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Ausgabe:

1989

Spalte:

905-907

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Prien, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Evangelische Kirchwerdung in Brasilien 1989

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 12

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Berleburger Arzt Johann Konrad Kanz. Die Identifizierung der Autoren
Carl und Kanz ist das Verdienst des Vf.

Das 4. und umfangreichste Kapitel befaßt sich mit der Druck- und
Verlagsgeschichte der „Historie" und demonstriert an ihr „Publikationsbedingungen
und Publikationsleistung der Zentren radikalpieti-
stischer Literaturproduktion". Der Spezialfall wird also ausgeweitet
zu einer Teilgeschichte der pietistischen Publizistik. Dabei handelt es
sich um ein Gebiet, über das es bisher leider noch wenig Untersuchungen
gibt, das aber durchaus Aufmerksamkeit verdient, weil zum einen
die Drucker und Verleger interessante Figuren sind und zum anderen
die Verbreitung radikalpietistischer Literatur erkennbar wird. Die
Bücherproduktion des radikalen Pietismus wird griffig als „Normverletzung
" charakterisiert, mußte sie doch die im Deutschen Reich
bestehende Zensur unterlaufen. Vf. faßt den Forschungsstand über die
Zensur gut zusammen. In den kleinen westdeutschen Grafschaften,
deren Landesherren selbst dem radikalen Pietismus nahestanden,
wurde die herrschende Norm nicht mehr anerkannt. So konnten hier
Zentren der Buchproduktion des radikalen Pietismus entstehen.

Die ersten beiden Auflagen der „Historie" erschienen bei Bonaventura
de Launoy im isenburgischen Offenbach. 104 von ihm publizierte
Titel werden nachgewiesen. Sie vermitteln einen Eindruck von
der Bedeutung eines derartigen Verlags für den radikalen Pietismus.
Dies gilt in verstärktem Maße für den Verleger Johan Jacob Haug, der
sich zunächst im nassau-usingischen Idstein betätigte und später seine
Firma .in das wittgensteinische Berleburg verlegte. Haugs Bruder
Johann Friedrich war der Herausgeber der Berleburger Bibel. Die
Familie stammt aus dem radikalen Pietismus Straßburgs. Vor allem
die Bcrleburgcr Buchproduktion (116 Titel), das Geschäftsgebaren des
Verlags und der Vertrieb, beiläufig auch die Beziehungen nach
Amerika, werden in bisher nie erreichter Genauigkeit dargelegt. Insgesamt
zeigt sich, daß die Buchgeschichtc des Pietismus genau so
wichtig und interessant sein kann wie die der Reformationszeit.

Das abschließende 5. Kapitel trägt viel über die Rezeptionsgeschichte
der „Historie", beispielsweise über die Leserschaft, Auflagenhöhe
und Preise, zusammen. Die Fülle der Aspekte ist auch hier
anregend. Die Besitznachweise müssen natürlich punktuell bleiben.
Die Zeugnisse Tür die Wirkung (von A. H. Francke bis zu Schopenhauer
) verraten etwas von der Bedeutung radikal-pietistischer Literatur
für die Literaturgeschichte überhaupt und lenken damit zum Ausgangspunkt
zurück.

Dem Germanisten ist zu danken, daß er sich auf etwas eingelassen
hat. was als Randgebiet seines Faches gelten mag, und die Mühen
interdisziplinären Randgängertums nicht gescheut hat. Die Fruchtbarkeit
und die Modernität seines Vorgehens sind evident. Die große
Untersuchung ist insgesamt sehr sorgfältig gearbeitet. Lediglich hinsichtlich
der territorialen Zuweisungen von Orten sind mir gelegentlich
modernisierende Ungenauigkeitcn aufgefallen. Öhringen war
hohenlohisch. Esslingen und Bopfingcn waren Reichsstädte, d. h. alle
nicht württembergisch.

Münster Martin Brecht

Prien, Hans-Jürgen: Evangelische Kirchwerdung in Brasilien. Von

den deutsch-evangelischen Einwanderergemeinden zur Evangelischen
Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. Gütersloh:
Mohn 1989. 640 S. m. 21 Abb. 8" = Die Lutherische Kirche.
Geschichte und (restatten, 10. Kart. DM 78,-.

Der Marburger Kirchenhistoriker Hans-Jürgen Prien lehrte
l9(,o_73 an der Theologischen Hochschule Sao Leopoldo in Brasilien
; seine Geschichte des Christentums in Lateinamerika (Göttingen
1978) gilt als Standardwerk. Das neue Buch greift ein Thema auf mit
vielen Bezügen. Prien bedauert, er habe zu sehr die Amtsträger in den
Vordergrund gerückt, obwohl es ihm um „Kirchcngcschichtc und
nicht Pastorengeschichte" gehe (24). Tatsächlich wird Kirchengeschichte
von einzelnen Christen getragen, seine Darstellung stellt
auch Institutionen und Sachfragen deutlich vor Augen. - Kapitel I

schildert die Anfänge deutschen evangelischen Diaspora-Volks-
kirchentums im 19. Jh. in Brasilien. Von Preußen bzw. vom Deutschen
Reich her bestand Interesse an den Auswanderern. P. nutzt die
Arbeit von Jürgen Hell „Die Politik des Deutschen Reiches zur
Umwandlung Südbrasiliens in ein überseeisches Neudeutschland
(1890-1914)" (Diss. phil. Rostock 1966). Unter verschiedenen
Umständen entstanden evangelische Gemeinden. Man verfuhr „eher
intuitiv als bewußt nach Luthers Ratschlag an die kursächsische
Gemeinde Leisnig aus dem Jahre 1523 ..." (82). Es entstanden
„Basisgemeinden im wahren Sinne des Wortes" (83). Den ökumenischen
Kontext bildete primär die Katholische Kirche (59-94). doch
gab es auch innerprotestantische Probleme (94-104). Kapitel 2
„Regionale und lutherische Kirchwerdung" zeigt den Zusammenschluß
zu vier größeren Kirchenverbänden: Die Riograndenser
Synode (RGS), der Evangelische Gemeindeverband von Santa Catha-
rina (EGV), die mittelbrasilianische Synode (MBS) und die Evangelisch
-Lutherische Synode „Gotteskastensynode" (ELS). Diese vier
Kirchen gingen eigene Wege in das 20. Jh., gemeinsam war die
bewußte Pflege deutscher Traditionen.

Im ersten Weltkrieg verstärkte sich das deutsch-völkische Denken,
nach 1918 hielt man sich bewußt an die alte Heimat (Kapitel 3,
205-298). Die Deutsche evangelische Kirche von Rio Grande do Sul
(RGS) hielt sich an die preußische Unionskirche und erbat 1924 einen
„Ständigen Vertreter" des Evangelischen Oberkirchenrates Berlin.
Die Verantwortung ging jedoch vom EOK an den Deutschen Evangelischen
Kirchenbund (DEKB) über (237fr). Die Evangelisch-Lutherische
Synode (ELS) erstrebte 1929 den Anschluß an die bayerische
Kirche. Da die bayerische Synode ablehnte, gab es engere Beziehungen
zum nordamerikanischen Luthertum. Erst 1932 schloß sich auch
die ELS dem DEKB an (278ff). Prien wertet es positiv, „daß sich die
ELS in einem Abnabelungs- und Emanziationsprozeß vom Gotteskasten
befand, der auf dem Wege zur späteren brasilianischen Kirch-
werdung unvermeidlich war. Denn der Anschluß an den DEKB sollte
die zukünftige Zusammenarbeit mit den übrigen 3 Synoden und den
schlicßlichen Zusammenschluß mit ihnen vorbereiten" (285). Die
mittelbrasilianische Synode bedauerte gelegentlich das Eindringen
brasilianischen Wesens und fordert, daß die Pfarrer auch die portugiesische
Sprache beherrschen sollten. Ein Bericht stellt 1928 über eine
Gemeinde fest: „1000 Gemeindemitglieder. Verwelschungsprozeß.
von 200 deutschstämmigen Kindern nur 14 in der deutschen Schule"
(295).

Besonders brisant ist Kapitel 4 „Kirche-Deutschtum-Nationalsozialismus
: Die deutsch-evangelischen Synoden in den dreißiger
Jahren" (299-462). Das Hauptproblem war „die immer wieder
betonte ekklesiologische Zielsetzung, Volkskirchc deutscher und
evangelischer Art werden zu wollen; das machte die Synoden auch
anfällig für deutsch-christliche Gedanken" (302). Im Briefcines Theologen
1936 liest man: „In einem romanisch-katholischen Lande ist in
der Praxis das Deutschbleiben vom Evangelischblciben kaum zu trennen
; eines steht und fällt mit dem anderen. Die evangelische Kirche
der Deutschbrasilianer gleicht daher einer Zeder an steilem, unterspülten
Flußufer, die mit zähen Wurzeln einen Fels umklammernd
festhält und von ihm getragen wird: dieser Fels ist das Deutschtum"

(413) . Mit Recht sagt P., dieses „Bild vom Deutschtum als Felsen, der
die Kirche trägt" grenze an Häresie (414). Ende 1933 wurde Karl
Barth befragt, der verständnisvoll antwortete. Das „irdische Grunddatum
" der Gemeinde solle beachtet werden, der Wunsch nach Erhaltung
des Deutschtums sei berechtigt. Aber Barth warnt vor der Versuchung
, „das irdische datum mit dem himmlischen dandum zu verwechseln
oder es ihm als Faktor von gleicher Würde zu koordinieren.
Dann wäre man bei den zwei Göttern der Deutschen Christen .. ."

(414) . Ende 1933 bekannten sich „zwei Drittel der Pfarrer der RGS als
Nationalsozialisten und damit auch als Deutsche Christen ..." (421).
Im März 1938 gab es in dieser RGS eine Arbeitsgemeinschaft der
Bekennenden Kirche mit 38 Mitgliedern, „etwas mehr als ein Drittel
der Synodalplärrcr" (449). Über den Kirchenkampf in Deutschland