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Ausgabe:

1989

Spalte:

802-804

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Otto, Eckart

Titel/Untertitel:

Wandel der Rechtsbegründungen in der Gesellschaftsgeschichte des antiken Israel 1989

Rezensent:

Sauer, Georg

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I

801 Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr.

len und immateriellen Handelns von Menschen, Objektivierung ist
die Gewinnung einer Wirklichkeit (durch die Produkte wiederum sowohl
materiellen wie immateriellen Handelns) einer Wirklichkeit, die
ihren Hervorbringern dann als Faktizität. außen und anders als sie
selbst gegenübersteht, lnternalisierung ist die Wiederaneignung eben
dieser Wirklichkeit seitens der Menschen, die sie noch einmal aus
Strukturen der objektiven Welt in solche des subjektiven Bewußtseins
umwandeln." (S. 4) In diesem Prozeß wird Sinn durch menschliches
Handeln gesetzt, es entstehen Sinnstrukturen, durch deren Weitergabe
(Sozialisation) und Wiederaneignung die menschliche Gesellschaft
erhalten wird. Sprache, Wirtschaft, Staat wären dann solche Sinnstrukturen
, aber auch Religion. Es entsteht so der „Nomos" einer
Gesellschaft, der, entstanden mit normativer Kraft, auf die Gesellschaft
zurück wirkt und sie integriert.

Folgerichtig wird vom Vf. diese gesellschaftliche ,,Sinnkonzeption"
auf die Religion angewandt. Dabei entsteht, Rudolf Ottos und Mircea
Eliades Anregungen aulnehmend, ein „heiliger Kosmos"; das scheinbar
Objektive der Sinnsetzung wird so überzogen und als ein unabhängig
handelndes Gegenüber hypostasiert. Dadurch kann die jeweilige,
religiös beherrschte Gesellschaft eine fundamentale Legitimation erhalten
. Jede Gesellschaft bedarf einer solchen aus dem Objektiven
kommenden Legitimation, sei es aus einem heiligen oder auch einem
unheiligen Kosmos.

Ein ganzes Kapitel ist unter dieser Fragestellung dem Problem einer
„Theodicee" gewidmet. (S. 52-78) Jede Gesellschaft ist von „Ano-
mien" bedroht, Tod und Leid bedrohen alle Sinnsctz.ungen und lassen
auf und mit verschiedenen Abstraktionsgraden Sinnantworten entstehen
. Der Vf. zieht hier als tiefenpsychologische Deutung der Theodicee
im jüdisch-christlichen Bereich den Masochismus heran, der leidvolle
Erfahrungen sich selbst zurechnet und nicht Gott belastet. Für
manchen Zeitgenossen, der zur Religion auf Distanz steht, mag solche
psychologische Interpretation „plausibel" sein, wird sie aber der
Intention der Theodicee in ihrer jüdisch-christlichen Gestalt gerecht?
Diese psychologische Anleihe springt zu stark in ein anderes Gebiet
hinüber und verfremdet das Anliegen so „menschlich", daß zu viel
eigentlich Gemeintes hinwegerklärt wird.

Einen eigenen Stellenwert hat die Erklärung von „Religion als Entfremdung
" (S. 79-100): „Projizierter Sinn menschlichen Handelns
ballt sich zu einer gigantischen geheimnisvollen .anderen Welt' zusammen
, die über der Menschenwclt als fremde Wirklichkeit
schwebt." (S. 93) Damit wäre dann eine „Andcrshcit" des Heiligen
konstituiert, die der menschlich konstituierten Welt völlig fremd
gegenübersteht. Der Mensch als Autor „seiner Welt" ist verleugnet,
und es bleibt nach dieser Theorie nur die Alternative, den Prozeß
einer „Ent-Entfremdung" in Gang zu setzen, dessen Möglichkeiten
allerdings auch in der jüdisch-christlichen und insbesondere in der
protestantischen Übcrlicferungangelegt sind.

In einem II. Teil wird der systematisch-theoretische Entwurf mit
dem historischen Stoff, mit „historischen Elementen" konfrontiert
" und dabei der „Säkularisierungsprozeß" diskutiert. (S. 101-147) Dabei
liegt für den Vf. „der eigentliche Ort der Säkularisierung... im
ökonomischen Bereich, besonders in jenen Sektoren der Wirtschaft,
die von kapitalistischen und industriellen Prozessen geprägt werden".
(S. 124) Rationalisierung, die eine „Entzauberung der Welt" bewirkt,
ist damit verbunden. Für die Situation der Religion heute heißt das,
„das realissimum der Religion wird aus Kosmos und Geschichte in
das individuelle Bewußtsein verlegt" (S. I 58) und so für die theologische
Arbeit Existentialismus und Psychologismus herangezogen, um
Religion plausibel modern zu übersetzen. (S. 159) Dieser Weg in die
„Binnenwelt des individuellen Bewußtseins" (S. 145) hat zur Folge,
daß „die Religion ihre überwölbende Symbolkraft für die Gesamt-
gescllschaft verloren" (S. 145) hat. Religion ist zur Privatangelegenheit
geworden; sie muß sich nach Gesetzen eines Marktes richten und
auf Verbrauchergewohnheiten eingehen. Man mag bei dieser Analyse
viel vom US-amerikanischen Kolorit bemerken, die Tatsache, daß
Religion in der europäischen Gesellschaft ihre beherrschende Mono-

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polstellung zur gesellschaftlichen Legitimierung verloren hat,
bleibt.

Angesichts solcher Konzeption und solcher Analysen zur Dialektik
von Religion und Gesellschaft drängt sich die Frage auf, ob hier nicht
lediglich einmal mehr Rcligionskritik in etwas modernisiertem Gewände
vorgetragen wird. Man würde mit solcher Einschätzung dem
Vf. nicht gerecht, und man würde seine Intention verkennen. Bei
allem empirisch-wissenschaftlichen Pathos bleibt die im grundlegenden
Sinnbcgriff angelegte Ambivalenz und Offenheit zur Transzendenz
hin, auch in aller Herleitung aus menschlicher Infrastruktur. So
spricht der Vf. dann von möglichen „Signalen von Transzendenz"
(S. 176) und meint: „Sinnausschüttungen des Menschen in das Universum
würden dann letzten Endes auf einen allumfassenden Sinn
hindeuten, derauch noch den Menschen selbst mit in sich einschließt.
Eine solche Konzeption lag Hegels Dialektik zugrunde." (S. 170) Ein
solcher nicht jiur menschlich-empirisch, sondern universell-gültig
konzipierter Sinnbcgriff wäre aber hilfreich, wenn Religionssoziologie
und Theologie nicht nur diastatisch zertrennt nebeneinander stehen
sollen. Diskutiert werden müßte dann jedoch auch ein für die wissenssoziologische
Theorie des Vf. so grundlegender Begriff wie der
der „Plausibilität" bzw. der der Plausibilitätsstruktur, und welcher
Stellenwert diesem im Gesamt einer wahr zu sein beanspruchenden
Theorie zukommt.

Leipzig Hans Moritz

Altes Testament

Otto, Eckart: Wandel der Rechtsbegründunt>en in der Gesellschaftsgeschichte
des antiken Israel. Eine Rechtsgeschichte des „Bundesbuches
" Ex XX 22-XX111 13. Leiden: Brill 1988. VIII, 107S.gr. 8°
= Studia Biblica.3.hfl40.-.

Das zur Besprechung vorliegende Werk von E. Otto ist nur eines
von vielen Werken des Vf.. die er in einer äußerst intensiven Arbeit an
den Gesetzestexten des Alten Testaments in den vergangenen Jahren
vorgelegt hat. Es ist allerdings auch hinsichtlich der Komplexität und
der aus den Untersuchungen gewonnenen Folgerungen das gewichtigste
. Viele Einzeluntcrsuchungen zu Gesetzestexten des Alten Orients
und des Alten Testaments sind diesem Werk vorausgegangen und an
verschiedenen Orten erschienen: in den Osnabrücker Hochschulschriften
, Schriftenreihe des Fachbereichs 3, Bd. 9, 1987, S. 135-161:
„Sozial- und rechtshistorische Aspekte in der Ausdifferenzierung
eines altisraelitischen Ethos aus dem Recht": in der Zeitschrift der
Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 105, 1988, Romantische Abteilung
, S. 1-31: „Die rechtshistorische Entwicklung des Depositenrechts
in altorientalischen und altisraelitischen Rechtskorpora"; im
Rechtshistorischen Journal 7, 1988, S. 347-368: „Interdependenzen
zwischen Geschichte und Rcchtsgeschichte des antiken Israels"; in
Ugarit-Forschungen 19, 1988. S. 175-197: „Rechtssystematik im altbabylonischen
.Codex Esnunna' und im altisraelitischen .Bundesbuch
'", wieder aufgenommen und fortgeführt in der jüngsten Veröffentlichung
„Rechtsgeschichte der Redaktionen im Codex Esnunna
und im .Bundesbuch'. Eine redaktionsgeschichtliche und rechtsvergleichende
Studie zu altbabylonischen und altisraelitischen
Rechtsüberlieferungen." (Freiburg/Schweiz und Göttingen: Universitätsverlag
und Vandenhoeck & Ruprecht 1989, OBO. 85). Eine vollständigere
Aufzählung der aus der Feder des Vf. kommenden Arbeiten
findet sich in dem Arbeitsbericht 1986-1989, den die Forschungsstelle
für historische Palästinakunde der Universität Osnabrück im
Juni 1989 vorgelegt hat.

Das Besondere des anzuzeigenden Werkes wird sofort auf S. 3
thesenartig vorangestellt. Hier wird auf die Vielfalt der israelitischen
Rechtsinstitutionen hingewiesen und daraus die komplizierte und
sich überlagernde Geschichte des israelitischen Rechts abgeleitet. Die
einzelnen Stadien werden in der nachfolgenden Untersuchung aus-