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Ausgabe:

1989

Spalte:

830-831

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Stritzky, Maria-Barbara von

Titel/Untertitel:

Studien zur Überlieferung und Interpretation des Vaterunsers in der frühchristlichen Literatur 1989

Rezensent:

Mühlenberg, Ekkehard

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I

829 Theologische Literaturzeitung 1 14. Jahrgang 1989 Nr. I I 830

In der letzten Zeit gewinnen die Kontroversen auf dem Felde der
kirchlichen Zeitgcschichtsschrcibung an Intensität. Dieses Phänomen
steht im Zusammenhang mit der Entdeckung weiterer sensibler Problemzonen
in der Geschichte des deutschen Protestantismus im
20. Jh. Auch haben sich manche Urteilsakzente und Perspektiven
unter dem Einfluß einer die akademische Historiographie bedrängenden
alternativen Geschichtsschreibung, die ein großes Lesepublikum
hinter sich hat, gewandelt. Was die Persönlichkeit und das kirchenpolitische
Wirken des einstigen Landesbischofs von Hannover,
August Marahrens (1875-1950) angeht, so schwelten die Konflikte
schon länger. Auf der einen Seite stand die von ihren Gegnern als apologetisch
abgewiesene Darstellung von Eberhard Klügel: Die lutherische
Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933-1945. 2 Bde.
Berlin' Hamburg 1964/65. Auf der anderen Seite sah man eine in den
Bahnen Barmcns und Dahlems fortschreitende kirchliche Zeitgeschichtsschreibung
, welche alle Protagonisten des Kirchenkampfes,
die nicht der eigenen ekklesiologischen und'kirchcnpolitischen Linie
entsprachen, mit scharfer Kritik bedachte.

Das Buch von Gerhard Besier: ,,Selbstreinigung" unter britischer
Besatzungsherrschaft. Die evangelisch-lutherische Landeskirche
Hannovers und ihr Landesbischof Marahrens 1945-1947. Göttingen
1986, hat den Konflikt neu belebt. Besier hat sich mit der historischen
Rekonstruktion der Vorgänge, die zum ruhmlosen Abgang von
August Marahrens aus dem Bischofsamt führten, die Frage zugezogen,
ob nicht auch er in die gefährliche Nähe der Apologie geraten sei? Es
waren die „Lutherischen Monatshefte", die sich zur Plattform entsprechender
Diskurse machten (LM 26,1987,544-547,547-549:27,
1988. 68f. 70f). Schmidt-Clausen (Abt von Amelungsborn, zuletzt
Landessuperintendent des Sprengeis Osnabrück) tritt mit seinem
Büchlein also nicht in ein Vakuum, sondern im Gegenteil in eine
höchst zerklüftete Meinungslandschaft hinein. Was ihn zur Feder
greifen ließ, sind Ehrerbietung und Zuneigung der umstrittenen
Bischofspersönlichkeit gegenüber, vor allem aber der Schmerz, sie als
„Unperson" behandelt zu sehen (9). Die Rückendeckung für sein
Unternehmen. ..Wirklichkeit und Legende" voneinander zu scheiden,
findet er in eigenen Erinnerungen, in einem Gedenkbuch, das zwei
Jahre nach dem Tod des Bischofs erschienen ist (Walter Ködderitz
(Hg.]: August Marahrens. Pastor Pastorum zwischen zwei Weltkriegen
. Hannover 1952) sowie im Rekurs auf neue Quellen. Der Autor
möchte der auf ..unzutreffenden Voraussetzungen aufgebauten
Unwahrheit" über Marahrens entgegentreten (16).

Vordem Leser wird die Biographie des Bischofs von den Anfängen
als Studiendirektor auf der Erichsburg bis zu seiner Resignation vom
Amt im Jahr 1947 entfaltet. Eingebettet in dieses lebensgcschichtliche
Panorama sind die Jahre des Kirchenkampfes. Als dienstältester Landesbischof
stand Marahrens in besonderer Verantwortung weit über
Hannover hinaus, u. a. als Vorsitzender der 1. Vorläufigen Kirchenleitung
, als Vorsitzender der Kirchenführerkonferenz, von
1939-1945 auch als Mitglied des Geistlichen Vertrauensrates der
DEK. Unter Beiziehung von Berichten der NS-Rcgierungs- und NS-
Polizeiorgane (53-73) geht es Schmidt-Clausen nicht zuletzt um den
Nachweis, wie geschickt und erfolgreich sich Marahrens in der hannoverschen
Landeskirche der Deutschen Christen zu erwehren wußte.

Einen besonderen Stein des Anstoßes bilden die regimeloyalen
Kundgebungen des Geistlichen Vertrauensrates zum Ausbruch des
2. Weltkrieges und zum Überfall auf die UdSSR. Schmidt-Clausen
führt dazu einige Materialien an, welche die Urheberschaft von
Marahrens stark relativieren, und stellt die Frage, „ob die Gleichung
GVR-Kundgebungen = politische Ansichten von Marahrens noch
weiterhin Gültigkeit beanspruchen kann?" (84).

In einem Anhang(II5IT) schreibt Erwin Wilkens, früher Vizepräsident
des Kirchenamtes der EKD. über den „Fall Marahrens aus der
Sicht eines Zeitgenossen". Was Schmidt-Clausen im begreiflichen
Eifer, die Waage nach der positiven Seite zu heben, versäumt oder
jedenfalls nicht hinreichend deutlich artikuliert, bringt Wilkens klar
auf den Begriff: „Wer manche ungerechtfertigt erscheinende Kritik an

Bischof Marahrens zurechtrücken möchte, muß ihm aber in den politischen
Schlußfolgerungen seines Staatsverständnisses um so deutlicher
widersprechen" (133). Auf einem anderen Blatt steht die Form,
in der man dem Bischof nach 1945 die weitere Mitwirkung an der Kirchengestaltung
versagte. Hierzu meint Wilkens, es wäre der trotz
allem „subjektiv ehrenwerten Persönlichkeit" des Bischofs angemessen
gewesen, „die damals Beteiligten hätten dafür zumindest einen
anderen Stil gefunden" (135).

Daß der „Fall Marahrens" auch in Zukunft nicht zur Ruhe kommen
wird, dafür sorgen schon die unterschiedlichen Meinungsprägungen
innerhalb und außerhalb der Grenzen Hannovers. Außerdem ist
eine Dissertation von Karl-Heinrich Melzcr aus Kiel über den Geistlichen
Vertraucnsrat angekündigt, die sich eine „Ehrenrettung" des
Bischofs vorgenommen hat (78). Die Suche nach einer historisch
adäquaten Perspektive bei der Betrachtung von Leben und Werk des
umstrittenen Landesbischofs von Hannover wird sich hoffentlich
nicht in richtungspolitischer Polemik festfahren, sondern der kirchlichen
Zeitgeschichtsschrcibung methodisch wie sachlich einen Zugewinn
erbringen.

Leipzig Kurt Nowak

Dogmen- und Theologiegeschichte

Stritzky. Maria-Barbara von: Studien zur Überlieferung und Interpretation
des Vaterunsers in der frühchristlichen Literatur. Münster
/W.: Aschcndorff 1989. VIII, 208 S. gr. 8° = Münsterische Beiträge
zur Theologie. 57. Kart. DM 58,-.

Das Buch ist eine Dissertation am Fachbereich Katholische Theologie
der Universität Münster. In theologicis ist der Ursprung bemerkbar
, in philosophicis hat sich die Vfn. schon ausgewiesen. Ein erster
Teil (S. 7-49) erhebt die „Rezeption der Gebetsunterweisung Jesu im
I. und 2. Jahrhundert". Über die Texte in Mt6.9-13 und Lk 11.2-4
wird ein Ordnen der gewiß umfangreichen Literatur versucht im Hinblick
auf die wahrscheinlicheren Thesen der Mehrheit; es ist ein enttäuschendes
Lesen, sollte man sich über die Exegese informieren wollen
. Munterer wird es, wo nach Anklängen und Zitaten in der Überlieferung
der ersten beiden Jahrhunderte einschließlich des Neuen
Testaments gesucht wird. Dabei soll sich recht viel ergeben, wenn
man die Voraussetzung teilt, daß das Vaterunser - weil das von Jesus
gelehrte Gebet - auch das Grundgebet der ersten Christenheit war.
Teilt man nicht die Ansicht, daß Anklänge an die Vaterunserbitten
auch dieses ganze Gebet voraussetzen, so bleibt als Fazit nur, daß
liturgische Vcrwendungam Ende des 2. Jh. weit verbreitet war.

Eigenständig ist der zweite Teil, der Interpretation enthält zu Ter-
tullian. De oratione (S. 50-69), zeitgenössischen philosophischen
Gebctstheorien (S. 71-104) und Origenes. De oratione als christliche
Antwort darauf versteht (S. 104-180). Zu Tertullian erfährt man
zuerst etwas zum zitierten biblischen Text, der nach Tertullian die
Gebetslehrc Jesu ist, im Wortlaut die Matthäusfassung wiedergibt, obwohl
dies nicht ausdrücklich von Tertullian vermerkt wird. Richtig ist
die Schrift als katechetischc Einführung in das christliche Leben
gedeutet, was ja auch durch die deutliche Angabe „omnem paene
sermonem Domini. omnem commemorationem diseiplinae. ut revera
in oratione breviarium totius Evangelii comprehendatur" (I 6) unübersehbar
ist. Schön wird insbesondere der Grundbezug zur eschato-
logischcn Hoffnung,herausgearbeitet: darin ist die Konsequenz des
Martyriums eingeschlossen, wie die Erläuterung der dritten Vater-
unserbitle durch das Gethsemanegebet Jesu (Lk 22,42) zeigt. Überhaupt
zeichnet sich, wie hervorgehoben wird. Tertullians Auslegung
durch die Einbeziehung des Beispiels Jesu aus. so daß die Erläuterung
des Vaterunsers zur „imitatio Christi" anleitet (vgl. S. 69).

Hellhörig ist die Vfn. dafür, daß sich Tertullian der „gedanklichen
Ausdrucksmittcl seines kulturellen Umfeldes" bedient, „um den Neu-
bekchrten mit Hilfe"der ihnen vertrauten Gedanken einen Zugang