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1989

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 1

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duelle die Beziehung auf „das Ganze der geschichtlichen Entwicklung
" (175) konstitutiv sei. Damit stellt sich aber die Frage nach der
methodischen Erfassung des Individuellen, die L. im IV. Kapitel
(182-258) anhand der Auseinandersetzung mit syslematisch-expla-
natorischen, d. h. insbesondere deduktiv-nomologischen und narrati-
vistischen Erklärungstheorien diskutiert. Während narrativistischen
Erklärungen nur eine ergänzende Funktion zugesprochen werden
kann, verdeutlicht L. im Anschluß an K. R. Popper, daß die elliptische
Struktur deduktiv-nomologischcr Erklärungen dazu nötige,
historische Erklärungen in historischen Interpretationen zu fundieren
(225), die allerdings an das Objektivitätskriterium der Kontrollierbarkeit
zu binden seien. Gleichwohl seien die von Wertentscheidungen
abhängigen interpretatorischen Deutungen nicht wissenschaftstheoretisch
, sondern pragmatisch und praktisch-philosophisch zu beurteilen
.

Die Bedeutung dieses Praxisbezuges historischen Wissens thematisiert
L. im Teil B (259-402) in der Weise, daß er zunächst im
V. Kapitel (261-330) auf das von den Neukantianern H. Rickert und
R. Zocher diskutierte Problem praktischer Wertungen rekurriert.
Praktische Wertungen, die von theoretischen, im historischen Gegenstand
vorgefundenen Bezugswerten zu unterscheiden sind, bestimmten
das Interesse der historischen Erkenntnis in der Form der Betroffenheit
von Kulturwerten. Damit ist jedoch der Konflikt zwischen
dem Ideal strikter Objektivität und dem Erkenntnis leitenden Interesse
unvermeidbar. Dieser Konflikt soll im VI. Kapitel (331-402) so
gelöst werden, daß das strenge Objektivitätsideal durch eine „Theorie
der Beziehung von Kontrollierbarkeit und offenem Engagement"
ersetzt wird, in der L. das „geltungstheoretische Herzstück" (412)
seiner Untersuchungen erblickt. Für diese Theorie wird die historische
Erfahrung als „eine Schule des konkreten Denkens" (349)
beansprucht. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn die Sollens-Sätze
moralischer Prinzipien durch die Ist-Sätze der historischen Erfahrung
korrigiert werden können. Eine derartige Korrektur kann L. freilich
nur deshalb als möglich erachten, weil er die kategorisch-moralischen
Prinzipien mit der empirisch-hypothetischen Annahme einer moralischen
Besserung der Menschheit identifiziert. Folglich soll sich die
historische Bedeutsamkeit aus der „Eignung historischer Erfahrungen
zur Prüfung von praktischen Prinzipien" (358) ergeben. Die Vermittlung
des Objektivitätsstrebens mit den das praktische Interesse leitenden
Prinzipien läßt sich nur dann aufrechterhalten, wenn auch das
Erkenntnis leitende praktische Interesse fortlaufend kontrolliert wird.
Kontrolle und Lernfähigkeit der als System und Prozeß interpretierten
historischen Forschung werden jedoch schließlich dadurch relativiert
, daß L. den einzelnen Forschern einen „Frei(heits)raum innerhalb
der Dimension wissenschaftlicher Kontrollierbarkeit" (397)
eingeräumt wissen will.

L. behandelt nicht nur die Hauptprobleme einer philosophisch
reflektierten Theorie der Historie, sondern er legt auch ein eigenes
Konzept zu einer solchen Theorie vor, das im VII. Kapitel (403-417)
zusammengefaßt wird. Mit der praktisch-philosophischen Fundierung
seines Konzepts schließt L. an die von Lessing und Kant
ausgehende Geschichtsphilosophie an. In diesem Anschluß liegt
jedoch auch das Problematische dieser Konzeption. Denn obwohl L.
eine durch philosophische Prinzipien geleitete Theorie der empirischen
Geschichtswissenschaft vorlegen will, geht seine Untersuchung
immer wieder in die nichtempirische Grundlegung einer
GeschichtspA//oäopA/e über. Folglich wird das Erkenntnis leitende
Interesse des Historikers auf die praktische Idee moralischen Fortschritts
(347) so festgelegt, daß schließlich die empirisch-historische
Arbeit in den Dienst eines von moralischen Zwecken abhängenden
Orientierungswissens gestellt wird. Damit besteht jedoch die Gefahr,
daß die empirische historische Forschung instrumentalisiert wird. Die
Gefahr dieser Instrumentalisierung schließt zugleich ein, daß die
historische Forschung auf ein typisches okzidentales - jüdisch-christliches
und europäisch-aufklärerisches - Fortschrittsmodell festgelegt
wird. Die Einheit, Totalität und Kontinuität der historisch rekonstruierten
Geschichte werden also an spezifisch eurozentrische
Voraussetzungen gebunden, die - prinzipiell gesehen - der beispielsweise
von E. Troeltsch intendierten europäischen Kultursynthese
entsprechen. L.s „Plädoyer Tür eine pragmatisch orientierte Historie"
(403) impliziert also eine Zweideutigkeit, durch die-die Grenzen
zwischen den Prinzipien einer Geschichtsphilosophie und den methodischen
Grundlagen der empirischen Geschichtswissenschaft fortlaufend
verwischt werden. Zu dieser Zweideutigkeit trägt auch ein
inflationierter Wertbcgriffbei. so daß schließlich alle soziokulturcllen
Objcktivationen des menschlichen Wcltumgangs zu subjektive „Betroffenheit
" auslösenden Werten hypostasiert werden. Dem Historiker
, der seine empirische Forschungsarbeit auf einen erstrebten
Werte-Fortschritt beziehen soll, wird so doch die Aufgabe eines
Kultur-Ideologen zuteil. Davor können ihn nicht nur das Bewußtsein
der „Dialektik der Aufklärung", sondern auch durchgehauene kritische
Unterscheidungen sowohl zwischen empirischer Geschichtswissenschaft
und Geschichtsphilosophie als auch zwischen moralischem
Sollen und faktischem Sein des soziokulturcllen Weltumgangs
bewahren.

Wien Falk Wagner

Ankersmit, F. R.: Twee vormen van narrativisnic (TFil 50. 1988.40-81).

Jonas, Hans: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen: Vandcn-
hoeck& Ruprecht 1987. 77 S. 8- = Sammlung Vandenhocck. Kart. DM 9,80.

Leuba. Jean-Louis: Karl Barth et la Philosophie. Essai de clarification
(RThPh 119, 1987,473-501).

Marrone, Steven P.: The notion of univocity in Duns Seotus's carly works
(FrS43,1983,347-395).

Oberhammer, Gerhard: Versuch einer transzendentalen Hermeneutik religiöser
Traditionen. Wien: Gerold 1987. 48 S. gr. 8' = Publieations of the De
Nobili Research Library. Oecasional Papers, 3. Kart. ÖS 80.-.

Systematische Theologie: Allgemeines

Kooi, Cornelis van der: Anfängliche Theologie. Der Dcnkwcg des
jungen Karl Barth (1909 bis 1927). München: Kaiser 1987. 263 S.
gr. 8' = Beiträge zur evangelischen Theologie, 103. Lw. DM 68,-.

Die Veröffentlichung dieser Amsterdamer Dissertation von 1985
macht dem deutschsprachigen Leserkreis eine Studie zugänglich,
deren Lektüre sich lohnt. Van der Kooi hat die noch längst nicht ausdiskutierte
Frage nach den Anfängen der Barthschcn Theologie autgenommen
und im Wissen um den theologischen Gehalt des Barth-
schen Denkens zu rekonstruieren versucht. In paraphrasierender und
zugleich reflektierender Anlehnung an die für seine Interpretation
leitenden Texte zeichnet er ein im großen und ganzen recht zuverlässiges
Bild der Entwicklung Barths vom „modernen Theologen" Herr-
mannscher Prägung zum Autor der „Christlichen Dogmatik" von
1927. Behutsam verfolgt er die Umschichtungen und Brüche in der an
mannigfachen Wendungen reichen, gleichwohl immer zielgerichteten
Entwicklung des Barthschcn Frühwerks. Seine Darstellung zeichnet
sich durchweg durch eine, in den heutigen wissenschaftlichen Abhandlungen
selten gewordene Klarheit und Unaufdringlichkeit der
Sprache aus; sie repräsentiert im wesentlichen den gegenwärtig erreichten
Forschungsstandard und bewahrt sich zugleich einen hohen
Grad der Verständlichkeit, so daß sie auch für Anfänger mit Barths
Anfangen zu einer wichtigen Hilfe werden dürfte.

Van der Kooi unterscheidet vier Phasen im frühen Werk Barths (II)
und gliedert demgemäß seine Darstellung in vier große Abschnitte.
Zunächst (21-61) untersucht er die im Einflußbereich Wilhelm Herrmanns
und des Marburger Neukantianismus angesiedelten ersten
theologischen Arbeiten Barths (1909-1914). Hier fällt besonders die
mit Herrmann geteilte Aversion Barths gegen eine nicht aus sich selbst
heraus begründete Theologie auf (bes. 27ff). die später als ein sich
durchhaltendes Strukturmoment des Barthschcn Denkwegs charaktc-