzigen Autor - Ernst Soner -
namhaft machen. Auffällig, aber am ehesten wohl mit W.s bereits vorliegenden
Arbeiten erklärbar, ist auch der Umfang (200 Seiten), der
allein der Darstellung Valentin Weigels gewidmet ist. In solchen
Disproportionen spricht sich wohl der Grundsatz aus, daß in der in
Frage kommenden Epoche das die Geschichte vorantreibt, was insti-
tutions- und theologiekritisch ist.

Ein weiterer, vielleicht etwas seltsam klingender Wunsch stellt sich
bei der Lektüre von W.s großem Werk ein. W. stellt im Vorwort die
Fragen: „In welche Formen kleidete sich das philosophische Denken
der .kleinbürgerlichen', plebejischen und vorproletarischen Schichten
? Welche internationalen Einflüsse und Verbindungen sind dabei
nachweisbar? Wie mündete all dies in den Strom der Weltphilosophie
ein?", und er lügt hinzu: „Das sind einige Fragen, die in dieser Arbeit
untersucht werden" (S. 16). Der Wunsch, den die Lektüre dieser
Arbeit hinterläßt, lautet, daß dieses genuin marxistische Vorhaben
getrost etwas nachdrücklicher hätte angepackt werden können. Die
Abschnitte z. B., die sich mit dem Hexenglauben des 17. Jh. befassen
(Kap. 8, besonders S. 471-479), sind sich wohl der Bedeutung des
kulturgeschichtlichen Aspektes für die Philosophiegeschichte bewußt
(vgl. besonders S. 497!), dringen aber nicht bis zu einer wirklichen
Integration dieses Aspektes in die philosophiegeschichtliche Arbeit
vor. Und so bleibt dann doch als Fazit die Erkenntnis: „Die nähere
Untersuchung dieses Problems ist ein Forschungsdesiderat" (S. 890).
Ähnlich verhält es sich mit der Erhebung und Bewertung atheistischer
Stimmungen innerhalb der Unterschichten. Eine Einzeläußerung wie
die S. 46 zitierte ist hierfür nicht sehr aussagekräftig.

Ich habe mich gefragt, was an der Lektüre von W.s eindrucksvollem
Werk Mühe macht. Es sind dies wohl die breiten Referate und Zitate
nicht nur aus den Quellen (hierfür erweist sich das Werk als Fundgrube
!), sondern auch aus der außerordentlich reichlich herangezogenen
Forschungsliteratur, die dann mehrfach wenig abgewogen nebeneinander
stehen bleiben, ferner exkursartige Einschaltungen, die an
ihrer Stelle nicht recht motiviert wirken (vgl. S. 147, 249ff), oder EinSchübe
zur Wirkungsgeschichte (vgl. S. 3190, die einen deutlicheren
Platz verdient hätten, denen gegenüber wichtige Erkenntnisse am
Schluß einzelner Abschnitte eher etwas beiläufig formuliert werden
(z. B. S. 167), aber auch sachlich Zusammengehörendes, das an unterschiedlichen
Stellen zur Sprache kommt (vgl. z. B. S. 304f mit S. 336
und S. 532 mit S. 562). Formprobleme sehe ich auch in der Beobachtung
, daß das Werk über weite Strecken hin biographisch-persongeschichtlich
konzipiert ist und in seiner Disposition manchmal an
eine Zusammenstellung von Einzelbeiträgen erinnert (vgl. die Uberschrift
zu Kap. 8).

Der Vorzug dieses Vorgehens besteht darin, daß das Werk eine sehr
große Fülle von Informationen enthält, die sowohl durch das detaillierte
Inhaltsverzeichnis wie auch durch die beigegebenen Register
erschlossen werden. Bewundernswert ist die Fülle der verwendeten
Literatur, unter der - ein häufig anzutreffendes Merkmal marxistischer
historiographischer Literatur, die in der DDR erscheint - die
Forschung des 19. Jh. reichlich vertreten ist. Das Literaturverzeichnis
umfaßt allein 79 Seiten.

Soweit ich sehe, gibt es für W.s Werk bisher keine Konkurrenz.
Allein diese Stellung wird ihm-so ist zu hoffen - die verdiente Beachtungsichern
.

Leipzig Ernst Koch

Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie.

Völlig neubearb. Ausgabe. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts,
3,1 u. 3,2: England, hg. von J.-P. Schobinger. Basel: Schwabe 1988.
XXXIV, VIII, 874 S. gr.8°. Lw. sFr 160.-.

Die große Verbreitung von Ueberwegs Grundriss der Philosophie -
l2Auflagen zwischen 1863 und 1928-sicherten seinerzeit die Qualitätskriterien
: Objektivität und reichhaltige Dokumentation. Die vorliegenden
zwei Halbbände erfüllen beide Kriterien - streckenweise
besser als der alte Ueberweg. Die Dokumentation ist umfassender:
2000 Titel Primärliteratur, 2200 Titel Sekundärliteratur, 300 Werkbeschreibungen
und 3800 Namen sollen hier, laut Prospekt, vereinigt
sein. Was die für die zweite Hälfte des 19. Jh. noch typische Objektivitätsforderung
betrifft, so hat der Herausgeber, Jean-Pierre Schobinger,
dem gebrochenen Verhältnis, das man heutzutage dieser Forderung
gegenüber hat, so Rechnung getragen, daß die Reichhaltigkeit des
Materials zur Geltung kommt, philosophische Randthemen und
-Strömungen nach Möglichkeit Berücksichtigung fanden und die
Philosophiegeschichte des 17. Jh. geographisch und nicht ideengeschichtlich
oder mittels „Strömungen" gegliedert wird. Obwohl die
Regionalisierung der Wissenschaft gerade im 17. Jh. durch das Aufkommen
von internationalem Briefwechsel und wissenschaftlichen
Zeitschriften durchbrochen wird, hat sich doch diese geographische
Einteilung gelohnt: Sie macht es überflüssig, das Material mit geisteswissenschaftlichen
Epochenbegriffen einzufangen. Ueberwegs Gliederung
in drei Kapiteln („Die Zeit des Überganges": „Die konstruktiven
Systeme"; „Das Zeitalter der Aufklärung") weicht folgender Bandaufteilung
:

Band 1: Allgemeine Themen - Iberische Halbinsel - Italien
Band 2: Frankreich und Niederlande
Band 3: England

Band 4: Deutschland, Nord- und Osteuropa

Die Gliederung innerhalb einer Region ist ebenfalls nicht
„epochal", sondern sach- und personenbezogen. Der vorliegende
Band 3, der England (inkl. britische Inseln Irland, Schottland und
Wales und auch die USA, genauer: Harvard) beinhaltet, ist so in folgende
Kapitel unterteilt:

Kap. 1: Die Schulphilosophie

Kap. 2: Glaube, Vernunft, Erleuchtung

Kap. 3: Hobbesund sein Umkreis

Kap. 4: Der Piatonismus

Kap. 5: DerCartcsianismus

Kap. 6: Sprachtheorie

Kap. 7: Naturphilosophie, Aufbruch der Wissenschaft, Newton
Kap. 8: Politische Philosophie

Kap. 9: Locke und die Auseinandersetzungen über sein Denken
Der Objektivitätsforderung wird auch dadurch Rechnung getragen,
daß nicht von einem heutigen Philosophiebegriff her, sondern vom
Selbstverständnis der Autoren des 17. Jh. über „Philosophie" (ein
gesonderter Artikel dazu wird im Band I erscheinen) das Material ausgewählt
wird, das zur Darstellung kommen soll. Es wurde deshalb
angestrebt, den Philosophiebegriff so umfassend wie im 17. Jh. zu
gebrauchen: Vielfältigste Themen werden so angesprochen: biologische
(etwa: John Ray), theologische (etwa: Jeremy Taylor), mathematische
(etwa: John Wallis), physikalische (etwa: Isaac Newton),
chemische (etwa: Robert Boyle) etc. Man könnte also mit gutem
Recht von den vorliegenden Bänden umfassender als von einem
wissenschaftsgeschichtlichen Werk sprechen. Der" Herausgeber
begründet seine m. E. geglückte Auseinandersetzung mit der Problematik
der Objektivitätsforderung mit folgendem Selbstverständnis der
vorliegenden Philosophiegeschichte: „Diese Neubearbeitung der
Geschichte der Philosophie des 17. Jahrhunderts versucht das Material
für solche synoptischen Auslegungen bereitzustellen. Das ihr
zugrundeliegende Konzept des philosophischen Selbstverstänclnisscs
gestattet es, die Aufarbeitung relativ frei von bestehenden Zuordnungskategorien
wie Naturphilosophie, konstruktive Systeme. Auf-