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Ausgabe:

1989

Spalte:

770-772

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Daiber, Karl-Fritz

Titel/Untertitel:

Diakonie und kirchliche Identität 1989

Rezensent:

Turre, Reinhard

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 10

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eines kognitiven Ungleichgewichts mittels Dilemmata" ablehnt und
wer überhaupt „religiöse Entwicklung als Ziel religiöser Erziehung"
kritisiert, der wird sich auch von diesem Schweizer Erfolgsbeispiel
nicht beeindrucken lassen. Wer dagegen das alles befürwortet oder
wer zumindest (wie ich selbst) in der Entwicklung des religiösen
Urteils einen Schwerpunkt religiöser Erziehung entdeckt, die Versöhnung
von Rationalität und Religiosität bei Oser begrüßt, den
Gedanken, religiöse Erziehung sei „religiöse Rekonstruktion von Alltagserfahrungen
", unterstützt und Osers Sensibilisierung für verschiedene
Urteilsstrukturen im Lebenslauf befürwortet, - der wird diese
Unterrichtsberichte sehr genau zur Kenntnis nehmen.

An Oser scheiden sich nach wie vor die Geister. Gerade deshalb
möchte ich dafür werben, das Buch sehr aufmerksam zu lesen. Die
Lektüre wird sowohl für die Gegner als auch für die Befürworter Osers
ein Gewinn sein.

Das Opus besteht aus drei Kapiteln: (1) Aus einem theoretischen
Beweis der Möglichkeit einer Erziehung zur religiösen Autonomie, (2)
aus einem.empirischen Beweis (Unterrichtsstudie) mit dem gleichen
Ziel und (3) aus einem grob skizzierten Curriculum für .religiöse Entwicklung
als Ziel religiöser Erziehung'.

Im /. Kap. begründet Oser eindrucksvoll seine Hypothese, daß
natürlicherweise jeder Mensch eine religiöse Mutterstruktur, d. h.
eine Beziehung zum Ultimaten besäße. Jeder Mensch sei religiös, -
auch der Atheist. Beweis: In Kontingenzsituationen versuche jeder,
ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Abhängigkeit, Hoffnung
und Absurdität, Vertrauen und Verzweiflung, Transzendenz und
Immanenz sowie Abgegrenztem und Unbegrenztem wiederherzustellen
, und er setze damit einen „Kern" voraus, „der jenseits des
Glaubens an ein durch Inhalte verbürgtes Heil" stehe (S. 43), d. h. ein
Ultimates als „prästabilierte Harmonie". Ich bezweifle, ob dieser
Religionsbeweis Schellingscher und Hegelscher Provenienz noch
überzeugt. Aber Oser baut darauf auch seinen Beweis einermöglichen
Entwicklung zu religiöser Autonomie auf:

Als Kind, so stellt er empirisch fest, vermittle jeder Mensch seine
Lebenspolaritäten nur unzulänglich, weil er von Natur aus einen
unmittelbaren Eingriff des Ultimaten in sein Leben fürchte (Gott
straft mich, Gott belohnt mich). Erst bei ,fortschrittlicher' Erziehung
>m fortschreitenden Alter werde er von dieser Angst befreit, wenn er
das Ultimate als prästabilisierte Harmonie und als Ermöglichungs-
grund seiner existentiellen Äquilibration begreife (Gott ist der Ermög-
üchungsgrund meiner Freiheit und Hoffnung). Entwicklung zu religiöser
Autonomie sei möglich und lebensnotwendig! Und deshalb sei
auch religiöse Erziehung und Religionsunterricht mit dem Ziel von
Stufenstrukturtransformationen lebensnotwendig! Ich bezweifle
wiederum, ob dieser religionspsychologisch-anthropologische Beweis
für religiöse Entwicklung überzeugt. Aber ich bin fasziniert, wie intensiv
Oser den gesamten Alltag und die gesamte Lebensgeschichte eines
Menschen in den Religionsbegriff und in die religiöse Erziehung mit
einbezieht. Religion ist für ihn „das" Fundament der Lebensbewältigung
. Das fasziniert! Und das trifft zu! Beweisen läßt es sich allerdings
'glücklicherweise!) nicht!

Das Unterrichtsprojekt mit 15jährigen Sekundarschülern/inncn im
?■ Kap., durchgeführt und ausgewertet von Ueli Fritzsche. Paul
Gmünder und Karl Furrer, ist m. E. ebenso kein Beweis, sondern eine
interessante Beobachtungsstudie zur Entwicklung religiöser Urteilsmuster
durch Erziehung. Das Oser-Team hat innerhalb von vier
Monaten an zehn Vormittagen zu je drei Unterrichtsstunden drei
8- Klassen (1.K1.: Diskussion religiöser Dilemmata mit Metare-
flexion; 2. KI.: Religiöse Dilemmata ohne Mctareflexion; 3. KL:
Kontrollgruppe mit normalem RU) unterrichtet, um herauszufinden.
°b 15jährige durch stimmulierte kognitive Intervention sich in ihrer
Ürteilsstrukturzu einer nächst höheren Stufe bewegen lassen.

Die Stufentheoric wurde dabei als normativ gültig vorausgesetzt.
*Jnd gearbeitet wurde bei den drei Rahmenthemen „Leid und Tod",
"Versagen und Schuld" und „Berufung, Zufall, Nächstenliebe" allein
mit Dilemmata. Da nimmt es nicht Wunder, wenn das Team bei

einigen Probanden tatsächlich ein Fortschreiten von der zweiten
(Bipolaritäts-) über die dritte (Deismus-) zur vierten (Heilsplan-) Stufe
feststellen zu können glaubte. Schüler, welche anfangs z. B. die
Ansicht vertreten hätten, nur Gott könne Lebenssinn geben oder
nehmen, und man müsse mit ihm entsprechend verhandeln (2. Stufe),
hätten später die Position verteidigt, Sinn müsse man selbst finden
(3. Stufe), und hätten noch später ihren Autonomieanspruch wieder
mit Gott zusammengebracht (4. Stufe). Da kann man nur feststellen:
Wer Normiertes normiert, entdeckt Normen. Die Unterrichtsstudie
ist höchst interessant, aber als normativer Beweis für den Erfolg von
Stufentransformationen höchst problematisch. Der Versuch des
Teams, Schüler mit christlichen Sinnentwürfen vertraut zu machen
und sie Alltagssituationen religiös interpretieren zu lassen, ist großartig
-aber als Beweis für Stufenentwicklung absurd.

Im 3. Kap. entwirft Oser noch Umrisse eines kompletten Curricu-
lums „Religiöse Erziehung in einer religionsfernen Gesellschaft". Der
säkularisierten Gesellschaft wird er dabei m. E. nur unzureichend
gerecht, denn vom Ansatz her setzt er ja eine religiös hoch motivierte
Gesellschaft mit tief religiös besetzten Schülern und keine säkularisierte
Kommunität voraus. Dafür sprechen auch seine m. E. überspannten
religionsdidaktischen Forderungen: Religionslehrer/inncn
sollten im Kiassenraum religiöse Gemeinschaft stimmulieren, Beten
einüben, Alltagserfahrungen religiös erschließen, ein religiöses
Familienklima bei den Schülern zu Hause schaffen, religiöse Erfahrungen
lehren und „Salz der Erde" sein. Für eine säkularisierte
Gesellschaft sind das erstaunliche Forderungen, - die ein Scheitern
religiöser Erziehung fast mit einplanen. Oser kann ein so überspanntes
Curriculum aufstellen, weil er trotz Säkularität in jedem Menschen
eine tiefe Religiosität, eine Gebetsbereitschaft, eine religiöse Erfahrungsfähigkeit
und ein religiöses Leidens- und Schulderleben voraussetzt
.

Eine Auseinandersetzung mit Osers Entwurf sollte zur Pflichtlektüre
jedes Religionspädagogen gehören. Er wird großen Gewinn
darausziehen. Ein Urteil muß er sich dann selbst bilden.

Osnabrück Reinhold Mokrosch

Praktische Theologie: Diakonik

Daiber. Karl-Fritz: Diakonie und kirchliche Identität. Studien zur
diakonischen Praxis in einer Volkskirche. Hannover: Luth. Verlagshaus
1988. 219 S. 8°. Kart. DM 29,80.

Daiber weiß, wovon er schreibt. Seine theologischen Reflexionen
verschiedener diakonischer Arbeitsfelder sind im direkten Gespräch
mit deren Mitarbeitern entstanden. Dabei geht es ihm mehr um
kritische Überprüfung von praktischen Konzepten als um deren vorschnelle
theologische Legitimierung. In dieser Veröffentlichung sind
nicht so sehr die klassischen Felder diakonischer Arbeit wie Krankenhausarbeit
, Altenarbeit, Behindertenarbeit und Suchtgefährdeten-
arbeit im Blick. Daiber setzt vielmehr eher soziologisch an, bedenkt
gemeindediakonische Aktivitäten und ist entwicklungspolitisch interessiert
. In allen Fällen geht es ihm, wie auch der Titel ausweist, um die
kirchliche Identität in Handlungsbereichen, die von verschiedenartigen
Interessen mitbestimmt sind. Das nötigt zu theologischer
Klarheit und zum herausfordernden Dialog, der auch den Konflikt
nicht scheut. Der Ort, von dem aus Daiber dies leistet, ist die volkskirchliche
Situation in der BRD mit ihrem Pluralismus auch im
Inneren der volkskirchlichen Einrichtungen. Realistisch folgert
Daiber aus seiner Situationsbeschreibung: „Dies bedeutet, die Diakonie
in der Volkskirchc kann nicht christlicher sein als die Volksküche
selbst." (130).

Die Studien Daibcrs werden in diesem Band in drei Teilen vorgelegt
: Schon im I.Teil „Theologische Bcgründungsproblemc der
Diakonie" wird nach einem grundlegenden Abschnitt über Verkündigung
und Diakonie das Thema der kirchlichen Entwicklungshilfe