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Ausgabe:

1989

Spalte:

766-768

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Titel/Untertitel:

Glaubensentwicklung und Erziehung 1989

Rezensent:

Fraas, Hans-Jürgen

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765 Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 10 766

Um diese Ziele erreichen zu können, versucht der Vf. in einem Wie immer, in Kritik an einem sich verabsolutierenden. „reduk-
ersten Hauptteil A (23-86) die Situation des Verhältnisses von tionistischen . . . Erfahrungsverständnis" hat eine neue Weise des
Glaube und neuzeitlich verstandener Erfahrung qua Empirie nach- Verstehens von Erfahrung natur- und geisteswissenschaftliche, erläh-
zuzeichnen, um dann die Herkunftsgeschichte des neuzeitlich ver- rungswissenschaftliche und religiöse Erfahrung zu thematisieren und
mittelten Erfahrungsverständnisses und seiner theologischen Bestrei- zu integrieren. Auf keinen Fall kann es nach Ritter angehen, daß sich
tungen im Rahmen der Religionspädagogik kritisch Revue passieren der christliche Glaube auf eine Enklave nur behauptenden Redens
zu lassen. zurückzieht, wenn anders es für heutige Verantwortung dieses Glau-
Wichtig in diesem I. Teil (Kapitel 1. und 2.) scheint mir die Fest- bens unabdingbar erscheint, daß er mitteilbar, nachprüfbar und nach
Stellung des Vf., daß es in der Gegenwart kaum mehr Glauben gibt, Möglichkeit nachvollziehbar bleiben soll. Hier sind seine Gewährs-
der so etwas wie eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit darstellt. leute aus dem theologischen Lager W. Pannenberg, E. Jüngel,
Daraus schließt er, daß es unter den gegebenen Verhältnissen notwen- E. Herms u. a. (

dig ist, „in, mit und unter" Erfahrungen das, was Glauben ausmacht, Das 4. Kapitel widmet Ritter den „erfahrungsorientierten" reli-
zu erschließen. Die Wiedergewinnung der Erfahrungsdimension ist gionspädagogischen Konzeptionen, die er drei Typen zuordnet:
deshalb für Werner Ritter eine zentrale Aufgabe der Theologie. einem disjunktiven Modell, in dem Botschaft und Erfahrung unterAnzeichen
für eine Wendung weg vom Erfahrungsverdikt der Dialek- schieden werden, einem relationalen Modell, in dem der Glaube als
tischen Theologie seien seit den siebziger Jahren nicht mehr zu über- in Erfahrung konstituierter vorgestellt und Glaube und Erfahrung in
sehen. Mit T. S. Kuhn diagnostiziert Ritter sogar einen Paradigmen- einem dialogischen Verhältnis gesehen werden, und einem „integrier-
wcchscl als dessen Wegbereiter auf katholischer Seite K. Rahner, ten" Modell, in dem der Glaube als Weise „neuer Erfahrung mit der
W. Kasper und E. Feifei, auf evangelischer Seite aber G. Ebeling, Erfahrung" erschlossen werden soll. Der Raster, mit dem der Vf. die
T. Rendtorff. D. Zjllcssen und P. Bichl zu betrachten seien. verschiedenen Konzeptionen befragt (Erfahrungsverständnis, Glaube
Im Gegensatz zu fast allen Autoren, die in der Theologie der ver- und Erfahrung, Religionspädagogische Realisation) ermöglicht es, die
gangenen 20 Jahre den Erfahrungsbegriff zum Gegenstand des Nach- Konzeptionen vergleichbar zu halten.

denkens gemacht haben, nimmt sich Ritter auch der historischen Im letzten Kapitel 5 soll das bisher Erarbeitete für eine religions-

Dimcnsion des Begriffs an und macht in diesem Zusammenhang auf pädagogische Theorie der Erfahrung fruchtbar gemacht werden. Das

die der liberalen Theologie entstammenden religionspädagogischen Ergebnis der hier begegnenden vielschichtigen und differenzierten

Entwürfe von R. Kabisch und F. Niebergall aufmerksam, aber auch Erörterungen ist dann: „Glaube kann nicht länger bloß dogmatisch

auf den eher einer konservativen Theologie verpflichteten O. Eber- steil behauptet werden, vielmehr ist er anhand prinzipiell-virtuell

hard. Diesen Entwürfen machte allerdings die Dialektische Theologie jedermann .zeigbarcr' Erfahrung aufzuweisen und mitteilbar zu

und, was die Religionspädagogik anbetrifft, vor allem G. Bohne sehr machen."

bald den Erfolg streitig. Ritter beschreibt das so: „Herrserlte in den Sind wir da bei einer neuen Form natürlicher Theologie angelangt?
Anfängen einer wissenschaftlichen Religionspädagogik um die Jahr- Und wenn . . . Auf jeden Fall leuchtet es ein. wenn Ritter in diesem
hundertwende lebhaftes Interesse an und Offenheit für... ein Zusammenhang sagt: „In einer erfahrungsabstinenten Rcligions-
bestimmtes Erfahrungsverständnis, so verblaßte dieses mit dem Auf- Pädagogik wird .verfügt', was man zu glauben hat, Erfahrung hin -
kommen einer an .Wort Gottes'und .Offenbarung orientierten Theo- Erfahrung her. In einer erfahrungsbezogenen Religionspädagogik
logie immer mehr . .." dagegen geht es auf der Basis erfahrungsgesättigten Glaubens um ein
In seinem 2. Kapitel verläßt Ritter den theologisch-religions- pädagogisch und theologisch verantwortetes .Angebot'von Erfährunpädagogischen
Binnenraum und versucht über eine Erörterung des g(en) mit Erfahrung(en), die den Heranwachsenden einladen zur Parti-
Erlährungsbegriffs in der Alltagssprache die Wertschätzung des zipation und Identifikation, ihn dazu ,ja' und/oder .nein' sagen lassen.
Begriffs in der neuzeitlichen Sprach- und Denkwelt plausibel zu Glauben bzw. Glaubensvermittlung meint hier ein Lernen an Erfäh-
machen, um dann mit Hilfe von Arbeiten von H. Holzhey, E. Herms rungen und Erfahrungsmodellen."

U- a. der Entwicklung des modernen Erfahrungsbegrilfsseit Descartes, Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis einer umfassenden Bemü-

Locke und Kant kritisch nachzudenken. Die eigene Leistung des hung um die Erfahrung im Medium der Reflexion verschiedener

Autors besteht dabei nicht nur in seinen vorzüglichen Referaten, son- Wissenschaften. Dieser Bemühung ist der Erfolg zuteilgeworden, die

dem auch in der differenzierten Würdigung der Bedeutung des moder- Unbedarfheit und Flachheit des modernen Alltagsdenkens über

nen Erfahrungsverständnisses für die Theologie, die sich besonders Erfahrung ebenso zu überwinden wie die theologische Abstinenz in

seit der Zeit nach dem I. Weltkrieg immer mehr in ein Ghetto von Sachen Erfahrung, die den Glauben in die Nähe zwanghafter Ideologie

Sondererfahrungen zurückgezogen habe und damit die Fähigkeit ver- zu bringen drohte, bestimmt aber in ein Ghetto zunehmender Kom-

'or, sich einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zu machen. Gut in munikationsunfähigkeit.

diesem Zusammenhang auch die Ausführung über das Erfahrungsver- Das Buch ist ein Wurf, der vor allem in die Hand von Systematikern

ständnis des Pietismus, das Ritter in seiner Engführung auf Glaubens- gehört, die nach wie vor mit unbilligen Alternativen argumentieren,

erfahrung hin bzw. auf Bekehrungserfahrung durchschaut. aber auch in die Hand von vielen Vertretern von Theorie und Praxis

Am Ende des Kapitels steht die Frage, was angesichts eines Erläh- der Religionspädagogik, die hier zur Kenntnis nehmen können, wo

rungsbegriffs ohne Transzendenz, d. h. mit ausschließlich positivisti- eigentlicher Grund für unsere wichtige Arbeit liegt,

sehen Implikationen, und eines Erfahrungsdenkens, das nur „Einge- Bem > Klaus Wegenast
Weihten" denkbar erscheint, zu tun sei. Ritter antwortet: „Wider die
Allein- und Vorherrschaft jenes rationalistisch-technokratischen

Erfahrungsverständnisses gilt es, jenes .Mehr'an ganzheitlich-lcben- ;

,. B......„ i r-r l. ■ j Nipkow, Karl Ernst, Schweitzer, Friedrich, u. James W. Fowler [Hg. :

diger geschiehthch-sinnhafter-kommunionaler Erfahrung wiederzu- V . ... , J,_, . ' ... , , ... °'

bv.1, scscnicmin,ii sumiiaiu. e Glaubensentwicklung und Lrziehung. Gütersloh: Mohn 1988.

gewinnen." Nur so sei es möglich, „die Erfahrungsarmut hier und da, 312 S. 8- = Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts Münster.

w der Theologie und in der modernen Wissenschaft zu überwinden". kart qm 5g__

Im 3. Kapitel kommt die Arbeit in ihre entscheidende Phase. Es soll

es leisten, jenseits empiristischer und religiöser Verengung des Während die Religionspsychologie und die Praktische Theologie in

Erfahrungsbegriffs ein Erfahrungsverständnis plausibel zu machen, den letzten Jahrzehnten in erster Linie von der tiefenpsychologischen

das als Prozeß und Resultat, als subjektives, soziales, raumzeitliches, Theoriebildung beeinflußt waren, ist seit den 70er Jahren die

geschichtliches und objektives Modell einen Zugang zur Wirklichkeit kognitivistische Entwicklungstheorie J. Piagets in ihrer Bedeutung für

schafft und auch religiöse Erfahrung umgreift. die religiöse Entwicklung erkannt worden. J. W. Fowler in Atlanta