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Ausgabe:

1989

Spalte:

909-911

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wollgast, Siegfried

Titel/Untertitel:

Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1989

Rezensent:

Koch, Ernst

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909

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 12

910

Philosophie, Religionsphilosophie

Wollgast, Siegfried: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation
und Aufklärung 1550-1650. Berlin: Akademie-Verlag 1988.
1037 S. m. 1 Faltktegr.8 Lw. M 98,-.

Auf Grund von „mehr als zehnjährigen Bemühungen" (S. 22) hat
Siegfried Wollgast (= W.) im Anschluß an eine große Anzahl von
Einzelstudien und Gesamtskizzen - sie sind im Literaturverzeichnis
S. 985f dokumentiert - dieses opus magnum mit einem vom März
1983 datierten Vorwort nach seit 1982 wiederholt ergangenen Verlagsvorankündigungen
vorgelegt. Es ist mit Spannung erwartet worden
, gibt es doch, wie das Vorwort mit Recht bemerkt, „bisher keine
zusammenfassende Arbeit über die Philosophie in Deutschland zwischen
1550 und 1650" (S. 21). Für den Theologen steigt die Spannung
, mit der er sich dem Buch zuwendet, um so mehr, als W.
bemerkt: „Wer die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte scheut,
wird für diese Zeit.. . kein akzeptables philosophiehistorisches Konzept
zustande bringen" (S. 17). M. a. W.: W. legt sein Werk in dem
Bewußtsein vor, mit ihm von der Position des dialektischen und historischen
Materialismus her auch und gerade mit Theologen ins
Gespräch zu geraten.

Zunächst sei ein Überblick über den Inhalt gegeben. Das Werk enthält im
Anschluß an das Vorwort, das konzeptionelle und grundsätzliche Bemerkungen
vorlegt und die Forschungslage skizziert, zunächst 12 Kapitel: I. Deutschland
in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jh. (u. a. allgemeiner
Überblick, Problematik der historiographischen Epochenbezeichnungen
). 2. Von der Naturphilosophie zur modernen Naturwissenschaft (Entwicklung
der Technik, Theologie und Geographie, Botanik, latrochemic,
Alchemie, Magie, Theosophie. Pansophie, Naturmystik u. a.). 3. Die Schulphilosophie
in Deutschland von 1550 bis 1650 (Reformation und Philosophie,
Ramismus, Metaphysik, protestantische und katholische Schulmetaphysik,
Auflösung der philosophischen Orthodoxie). 4. Das philosophische Weltbild
Johannes Keplers. 5. Johann Valentin Andreae. Versuch eines Überblicks
(Biographie, die „Christianopolis", Andreae, die Rosenkreuzer und der
Sozietätsgedanke). 6. Der Sozinianismus in Deutschland (Allgemeines zu Anti-
trinitariern und Sozinianern, Kryptosozinianismus, vor allem in Altdorf.
Gegner und Wirkungen, u. a. auf Westeuropa). 7. Joachim Jungius (Biographie,
Jungius und die Atomistik, zur Philosophie des J. Jungius). 8. Friedrich von
Spee und der Kampf gegen den Hcxcnabcrglauben. Ein Beitrag zur Entwicklung
des Toleranzdenkcns in Deutschland. 9. Valentin Weigel (Biographie und Wirkungen
, Weigcls Anschauungen, die „Weigelianer"). 10. Zur pantheistisch-
mystischen Entwicklungslinie in der deutschen Philosophie zwischen 1550 und
1650 (Luther, Müntzer, Weigel, Paracelsus, Böhme, Andreas Osiander,
Schwenckfeld, Weigel in der Forschungsgeschichte). 11. Jakob Böhme - Werk
und Wirkung. 12. Auf dem Wege zur Frühaufklärung (Neustoizismus in Schlesien
und in den Niederlanden, Hans Theodor von Tschesch und Abraham von
Franckenberg, Martin Opitz, Daniel Czepko, Andreas Gryphius, Johannes
Scheffler). Schlußbemerkungen, die größere Linien aufzeigen, an denen W.
liegt, Tabellen zur Frequenz der deutschen Universitäten zwischen 1550 und
1650 (nach F. Eulenburg, eine Übersicht über die Gründungsdaten europäischer
Universitäten bis 1648), eine Karte (deutsche und mitteleuropäische
Universitätsstädte 1648), Literaturverzeichnis und Register beschließen den
Band.

Es ist eine Doppelthese, die das Werk verfolgt: 1. Die Schulphilosophie
der Epoche ist reichhaltiger als ihr Ruf. 2. Die Schulphilosophie
der Epoche ist nicht die gesamte Philosophie der Epoche. Das bedeutet
, daß es W. um Korrekturen im Geschichtsbild zu tun ist, die er auf
dem Felde der Philosophiegeschichte ansetzen möchte. Die herkömmliche
negative Beurteilung der Entwicklung des philosophischen
Denkens in Deutschland beruht auf Unkenntnis, ist ahistorisch
und verträgt sich nicht mit dem dialektischen Entwicklungsgedanken
(S. 64). Träger des historisch Neuen ist oft die Theologie (S. 64 und
127). Hierbei sind es zwei theologische Traditionen, die den philosophischen
Fortschritt repräsentieren: Die Gruppe der radikalen Kritiker
an den religiösen Institutionen, gleichzeitig Vertretereines unkonfessionellen
Christentums - zu ihr gehören nach W. Valentin Weigel,
Daniel Czepko, Abraham von 1 ninckenberg und Jakob Böhme (so

S. 241). W. findet aber die für ihn entscheidenden pantheistischen
Elemente auch bei anderen Autoren bis hin zu Kepler und Johann
Scheffler wieder (S. 256, bes. 601 ff und 887) - und die Tradition, die
bei Luther ansetzt (S. 32,219f, 712, vgl. auch 241) - hier profitiert die
Darstellung W.s von der Neubewertung der Rolle Luthers durch die
marxistische Historiographie im Vorfeld des Jubiläums von 1983, ja,
W. äußert im Vorwort (S. 18) sogar die Befürchtung, die positiven Folgen
der „Frühbürgerlichen Revolution" könnten in seiner Darstellung
nicht hinreichend deutlich zur Sprache gekommen sein.

Was das Buch besonders auszeichnet, ist der weite inhaltliche
Radius, den es umgreift. Somit kommt eine große Fülle von Namen
und Sachproblemen zur Sprache. Besonderen Wert legt W. auf die
Erfassung und Darstellung der Quellen (vgl. besonders S. 676!), da er
mit Recht beobachtet, in wie starkem Maße das Bild dieser Epoche
der Philosophiegeschichte von Urteilen bestimmt ist, die einerseits
schematisierend wirken, andererseits damit aber auch eine intensivere
Erforschung der Probleme als nicht recht lohnend erscheinen lassen.
Diesem Bild gegenzusteuern und auf notwendige Differenzierungen
aufmerksam zu machen, gehört zu den großen Verdiensten dieses
umfangreichen Werkes.

Zu ihnen gehören ferner brauchbare und anregende Sachanalysen,
wie W. sie etwa zum Stichwort „Naturphilosophie" vorlegt
(S. 112-116). Daß auf diesem Feld in einer solchen Monographie
nicht alles Wünschbare geleistet werden kann, liegt auf der Hand. So
lesen sich viele resümierende Bemerkungen eher wie Aufgabenstellungen
und Problemanzeigen - auch dort, wo sie als z. T. umfangreiche
Darstellungen konzipiert sind (so z. B. bei der Untersuchung
des Verhältnisses Weigels zu Müntzer, S. 637-647).

Selbstverständlich wird nicht jeder Leser auch alle Einzelurteile
W.s teilen können. Das liegt teilweise am Forschungsstand, den das
Buch nach Abschluß des Manuskripts im Jahre 1983, allerdings mit
Literaturnachträgen bis 1985 (vgl. S. 638 Anm. 114, 665 Anm. 214
und 686 Anm. 35), repräsentiert - freilich wäre es nicht notwendig
gewesen, bei Andreas Osiander auf dem Forschungsstand von
Emanuel Hirsch zu argumentieren (S. 665-667) -, teilweise aber auch
an Beurteilungskategorien, die wiederum mit der vorgelegten Gesamtkonzeption
zusammenhängen. Als Beispiel sei W.s Beurteilung der
Stellung Jakob Böhmes in der Philosophiegeschichte angeführt. Mag
man mit W. auch mit bisherigen Versuchen seitens der Theologie,
Böhmes unverwechselbare Bedeutung zu erfassen, unzufrieden sein,
so wird doch W.s eigener Lösungsversuch ebensowenig befriedigen:
„Der gemeinsame Nenner der materialistischen Ansätze und der
überwuchernden Phantastik ist die Kritik an der scholastischen und
der lutherischen Gottesvorstellung, an der Ideologie der bestehenden
Gesellschft überhaupt. Wachsende Phantastik ist die unumgängliche
Ausdrucksform dieser Sozialkritik" (S. 679).

Gravierender als Differenzen gegenüber Einzelurteilen sind dann
jedoch Einwände konzeptioneller Art. Möglicherweise hat W.s Sicht
der die behandelte Epoche bestimmenden historischen Kräfte, die er
mit dem größten Teil der marxistischen Geschichtswissenschaft teilt,
dann doch auch erhebliche Folgen für die Ergebnisse seiner Darstellung
. Für den Kirchenhistoriker machen sich diese Voraussetzungen
in dem Bild der sog. altprotestantischen Orthodoxie bemerkbar, dem
W. folgt. Sie hat für ihn um 1600 einen qualitativen Tiefstand erreicht
(S. 157). W. läßt sich wohl von Hans-Henrik Krummacher - eher
etwas beiläufig - zu Differenzierungen, ja, zur Erwägung des Phänomens
einer „Reformorthodoxie" anregen („Sicher muß man unter der
Orthodoxie, auch innerhalb der Reformorthodoxie, differenzieren.
Kurzschlüssigkeit sollte man vermeiden. Jedenfalls spielt die Reformorthodoxie
des protestantischen Deutschlands eine bedeutend größere
Rolle, als in bisherigen theoretischen Abhandlungen zumeist dargestellt
", S. 865 - vgl. bereits S. 563). Aber diese Erkenntnis hat keine
Folgen für die Gesamtdarstellung. Mag auch der Begriff der Reformorthodoxie
nicht unüberholbar sein, so ist doch das Phänomen, das er
bezeichnet, bereits lange im Gespräch. Hans Leubes Monographie
von 1924 wird von W. zwar in einer Anmerkung (S. 213 Anm. 213)