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Ausgabe:

1989

Spalte:

43-44

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Recht und Glaube 1989

Rezensent:

Greschat, Martin

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Seite 1

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43

Theologische Lileraturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 1

44

Kirchengeschichte: Neuzeit

Rade. Martin: Ausgewählte Schriften. Bd. 3: Recht und Glaube. Mit
einer Einleitung hg. von C. Schwöbel. Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus Gerd Mohn 1988.211 S. 8*. Kart. DM 64.-.

Die interessante Auswahl aus dem Schrifttum Martin Rades kommt
mit diesem Band zum Abschluß. Die hier zusammengestellten elf Beiträge
aus drei Jahrzehnten verdeutlichen noch einmal besonders
schön die Fähigkeiten des Marburger Theologen: seine lebendige
Teilnahme am kirchlichen Leben mitsamt den oft erbitterten Auseinandersetzungen
: seine Bereitschaft zum Gespräch, zum Hören aufden
anderen Standpunkt; aber auch die Geradlinigkcit, mit der Rade seine
eigene Überzeugung verfolgte und verfocht. Im Grunde ist es ein einziges
Thema, das diesen Band durchzieht: Wie kann der freie, individuelle
Glaube bewahrt und geschützt werden? Das Mühen darum,
angesichts verschiedener historischer und kirchenpolitischer Herausforderungen
, ist regelrecht spannend zu verfolgen; beeindruckend ist
die Konsequenz, mit der Rade seine Position vertritt; aber unübersehbar
ist schließlich, daß er mit diesem Ansatz scheitern mußte. Der hier
als Wesen des Protestantismus proklamierte religiöse Individualismus
und Subjektivismus war - ganz abgesehen von seiner theologischen
Begründung - den sozialen und politischen Realitäten der Moderne
nicht gewachsen.

In seiner ausgewogenen Einführung (9-38), die zum Verständnis
der einzelnen Texte hinführt, spricht der Hg. von der „Paradoxie in
der Geschichte des Protestantismus", daß aus der Erfahrung der
unmittelbaren Glaubensgewißheit des einzelnen die Inspirationslehre
der Bibel und eine neue Lehrgesetzlichkeit entstand (II). Diese Feststellung
scheint mir das Problem zu verschieben. Denn für die Reformation
ebenso wie für die darauf folgenden Jahrzehnte der Kirchen-
und Theologiegeschichte ging es stets grundsätzlich um den Zusammenhang
von verbum internum und verbum externum, von innerer,
personaler, auch subjektiver Erfahrung also und äußerer Benennung,
um Inhalte also, mithin auch um Setzungen und Normen. Wo man
diese Dialektik nach der einen oder anderen Seite hin auflöste, wurde
und wird alles falsch. Eben das läßt sich deutlich an Rades Auffassung
ablesen. Seine geradezu hymnische Beschreibung des Glaubens als
eines Erlebnisses mit und in Christus, bereits im ersten Text dieses
Bandes - einem Beitrag von 1892 zum Apostolikumstreit (47-51)-
klammert die Inhalte dieses Glaubens aus, kommt erst im Zuge des
zeitlich und sachlich nachgeordneten Erkenntnisprozesses darauf zu
sprechen. Diese Beobachtung betrifft keinen Einzelfall. Rade spricht
vom christlichen Glauben und charakterisiert ihn immer wieder als
ein religiöses Erleben, dessen Inhalte und Konturen nicht konstitutiv,
vielmehr eindeutig nachgeordnet sind. ,,Reine Lehre" kann er sich
dementsprechend nur als personale und subjektive Glaubenserfahrung
denken (82-85). Den offenkundigen Widerspruch reflektiert
Rade nicht, daß er doch von Christus und christlichem Glauben
spricht, also immer auch von Inhalten und Normen! Stattdessen
behauptet er einen fundamentalen Gegensatz .zwischen den Lehrartikeln
derConfessio Augustana und der Verkündigung des ..lebendigen
Gottes in seiner Gnade und Wahrheit" (81).

Die Folgen dieser falschen theologischen, ja bereits erkenntnistheoretischen
Alternative sind beträchtlich. Rade hat aufgrund dieser
Position nicht nur kein Verständnis für den Sinn und die Bedeutung
des Rechts in der Kirche, sondern er sieht bereits in der Aufrichtung
eines Lehrsystems und erst recht in der Formulierung einer kirchlichen
Lehrnorm lediglich Machtstreben und Zwang. Folgerichtig
setzt er alles daran, die individuelle Freiheit und die subjektive Entfaltung
des Glaubens zu verteidigen. So irritierend einzelne Vorschläge
Rades bereits damals anmuteten: Alle ergaben sich folgerichtig
aus seinem theologischen Konzept des protestantischen Individualismus
und Subjektivismus als Prinzip. Alle diese Anregungen und
Forderungen - von der Beseitigung jeder Lehrnorm für Pfarrer und
Laien über die Freigabe jedweder Ketzerei und Hetcrodoxie bis hin

zur vollen Gleichstellung der Laien mit den Pfarrern in Predigt,
Sakramentenspendung und Amtshandlungen - bedrohten freilich
zugleich massiv die Sozialgestalt der Kirche. Rade nahm das in Kauf.
Gebauer gesagt: Er suchte die subjektivistische Auflösung der kirchlichen
Gemeinschaft durch den Auf- und Ausbau einer „sittlichen
Gemeinschaft" innerhalb der Kirche aufzufangen (1641), bemühte
sich um eine „Mannigfaltigkeit von Zusammenschlüssen Gleichgesinnter
" (209). Faktisch offerierte Rade damit sein Modell der
„Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt": ein Mindestmaß
an Zusammenhang und Einigkeit auf der Basis größtmöglicher individueller
Freiheit und religiöser Eigenständigkeit. Verbindend war die
Übereinkunft Gleichgesinnter, radikal ausgeschlossen alles, was auch
nur in die Richtung von Recht und Gesetz verwies. Die Geschlossenheit
dieses Konzepts hat etwas Bestechendes, zumal Rade davon
lebenslang nicht abwich. Modernität und fraglos auch Aktualität
eignet ihm gewiß, insbesondere was die Herausstellung der religiösen
Subjektivität anbelangt. Welche Verluste im Blick auf die Gestaltung
der Wirklichkeit allerdings ein derart individualistischer Ansatz mit
sich bringt, der die Dimension des Rechts grundsätzlich ausschließt,
machen Rades Ausführungen ebenso deutlich. Nicht zuletzt insofern
lohnt die intensive Lektüre dieses Bandes.

Gießen/Münster Martin Greschat

Goldhammer. Karl-Werner: Katholische Jugend Frankens im Dritten
Reich. Die Situation der katholischen Jugendarbeit unter besonderer
Berücksichtigung Unterfrankens und seiner Hauptstadt Würzburg
. Frankfurt/M.-Bern-New York-Paris: Lang 1987. 550 S.
m. Abb. u. Ktn 8' = Europäische Hochschulschriften, Reihe 23:
Theologie, 275. Kart. sFr. 79.-.

Die Dissertation von Karl-Werner Goldhammer ist eine umfangreiche
Lokalstudie zur Situation der katholischen Jugend Unterfrankens
unter nationalsozialistischer Herrschaft. Der Autor faßt den
Begriff der katholischen Jugend - Mannes- und Frauenjugend - weit,
behandelt aber doch vor allem die katholischen Jugendverbände: als
stärkste Bewegung den Katholischen Jungmännerverband (KJMV),
zu dem auch die Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg gehörte; weniger
Raum nehmen Quickborn und Neudeutschland ein. Eine gewisse
Rolle spielen auch die Marianischen Kongregationen, der süddeutsche
Verband weiblicher Jugendvereine „Weiße Rose" und die
berufsständischen Vereine, vor allem der Bayerische Burschenverband
. Nach den Tätigkeitsverboten 1935 und nach der Auflösung der
Vereine 1938/39 waren es im wesentlichen ehemalige Mitglieder, die
Kampf und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ertrugen
und provozierten. Die Studie versucht räumlich das Gebiet
Unterfranken abzudecken, dessen Quellen zu diesem Thema bisher
noch nicht systematisch ausgewertet worden waren.

Es handelt sich um eine vor allem auf „möglichst viele Einzelheiten
" ausgerichtete Studie. Zugleich wird jedoch versucht, die
Geschehnisse in größere Zusammenhänge zu stellen, auf ähnliche
Ereignisse in anderen Teilen Frankens, Bayerns oder des Reichs zu
verweisen. Goldhammer ordnet dieses Material unter zwei Perspektiven
: Im ersten Teil ist mehr das passive Erleiden der NS-Diktatur
dargestellt, im zweiten Teil wird die aktive Seite der katholischen
Jugendarbeit beschrieben. Es werden sechs Phasen (S. 3910 unterschieden
:

1. Anfang 1933 eine kurze Phase der Bereitschaft zur Mitarbeit.

2. Mitte 1933 Kampf um Recht und Bestand der katholischen Jugend.

3. Mitte 1935 Phase der Treue,

4. ab Ende 1936 olTene. neuorganisierte Jugendarbeit.

5. nach Aullösung der Verbände Anfang 1938 illegale Jugendarbeit.

6. verstärkt ab 1940 aktiver Widersland.

Das Ergebnis dieser Lokalstudie bekräftigt die Ergebnisse anderer
historischer Untersuchungen für das Rheinland oder andere Gebiete
Bayerns: Die katholische Jugend Unterfrankens hat dem totalitären