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Ausgabe:

1989

Spalte:

768-770

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Oser, Fritz

Titel/Untertitel:

Wieviel Religion braucht der Mensch? 1989

Rezensent:

Mokrosch, Reinhold

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 10

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(USA) und F. Oser und Mitarbeiter in Fribourg (Schweiz) haben eine
im Vergleich zu R. Goldmans frühen Versuchen umfassende Rezeption
der genetischen Erkenntnistheorie Piagets eingeleitet. Aus empirischen
Arbeiten an den beiden Forschungszentren sind unterschiedliche
Stufentheorien der Glaubensentwicklung hervorgegangen, die
zunehmend auch praktische Konsequenzen zeitigen. K. E. Nipkow
sucht im Rahmen einer „mehrdimensionalen Religionspsychologie
und Religionspädagogik" (S. 9), diese Theorien auch im Bereich der
deutschen Religionspädagogik heimisch zu machen. Im Juni 1987
fand im Geisteswissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität
Tübingen in Blaubeuren ein Symposion statt, bei dem Fowler und
Oser selbst ihre Konzeptionen zur Diskussion stellten und mit Experten
aus sieben Ländern diskutierten. Das Ergebnis dieses Gesprächs
liegt in dem hier zu besprechenden Buch vor.

Der Band bietet eine gute Einführung in die vielschichtige Problem-
und Diskussionsiage. Die Fülle der Beiträge führt streckenweise
zwangsläufig zu Wiederholungen; nicht jeder Beitrag besitzt das
gleiche sachliche Gewicht. Der Aufbau entspricht den Fragestellungen
, die sich in der Auseinandersetzung mit der neuen Forschungsrichtung
aufdrängen. Ein erster Teil gibt mit den Grundsatzbeiträgen
von Fowler und Oser den Forschungsstand wieder. In einem zweiten
Teil werden die theoretische Stringenz der Entwürfe, ihre Voraussetzungen
und ihre Reichweite diskutiert. Im dritten Teil kommen
„alternative Sichtweisen religiöser Entwicklung und spirituellen
Wachstums" zur Darstellung, und im vierten schließlich werden die
entwicklungspsychologischen Theorieelemente auf den historischen,
politsch-gesellschaftlichen und religionspädagogischen Kontext
zurückbezogen.

-In erster Linie sind die beiden Selbstdarstellungen von Fowler und
Oser zumal für denjenigen wichtig, der mit dieser Forschungsrichtung
noch wenig vertraut ist. Fowler bietet eine umfassende Einführung in
die Entwicklung seiner Theorie (S 29-47). Unter Berufung auf P. Tillich
und H. R. Niebuhr spricht er von "faith", „Lebensglauben", als
der Bindung des Menschen an einen für ihn letzten Sinnhorizont, der
sich in einer Stufenfolge entfaltet. In der Übernahme des konstruktivistischen
Entwicklungsbegriffs Piagets geht es um „Sinnfindung und
Sinnstiftung als Aktivität des Menschen" (S. 7), eine immanente
Tendenz des Konstruktivismus, die sich mit der theologischen
Anthropologie stößt. Gleichwohl ist Fowler um eine differenzierte
theologische Reflexion ebenso bemüht wie um eine integrative psy-,
chologische Sicht, die die Persönlichkeitstheorie R. Kegans bzw. psychoanalytische
Erkenntnisse (M. Mahler; D. W. Winnicott) in den
eigenen Entwurf einbezieht. Die Aufgabe seiner Theorie sieht er
darin, „den Prozeß und die Stufen zu erklären, durch die einzelne oder
Gruppen sukkzessive aus ihrer Einbettung in Mitgliedschaften, Glaubensinhalten
, Werten und Handlungen heraustreten, um diese bewußt
und kritisch zu verantworten", eine „kritische Theorie unseres
Subjektwerdens vor Gott, in einer dem Bund und der Berufung entsprechenden
Partnerschaft mit Gott und miteinander" (S. 47).

Auch F. Oser stellt in seinem Beitrag (S. 48-88) die Beziehung
zwischen Person und dem Ultimatum als eine altersbezogene Entwicklung
dar, die fortschreitend autonomer, differenzierter und universeller
und gleichzeitig inniger integrierter und idiographischer sich
gestaltet. Er schildert seine Forschungsmethode, legt seine Stufentheorie
einschließlich praktischer Beispiele dar und beschäftigt sich
mit den gegen seine Theorie vorgebrachten Einwänden. Im Hinblick
auf seine Kritiker zeigt Oser sich allerdings eher apologetisch, ohne in
eine offene Diskussion einzutreten. Sein Sprachgebrauch (Entwicklung
des Glaubens oder aber Entwicklung des religiösen Denkens? In
welcher Beziehung stehen beide zueinander?) ist noch nicht einheitlich
und erschwert das Verstehen. Er sieht, ebenso wie Fowler, seine
Theorie als eine formale Strukturtheorie, die auch auf Atheisten und
Agnostiker anwendbar sein soll. Man mag sich fragen, ob das überhaupt
möglich ist oder ob sich Inhalt und Form nicht interdepen-
dent zueinander verhalten, wobei entweder die zu beschreibende
Sache die Theorie sprengt oder aber die Theorie die zu beschreibende

Sache nur ausschnittweise in den Blick bringt. Faktisch jedenfalls (so
ein häufiger Einwand) bewegen sich beide entgegen ihrer Absicht im
Rahmen der jüdisch-christlichen Theologie, mit Zielvorstellungen
der Entwicklung, die in den Bereich einer letztendlichen (mystischen)
Harmonie verweisen.

Aus der anregenden Fülle interessanter Beiträge können hier nur
einige herausgegriffen werden. Hervorgehoben sei der Versuch
R. Döberts(S. 144ff), anhand von Stufe 3 (Autonomie der Person) des
Entwurfs Osers eine Zirkelstruktur zwischen der Entwicklungslogik
des religiösen Bewußtseins und den gesellschaftlichen Bedingungen
aufzuweisen, was bei ausschließlicher Konzentration auf die struktu-
ralen Elemente unter Absehung dessen, was Religion eigentlich
leisten kann und soll, eine zwangsläufige Minimierung der Bedeutung
von Religion fürdas Alltagsleben bedeutet.

Unter den alternativen Sichtweisen des dritten Teils betonen
G. Moran die Vielfalt psychologischer und theologischer Paradigmen
als möglicher Alternativen zum Entwieklungsbegriff, G. Bittner die
Bedeutung der Spontaneität bei der Entstehung religiöser Vorstellungen
, H.-G. Heimbrock die rituelle Dimension der religiösen Entwicklung
, die alle kognitiven Niveaus durchzieht.

Aus dem vierten Teil sei der Aufsatz J. M. Hulls hervorgehoben, der
das Entwicklungsmodell als typisches Produkt der Moderne darstellt-
das aber dann zur Waffe gegen die Moderne werden kann. F. Schweitzer
bindet die vermeintlich neue Frage nach der Religiosität des Kindes
in die Geschichte ein und gelangt zu einer kritischen Würdigung
der Stufentheorien, die sowohl die Schwächen wie die Stärken der von
ihm dargestellten drei Modelle religiöser Erziehung seit dem 18. Jh-
(dem rationalistischen, dem romantischen und dem scholastischen
Modell) teilen.

Der abschließende Beitrag Nipkows formuliert im Rahmen einer
durchaus positiven Würdigung zusammenfassend die Desiderate der
bisherigen Diskussion, den vom Ansatz Piagets her bestimmten individualistischen
C harakter, der die gesellschaftlichen Bedingungen der
Entwicklung weitgehend ausklammert, weiter die theologische Beziehung
zwischen transitus und progressus und die damit verbunden*
Gefahr, den Entwicklungsstufen Heilsbedeutung zuzuschreiben, und
schließlich die Probleme um die „Sinnstiftung" des Menschen bz*-
um die Reichweite von Piagets Erkenntnistheorie. Die Diskussion der
Theologie mit dem Kognitivismus, und das heißt mit Piagct selbst,
muß auf wissenschaftstheoretischcr Basis erst noch geführt werden-
Der Reichtum der in diesem Buch enthaltenen Impulse motiviert. 1,1
diese Diskussion einzutreten.

München Hans-Jürgen Fraas

Oser, Fritz: Wieviel Religion braucht der Mensch? Erziehung und
Entwicklung zur religiösen Autonomie. Unter praktischer Mithille
von K. Furrer. Gütersloh: Mohn 1988. 224 S. m. Abb. 8" = GTB
Siebenstern, 740: Religionspädagogik. Kart. DM 24,80.

Fritz Oser bleibt sich treu! Trotz zahlreicher Kritiken sowohl aus
dem protestantischen als auch aus dem katholischen, dem piet1'
stischen und dem atheistischen, dem religionssoziologischen und dem
rcligionspsychologischen Lager baut der bekannte Schweizer Pädagoge
sein strukturgenetisches Stufenkonzept der Entwicklung des religiösen
Urteils in diesem Band weiter aus. Ja. er möchte in diesem
Buch mit einer Schweizer Unterrichtsstudie einen empirischen Beweis
führen, daß Erziehung zu „religiöser Autonomie" möglich sei. 'sl
ihm der Beweis gelungen? .Im Prinzip - jein', möchte man antworten
.

Wer (wie ich selbst) prinzipielle Vorbehalte gegen den Begriff und
das Phänomen religiöser Autonomie bzw. reifer Religiosität heg1
(manche Protestanten scheuen diese Worte wie der Teufel das Weihwasser
!), wer eine natürliche Religiosität in Form eines religiösen
Apriori in jedem Menschen und einer natürlichen Mensch-Ulf'
maten-Relation bestreitet, wer religiöse Erziehung als „Simulation