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Ausgabe:

1989

Spalte:

903-905

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schrader, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus 1989

Rezensent:

Brecht, Martin

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 12

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den genannten Stadtzentren als ein Aufbegehren unterer Bevölkerungsschichten
gegen den Diözesan- und Stadtklerus wuchs im Lauf
der Jahrzehnte in der Mitte des Reformationsjahrhunderts zu einer
nationalen Partei, die wiederum ihre sozialen Wirkungen, ja politischen
Führungsansprüehc hatte und von dem außer Landes gegangenen
Calvin geleitet wurde.

Ein ganzes Kapitel ist den Wirkungen Calvins in Frankreich gewidmet
, speziell dem Anwachsen "of Calvinist Ascendancy" von 1536
(Jahr der Erstausgabe der Institutio Christianae Religionis) bis 1550
(1 1 1-141). Dieser Abschnitt wirkt etwas unorganisch eingesprengt in
die Städtereformationsgeschichte, bringt auch keine Wirkungsgeschichte
im Sinnes eines Aufzeigens von Lehreinwirkung und
Strukturwandlungen, aber er ist im folgenden Sinne lehrreich: "This
chapter will concern itself with those factors which facilitated the
growth of Calvin's influence in France. It will try to show how, from
exile in Geneva, Calvin was able gradually to gain moral and
intellcctual ascendancy over the French Reformation." (111)

Im ganzen lehrt der vorliegende Band ein Stück Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Frankreichs im 16. Jh., speziell was die sieben
genannten Städte angeht. Das ist zweifellos eine wichtige Teilauskunft
, die aber, für sich allein genommen, noch nicht transparent
macht, warum große Teile Frankreichs bis zu den Hugenottenkriegen
in einer Weise evangelisch waren, daß daraus auch ökonomische, ja
sogar bcvölkcrungsstrukturelle Konsequenzen erwuchsen. Der Vf.
verweist auf die Wirtschafts- und allgemeine Bevölkerungskrise seit
dem 2. Drittel des 16. Jh. in Frankreich. Die ausbeuterische Finanzpolitik
des französischen Herrscherhauses, die Belastung durch feudalistisches
Zinswesen und die zunehmende akute Stadtarmut in der
genannten Zeit machten, abgesehen von allen Lehrveränderungen im
Verkündigungsvollzug der Kirche, die Zeitgenossen reif Für Reformen
. Heller stößt angesichts dieser Fragestellungen wie von selbst auf
alte Sätze im der Sozialethik zugewandten Calvinismusverständnis
und ventiliert in diesem Zusammenhang Thesen von Max Weber in
der Nähe zu Marx (256) und Lenin (112). Diese seine Ansätze Führt
der Vf. leider nicht im Konkreten aus.

Die Hauptthese Hellers deutet darauf, daß die französische Reformation
zunächst ihre Basis bei den Handwerkern in den Städten hatte.
(70) Es darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß dann, besonders
aufweisbar in Meaux und Roucn, Humanisten, Kleriker, städtische
Standespersonen und reiche Kauflcute von der Reformation
angezogen wurden. Es ist das Verdienst des Vf., die dadurch gegebenen
Dimensionen der reformatorischen Bewegung in Frankreich vor
Augen gebracht zu haben.

Görlitz Joachim Rogge

Kirchengeschichte: Neuzeit

Schräder. Hans-Jürgen: I.iteraturproduktion und Büchermarkt des
radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz' „Historie Der Wieder-
gebohrnen" und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1989. 635 S. gr.8° = Palaestra, 283. Kart.
DM 198.-.

Dem Titel nach handelt es sich bei dieser Göttinger germanistischen
Dissertation von 1979, die nachträglich überarbeitet wurde,
um ein Spezialthema aus der Geschichte des Pietismus, das durch den
Untertitel nochmals eingeschränkt wird auf das Umfeld der zwischen
1698 und 1753 in 6 Auflagen erschienenen siebenbändigen
„Geschichte der Wiedergebohrnen" des reformierten Radikalpietisten
J. H. Reitz. Schräder hatte sie bereits 1982 in einem Reprint mit
wcrkgeschichtlichem Anhang neu. herausgebracht. Tatsächlich
jedoch beansprucht die Arbeit begründet in mehrfacher Hinsicht
exemplarische Bedeutung, und dies sollte trotz ihrer etwas verwinkelten
Anlage nicht übersehen werden. Die Darstellung bietet weit mehr.

als der Titel erkennen läßt, und dabei handelt es sich vielfach um neue
relevante Aspekte. Sie ist ihrerseits breit unterbaut durch einen
Anmerkungsteil von 180 Seiten, der eine F'undgrube an Informationen
über den Pietismus und sein Verhältnis zur Literaturgeschichte
bildet. Eine etwas komplizierte Spczialbibliographie zum engeren
Thema von 637 Nummern schließt sich an. Wie die Anmerkungen
ausweisen, hat der Vf. aber noch weit mehr Quellen und Literatur herangezogen
. Er erweist sich somit als einer der nicht allzu zahlreichen
germanistischen Experten für den Pietismus, den die einschlägige
kirchengeschichtlichc Forschung als Partner gerne begrüßt.

Das 1. Kapitel setzt sich mit dem Stand germanistischer Pietismusforschung
auseinander, um den es trotz Anerkennung der Bedeutung
des Gegenstandes nicht so gut steht, wie es wünschenswert wäre. In
der Tat tut sich der Kirchenhistoriker häutig schwer, wenn er germanistische
Hilfe bei der Qualifizierung pietistischer Dichtung
braucht. An die pietistisehe Massen- oder Kleinliteratur hat sich die
Germanistik kaum herangewagt. Die Ansätze einer Erkundung vor
allem der Autobiographien und Kunstanschauungen des Pietismus
werden vom Vf. diskutiert. Besondere Defizite werden hinsichtlich
der Beschäftigung mit dem radikalen Pietismus konstatiert, obwohl
diesem eine eigene Bedeutung für die Entwicklung der deutschen
Literaturgeschichte zukomme. Dies wird in der Arbeit immer wieder
hervorgehoben und teilweise dann auch belegt. Möglicherweise verfällt
der Vf. dabei einer verständlichen Überschätzung seines Gegenstandes
zu Lasten der Breiten- und Tiefenwirkung kirchlich-pietistischer
Autoren. Der Hinweis auf die Bedeutung der radikal-pietistischen
Untergrundliteratur, jenes „literaturgeschichtliche Skandalon"
(S. 11), das es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, ist jedoch grundsätzlich
berechtigt.

Das 2. Kapitel grenzt terminologisch und historisch Pietismus,
Radikalpietismus und philadelphische Bewegung ein. Für den Kirchenhistoriker
ist interessant, daß der Germanist Für die herkömmliche
zeitliche Periodisierung des Pietismus auf die Zeit von 1670 bis
in die zweite Hälfte des 18. Jh. votiert und den Neupietismus davon
abgrenzt. Eine Reihe von Pietismusforschern neigt jedoch heute dazu,
den europäischen und deutschen Pietismus bereits mit den Frömmigkeitsbewegungen
um 1600 beginnen zu lassen, und sie hält ihn für
eine bis heute lebendige Richtung. Faktisch greift auch der Vf. nach
vorne und hinten immer wieder über die von ihm gesteckten Grenzen
aus. Grundsätzlich wird zwischen Germanistik und Kirchcnge-
schichtsforschung zu erörtern sein, ob die herkömmliche Eingrenzung
des klassischen Pietismus nicht eine folgenreiche, willkürliche Definition
ist, die vorhandene Zusammenhänge verstellt. Über die Mitgift
des Pietismus wird weithin Anfang des 17. Jh. entschieden, und sie ist
zumindest bis ins 19. Jh. vorhanden. ZutrefTend tritt der Vf. dir die
Einheitlichkeit des Pietismus trotz seines Facettenreichtums und vorhandener
Gegensätze ein. Richtig gesehen ist auch, daß der Übergang
vom kirchlichen zum radikalen Pietismus ein gleitender ist.

Das 3. Kapitel bietet die Werkgeschichte von Reitz' „Historie der
Wiedergebohrnen". Eine verkürzte Fassung findet sich bereits als
Anhang zu Schräders Edition. Der Autor Reitz wird eher beiläufig
thematisiert. Hier kann auf die Arbeilen von Rudolf Mohr verwiesen
werden. Auch auf die von der „Historie" gebotenen Biographien wird
nur gelegentlich eingegangen. Die Untersuchung konzentriert sich auf
die komplizierte und darum bisher oft fehlerhaft dargestellte Werkgeschichte
. Der erste Teil von 1698 übernimmt die von Vavasor
Poewll 1653 in zweiter Auflage herausgegebenen Biographien puritanischer
Frauen. Die weiteren Biographien stammen aus unterschiedlichen
Quellen oder sind eigens für das Sammelwerk verläßt.
Die „Historie" ist dauernd gewachsen und teilweise auch verändert
worden. 1701 kommen die Teile zwei und drei hinzu. Die Ausgabe
von 1716 enthält vier Teile, ein Jahr später sind es Fünf. Nach dem
Tod von Reitz steuert 1730 der Berleburger Arzt Johann Samuel Carl
einen sechsten Teil bei. Die Abfassung des siebten Teils von 1745 war
zunächst F. C. Octinger und dann J. C. Edelmann angetragen, ausgeführt
wurde sie dann aber von dem aus Württemberg stammenden