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Ausgabe:

1989

Spalte:

734-735

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kearns, Rollin

Titel/Untertitel:

Die Entchristologisierung des Menschensohnes 1989

Rezensent:

Karrer, Martin

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 10

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unter den Christen besonders einflußreich sind. An mehreren Stellen
deutet er an. daß die Christen in der Gefahr sind, auf solche Tendenzen
durch Abkapselung zu .reagieren, die ihre Spaltung in Denominationen
nur noch unterstützt. - Die gesunde Rücksicht auf die konkrete
Lage der heutigen Kirche und die Überzeugung, daß der Epheserbrief
in dieser Lage helfen kann, begleiten als ein ..schöpferisches Vorurteil
" diese ganze Monographie.

In dem II. Kapitel, das der Einheit der Juden- und Heidenchristen
gewidmet ist, untersucht U. vor allem Eph 2,11-22. Die Einheit der
verschiedenen Gruppen in der Kirche ist danach in der gemeinsamen
Nähe zu Gott gegründet, die Christus vermittelt. Die heidnische Vergangenheit
ist dagegen als die Entfernung von Gott, von der Kenntnis
der Wahrheit und von dem neuen, wahren Leben charakterisiert. Die
Aufnahme der Gnade ist ein dynamisches Geschehen, das weder nur
luturisch-eschatologisch, noch nur forensisch zu begreifen ist. Sie
aktualisiert sieh im Epheserbrief in der geistig sapicntialcn Ausdehnung
des Friedens mit Gott.

Kap. III bringt die eigentliche These der Monographie. Die Einheit
der Kirche ist nach dem Epheserbrief weder eine nur soziale Zusammengehörigkeit
, noch eine objektiv gegebene Verankerung in der göttlichen
Heilsordnung. Ihre Einheit ist in der dynamischen Wirkung
Gottes gegründet, die an das Opfer Christi gebunden ist, durch die die
Kirche getragen wird und die der ganzen Schöpfung gilt (S. 124). U.
spricht auch von der christagogischen Einheit. Der Sorna-Begriff
drückt sowohl die Abhängigkeit der Kirche von Christus als auch ihre
extensive Wirkung aus. In diesem Sinne ist ihre Einheit „somatisch".
Eine Schlüsselstellung hat in der Argumentation von U. Eph 1,23
(bzw. 1,10). Den Kontext in 1,3-23 untersucht er vor allem linguistisch
, wobei er mit der Analyse der Ausdrücke des Vernehmens und
der Mitteilung beginnt und dann über die Beobachtungen zum Personenwechsel
(1. Plur. und 2. Plur.) und die Wendung „in Christus" als
nähere Bestimmung der somatischen Einheit bis zu der Analyse der
literarischen Gattung des Epheserbriefes als einer „Mysterienrede"
(so schon H. Schlier) fortschreitet.

Im IV. Kapitel (Prayer, the Indispensable „Modus" of Transmitting
the Mystery of Christ) hebt U. hervor, daß der Förderung der in der
Gnade Gottes gegründeten „somatischen" Einheit der Kirche und der
ganzen Schöpfung die Fürbitte dient. Die schon bereitliegende Einheit
soll im Leib der Kirche durch den Geist verinnerlicht werden (S. 169).
Da das Denken des Epheserbriefes überwiegend sapiential ist, ist auch
die extensive Wirkung der Liebe Gottes in 3,18 räumlich ausgedrückt.
- In dem Epilog werden einige Konsequenzen der vorgelegten Exegese
für die Probleme der gegenwärtigen Kirche angedeutet. Das Heide-
Sein ist als die Unfähigkeit, die Wahrheit zu erkennen definiert, das
-in Christus"-Sein als Beantwortung der Frage nach dem Sinn des
Lebens usw.

Das Hauptanliegen der Arbeit ist durchaus positiv zu bewerten. U.
Will sowohl die Abhängigkeit der Kirche von Jesus Christus als auch
ihre Weltverantwortung unterstreichen, die sie nicht durch moralistische
Aufrufe, sondern gerade durch ihr Zeugnis über die Gnade Gottes
und durch die Ökumenizität ihrer Existenz erfüllen soll. Das entspricht
dem Anliegen des Epheserbriefes.

Leider ist U. in gewisser Hinsicht inkonsequent. Erzeigt z. B. deutlich
den Unterschied zwischen dem Epheserbrief und den paulini-
schen Homologoumena, besonders, was das räumliche Denken des
Epheserbriefes betrifft (er beruft sich dabei auf die diesbezügliche
Monographie von A. Lindemann), aber das Verhältnis zwischen der
Theologie des Epheser- und des Kolosserbriefes wird nicht näher
behandelt. Auch der Sprung von der Exegese zu praktischen Konsequenzen
in der Auffassung der Kirche ist manchmal zu groß, besonders
, wenn U. die ökumenische Diskussion zu diesem Problem nicht
be rücksichtigt. Den neuen Kommentar von R. Schnackenburg (EKK)
konnte er noch nicht berücksichtigen.

Corrigendunv. S. 28, 12. Zeile v. o. sollte im 2. Satz "the broad way", nicht
-the narrow way" stehen.

Prag Petr Pokorny

Kearns, Rollin: Die Entchristologisierung des Menschensohnes. Die,
Übertragung des Traditionsgefügcs um den Menschensohn auf
Jesus. Tübingen: Mohr 1988. V, 209 S. gr. 8 Kart. DM'78,-.

Seit einem Jahrzehnt befaßt sich Kearns mit dem Menschensohn-
problem, zunächst in einer Trilogie „Vorfragen zur Christologie"
(Tübingen 1978-1982; dazu z. B.C. Colpe in ThLZ 77, 198l,355ff),
dann in einer Studie „Das Traditionsgefüge um den Menschensohn"
(Tübingen 1986; dazu C. C. Caragounis in ThLZ 112, 1987, 342ff),
nun wohl abschließend, da das Neue Testament umfassend, in unserem
Band. Dieser baut - gegebenenfalls korrigierend (z. B. 8 Anm. 20
- vor allem auf der Studie'zum Traditionsgefüge auf, sofern diese (dort
5-54) schon eine erste Ordnung der neutestamentlichen Belege
suchte, ist aber zugleich in sich geschlossen gehalten.

Provokativ ist der Titel: Die Übertragung der Menschensohn-
bezeichnung auf Jesus gilt Kearns als „Entchristologisierung", da in
ihr „aus einem eigenständigen transzendental-eschatologisch epiphan
werdenden Wesen" - wie er es in den vorangehenden Bänden hinter
dem Menschensohn zu erschließen suchte - „ein Mensch (wurde), der
ein besonderes Geschick erleidet" (3). Man wird freilich fragen müssen
, ob eine solche Begriffsverschiebung für „christologisch" von der
Erfassung der Gestalt Jesu zur „transzendentalen" Hoheitsbezeichnung
(wobei transzendental für transzendent steht) hilfreich ist.

In sich beginnt die Studie noch einmal mit einer religionsgeschichtlichen
Untersuchung. Denn zwischen der in seinen älteren Studien
umrissenen Epiphanietradition und der christlichen Aufnahme sieht
Kearns einen komplizierten Wandel, den er im hellenistischen Judentum
verankert: Dieses „kontaminierte" das Traditionsgefüge um den
Menschensohn zum einen mit einer „Tradition des gewaltsam getöteten
und postmortal verherrlichten Gerechten", wie sie Weish 1,16 bis
5,23 belege (12-23,34-45), zum anderen mit einer „Tradition der
sich als Strafgericht offenbarenden Gottesherrschaft", wie sie
Sib 3,46-50.53-62 bezeuge (24-33,45-56). Direkte jüdische Kontaminationsbelege
kann Kearns freilich nicht aufweisen (die genannten
Stellen enthalten den Mcnschensohnbegriff nicht, und nach ihnen
stützt er sich vor allem auf indirekte Rückschlüsse aus dem Neuen
Testament).

In den Kontaminationen wird innerjüdisch der Menschensohn
einerseits zur menschlichen Gestalt, die gerecht ist und doch ein
gewaltsames Geschick erfährt, andererseits zum heiligen Gebieter, der
als Zeichen der Offenbarung der Gottesherrschaft erscheine. Weiterhin
werden neutestamentliche Belege zur Rekonstruktion beigezogen
.

Das ist Kearns möglich, da er davon ausgeht, die Übertragungen auf
Jesus (69-157) bildeten einen nochmals weiteren Schritt. Die neu-
testamentlichen Belege erhalten somit weithin ein doppeltes Bezugsfeld
, einerseits die jüdische Tradition, andererseits die (sekundäre)
Anwendung auf Jesus. Da letztere sich innerchristlich entwickelt, sind
wiederum Stadien zu unterscheiden (wobei Kearns schon für Überlieferungsschritte
vor den Evangelisten den Ausdruck Interpolation
gebraucht - z. B. 90,97 -, für die angenommene Bearbeitung des Mk
vor der Benützung durch Mt und Lk 105 ff von Randglossen spricht).
Bis ins Aramäische zurückgehende Überlieferungen seien nur
Mk 9,31; 13,26 und Mt 24,27/Lk 17,24 (59 u. ö.). Alle übrigen Belege
seien von Anfang an griechisch formuliert (60 u. ö.; man beachte die
Korrelation zu Kearns' Einsatz bei der jüdisch-hellenistischen Religionsgeschichte
), wie überhaupt „das Traditionsgefüge um den Menschensohn
in seinen (geschilderten) jüngeren Veränderungen" im
griechischen Sprachraum „auf Jesus übertragen" wurde. Die Eigendynamik
der innerchristlichen Entwicklung zielt schließlich auf eine
„traditionsmäßige Verwilderung", in der die johanneische Entwicklungslinie
(158-175) eine eigene Ausprägung bildet.

Als Sonderfall behandelt Kearns im Anhang (176-202) Mt 12,32
par; 8,20 par (für ihn das am sichersten Jesus zuzuschreibende Wort);
Mk2,10; 10,45; Lk 19,10; Mt 11,19 par: Hinter diesen Worten stehe
ein ursprünglich nichttitulares aramäisches brni, das in der Ver-