Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1989

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

693

Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 9

i

694

gische" Herleitung einer Zentralstellung Christi im Glauben habe T.
vor der grundlegenden Aufgabe christlicher Theologie schlicht kapituliert
, eine konstitutive Bedeutung der Person Jesus von Nazareth für
den Glauben aufzuweisen; nachdem T. alle traditionelle Inkarna-
tionschristologie, die Vorstellung einer absoluten, definitiv unüberbietbaren
Selbstoffenbarung Gottes in Jesus von Nazareth als mit der
Offenheit des historischen Bewußtseins unvereinbar erklärt habe,
habe er kein konstruktives Fundament für eine historismusadäquate
Christologie mehr zu legen vermocht und bei der Suche nach einer
neuen christologischen Begrifflichkeit nui negative Resultate erzielt
.

Auf diesem Hintergrund kann der Versuch der in Lancaster lehrenden
S. Coakley (= C), T.s Christologie systematisch zu rehabilitieren
bzw. als "highly instruetive for the making of Christology today" (4)
zu erweisen, nur als riskant bezeichnet werden. Von aktueller Relevanz
seien keineswegs nur T.s historistische Kritik aller dem Inkarnationsmodell
verpflichteten Christologien (103-135) und seine hohe
Sensibilität für den Pluralismus der Religionen, derzufolge alle absoluten
Geltungsansprirche faktisch nur partikular seien. Vielmehr
eröffneten auch seine konstruktiven Vorschläge für eine neue Christologie
, vor allem "hisseminal insights into the psychological and social
ramifications of Christology" (4). die faszinierende Perspektive eines
christologischen Denkens, das anders als der mainstream der Theologie
unseres Jahrhunderts geschichtliche Relativitätserfahrung wirklich
Ernst nehme (also weder durch existentialistisches Geschichtlichkeitspathos
noch durch unredliche Beschwörung dogmatischer Formeln
zu neutralisieren suche), ohne aber des Glaubens Bindung an
Christus relativistischer Beliebigkeit preiszugeben. C. behaftet T. bei
Einern Anspruch, durch Kant aufgeklärter Transzendentalkritiker
und konservativer Dogmatiker zugleich zu sein Sie tut dies mit intellektueller
Souveränität, frei von jenen Peinlichkeiten, die die Erinnerung
an fälschlich vergessene Leistungskraft bedeutender Theologen
der Vergangenheit häufig mit sich bringt.

Genau besehen fällt C.s Analyse von T.s Christologie sehr viel kritischer
als die Polemik der Gegner_von einst aus. T.s Argumente gegen
den dogmatischen Absolutismus des Inkarnationsdenkens seien ungenau
und widersprüchlich, und sein eigenes Christus-Bild enthalte
even more that is tantalizingly sketchy and elusive" (2). Am
schwächsten argumentiere er, wo er unreflekticrt noch den Spuren
Ritschis und verschiedener Ritschlianer folge. Stark sei er da, wo er
S'ch "from a typical 'Ritschlian' Christology" löse (191). Doch aufgrund
überzogener, nur biographisch erklärbarer Abwehrreaktionen
gegenüber Ritschlianern wie vor allem W. Herrmann habe T. der elementaren
Bedingung moderner Christologie nicht genügt: Seine christologischen
Aussagen seien nicht oder nur unzureichend mit der
Lehre von Gott verbunden, so daß T. in Kritik der alten Substanz-
Metaphysik zwar eine Leidensfähigkeit Gottes behaupte, diese aber
überhaupt nicht auf das Leiden Jesu beziehe (186). "Yet. the meansof
exPounding how, cxactly, the 'knowledge ofGod' isgiven its decisive
colouring 'in Christ' was something Troeltsch himsclf neveradequa-
tely or systematically providcd, for all his insistence on its primc and
central significance." (187) Wieso kann C. T.s Christologie gleich-
*bhl "a great positive potential" (4) zuerkennen?

Für die ältere Kritik der Christologie T.s sind zwei Einwände zentral
gewesen: T. habe den Glauben von geschichtlichem Wissen über
■'esus bzw. gar ein messianisches Selbstbewußtsein Jesu abhängig
gemacht und so den festen Grund frommer Glaubensgewißheit gegen
den schwankenden Boden der „Leben-Jesu"-Forschungeingetauscht;
Ur,d: spätestens durch die im Aarauer Vortrag über „Die Bedeutung
"er Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben" (1911) entwickelte
"Sozialpsychologischen" Argumentation habe T. Gottes einer defini-
tlver Selbstoffenbarung in Jesus von Nazareth ihre geschichtliche Singularität
genommen, bestreite die Exklusivität des in Jesus Christus
erschlossenen Heils und löse den christlichen Glauben "from any
'ntegral connections with the person of its founder" (141). Beide Einbände
(und zahlreiche andere "misconstruals" wie die, daß T. ein

Christentum ohne Christus gelehrt, Jesus rationalistisch zum Tugendregenten
herabgestuft, die Möglichkeit der Auferstehung dogmatisch
geleugnet-und überhaupt jeden Supranaturalismus philosophisch abgelehnt
habe) werden jedoch, wie C. in subtiler Interpretation aller
einschlägigen gedruckten Texte nachweist, T.s geschichtsmethodolo-
gischen wie christologischen Reflexionen nicht gerecht. T.s christolo-
gische Reflexionen seien im Kontext seiner schon in den frühen neunziger
Jahren einsetzenden Arbeit an Problemen der Geschichtsphilosophie
zu lesen. Dabei zeige sich, daß T. gerade nicht - wie etwa von
W. Pannenberg behauptet (62, 141, 179 u. ö.) - Jesus und Christus,
Person und Prinzip abstrakt getrennt, sondern in verschiedenen Anläufen
mehrfach neu "the reeiprocity of Person and Prinzip" (62)
betont, Jesus als die höchste uns zugängliche Gottesoffenbarung zu
erweisen versucht und damit auch für die Christologie am Anspruch
festgehalten habe, normative Allgemeinheit nicht (wie Rickert und
andere Neukantianer) abstrakt der Geschichte vorzuordnen, sondern
rein aus Geschichte zu gewinnen.

Große theologische Aktualität komme T.s historistisch reflektierter
Christologie aus zwei Gründen zu. Er habe sowohl die bleibende
Bedeutung von Gottes geschichtlicher Offenbarung in Jesus als auch
zugleich "the equal significance of the rieh imaginative plurality of the
'many Christs' of Christian tradition and contemporary piety" (192,
vgl. 164-187) wahrgenommen. Diesen "many Christs", dem geschichtlichen
Pluralismus der unendlich vielen Christusbilder des
Glaubens, gilt C.s besonderes Interesse. T.s große Leistung sei die Öffnung
der Theologie für die Sozialwissenschaften seiner Zeit gewesen.
Dabei habe erchristologischer Reflexion "completely new avenues of
approach" gezeigt, die man bisher aber nicht beschritten habe. Einen
solchen Weg skizziert C. unter dem (in Anlehnung an LeRoy Laduries
bekanntes Montaillou-Buch gebildeten) Leitbegriff der «christologie
totale»: Basis jeder Christologie müsse eine Phänomenologie des
Christus-Glaubens werden, die insbesondere "the more unconscious
forces" in "Christological expression", die unendliche Mannigfaltigkeit
individueller Gestalten innerer psychischer Beziehung auf Christus
zu beschreiben suche (194). Denn systematisch relevanter als das
Zentralproblem der neueren dogmatischen Christologie, die Zuordnung
von historischem Jesus und Christus des Glaubens, sei der Pluralismus
der frommen Christus-Bilder und die Frage, worin deren Einheit
liege.

C.s Dissertation ist die erste Gesamtdarstellung von T.s Christologie
überhaupt. Sie überzeugt durch ein methodisches Verfahren, das,
über die spezielle Christologie-Thematik hinaus, für die weitere
T.-Forschung von hoher Relevanz sein dürfte: Gegenüber einem weit
verbreiteten knterpretationsstil, in dem T., bemerkenswert unkritisch,
in sein'er eigenen Begrifflichkeit nacherzählt wird, unterzieht sie
Grundbegriffe seines Denkens einer akribischen Detailanalyse, wobei
sie sich an der neueren philosophischen Debatte über unterschiedliche
Formen von .Relativismus' orientiert. Einige von C.s Aussagen
zur Werkgeschichte, zum Ort von T.s Christologie innerhalb der
deutschsprachigen protestantischen Theologie seiner Zeit und zum
wissenschaftsgeschichtlichen Ort von T.s Programm einer interdisziplinären
Kulturtheologie wird man problematisieren müssen. Doch
ist ihr Buch, zusammen mit W. Wymans Dissertation "The Concept
of Glaubenslehre. Ernst Troeltsch and the Theological Heritage of
Schleiermacher" (Chico, California 1983), die mit Abstand beste
Untersuchung über den Dogmatiker Troeltsch, die es derzeit gibt.

Augsburg/München Friedrich Wilhelm Graf

Balthasar, Hans Urs von: Apokatastasis (TThZ 97, 1988, 169-182).

Barth. Hans-Martin: Vom Nutzen der Dogmatik bei der Prcdiglvorbcreitung
(PTh 77,1988,538-548).

Bayer, Oswald: Gegenwart: Schöpfüngals Anrede und Anspruch (Luther 59,
1988,131-144).

Ilauber. Reinhard: Christologie und metaphysischer GottcsbcgrifTbei Werner
Eiert (KuD 35,1989,128-163).
.liingcl. Eberhard: Nihil divinitatis. ubi non fides. Ist christliche Dogmatik in