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Ausgabe:

1989

Spalte:

556-558

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Ebertz, Michael N.

Titel/Untertitel:

Das Charisma des Gekreuzigten 1989

Rezensent:

Baumbach, Günther

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 7

556

Das Buch umfaßt zehn Kapitel: [. Introduction: utie carte
elementaire. II. Acculturation. III. Adaptation. IV Incarnation. V.
Contextualisation. VI. Culture et liberation. VII. Explication. VIII.
Religion et culture. IX. Sainte indifference. X. Conclusion: le defi
post-colonial.

Hieraus wird deutlich, daß es das Anliegen des Vf. ist, Strategien zu
skizzieren, wie sie „von den abendländischen Missionaren gegenüber
den einheimischen Kulturen der Völker und der Stämme" angewandt
wurden und werden, „deren Teile zum Christentum konvertiert sind
und heute die Dritte Kirche bilden" (15). Zunächst (Kap. II) gilt das
Augenmerk einer «Strategie d'acculturation» (34), wie sie etwa für
Lateinamerika in der Epoche der „conquista" zu konstatieren ist. Das
heutige Urteil über die dort stattgehabte Christianisierung ist im allgemeinen
sehr negativ: Die Einheimischen übernahmen „christliche
Bilder oder Vokabeln" (35) usw., aber unter den neuen Formen lebte
die alte heidnische Religion weiter. Vf. bezweifelt die durchgängige
Richtigkeit dieses Urteils. Man dürfte sich nicht weigern, auch diese
Glaubensprägungen als „authentisch christliche (Formen) der kulturellen
Inkarnationen des Christentums" zu akzeptieren (36). Jedenfalls
dürfe die abendländische Form nicht als „alleinige Norm" und
„alleiniger Garant der Authentizität" (ebd.) christlicher Glaubensgestaltung
zu gelten beanspruchen.

In den Kap. III—V stellt Vf. Modelle des 20. Jh., besonders der
2. Hälfte desselben, für eine bessere Indigenisierung des Evangeliums
in der Dritten Welt vor, ausgehend von der Kritik und den Vorschlägen
des belgischen Franziskanermissionars P. Tempels, der von 1933
bis 1962 in der Provinz Katanga der damaligen Kolonie Belgisch-
Kongo tätig war (37ff). Auf einzelnes kann hier nicht eingegangen
werden; das Bemerkenswerte ist jedenfalls, daß Vf. an den Schluß
dieser immerhin fast 40seitigen instruktiven Ubersicht ein Zitat des
afrikanischen Theologen und Religionswissenschaftlers V. Mulago
setzt, in dem dieser auf der Überzeugung beharrt, daß das Christentum
allen gutgemeinten Bemühungen zum Trotz zu den Menschen der
Dritten Welt in Formen gebraucht werde, die man nach wie vor als
«europeo-americains» bezeichnen müsse (73 f).

In Kap. VI wird der Blick des Lesers besonders nachdrücklich auf
die Dritte Welt in ihrer Gesamtheit - Lateinamerika, Afrika und
Asien - gelenkt. Vf. gelangt zu dem Ergebnis, daß Übereinstimmung
in der Nichtübereinstimmung zu konstatieren ist, was die Sicht des
Verhältnisses von «culture populaire et liberation» (100) angeht.
Einerseits gewinne man den Eindruck, die Auffassungen seien
«irrevocablement incompatibles» (ebd.), andererseits aber, es gebe
eine Tendenz zu «syntheses et consensus» (ebd.). So wird das sehr vorsichtige
Resümee verständlich: „Es ist schwer vorherzusagen, in
welche Richtung die Problematik sich in Zukunft entwickelt"
(ebd.).

In Kap. VIII wagt Vf. die These, eine „christliche Theologie der
Religionen, erarbeitet aus der Perspektive des Theozentrismus", sei
durchaus in der Lage, auf förderliche Weise „in Relation zum Kulturproblem
der Dritten Kirche" zu treten (127). In Anbetracht der
Unschärfe des Begriffs „Theozentrismus" läßt diese These in Wahrheit
nicht viel erhoffen. Dagegen ist dem Vf. nachdrücklich beizupflichten
, wenn er am Schluß des Kap. geradezu leidenschaftlich zu
einem „authentischen interreligiösen Dialog" aufruft (128).

Im Schlußkapitel kann Vf. guten Gewissens sagen: „Unser Zweck
war rein informativ" (142). Man spürt allenthalben auf wohltuende
Weise „Sorge um Objektivität und Neutralität" (ebd.). Die Studie
erreicht gerade auf diese Weise, dem Leser zu verdeutlichen, wie ungeheuer
bedrängend und erregend die hier aufgeworfenen Fragen sind.
Vf. schließt mit dem Aufruf an die Theologie, den Problemen weiterhin
ebenso beharrlich wie geduldig nachzugehen. Die durch die Inkulturationsproblematik
gegebene Herausforderung könne anderfalls zu
einer Polarisierung von solcher Schärfe führen, daß im Vergleich
damit die gegenwärtige Diskussion um die Theologie der Befreiung
lediglich „ein bescheidener Heuschnupfen" sei (143).

In Anbetracht der großen Sachkenntnis, die das Buch überzeugend

nachweist, und der beeindruckenden Unvoreingenommenheit in der
Darstellung der Situation kann man nur wünschen, daß Vf. die Arbeit
an dieser Thematik, die im kommenden Jahrtausend ohne Frage eines
der Schlüsselprobleme der Kirche sein wird, zielstrebig fortsetzt.

Leipzig Siegfried Krügel

Religions- und Kirchensoziologie

Ebertz, Michael N.: Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie
der Jesusbewegung. Tübingen: Mohr 1987. XI, 308 S. gr. 8" =
WUNT.45. Lw. DM 148,-.

Diese von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität
Konstanz angenommene Dissertation greift auf das von Max Weber
entwickelte Konzept der „charismatischen Bewegung" zurück und
will - zugleich als „Gegengewicht" gegen G. Theißens Arbeiten - „in
das theologische, religionswissenschaftlich und zeitgeschichtlich vorinterpretierte
Quellenmaterial vorwiegend der synoptischen Evangelien
als einen gleichsam erkenntnisleitenden Magneten das ... Konzept
der .charismatischen Bewegung'" hineintragen (11). Dabei
bedient sich Vf. des folgenden Aufbaus:

Nach einer Einleitung, die sich mit der Thematik und Problematik
einer Soziologie der Jesusbewegung befaßt (1-14), bietet er in Teil 1
eine Skizze der Entstehung und Rezeption des Konzepts der charismatischen
Herrschaft (15-51). „Charisma" wird hier als „ein herrschaftliches
Beziehungsphänomen" (170, als „ein persönliches Beziehungsphänomen
" (180 und als „ein .Negativ'-Phänomen" (20fD
begriffen, das die „Ablehnung der Bindungen aller äußeren Ordnung"
und die „innere Unterwerfung der Beherrschten" inkludiert (23).
Dieser „negativen Bestimmung des Charismabegriffs" entsprechen
„auf der Handlungsebene ... Satzung und Tradition ignorierende und
nihilisierende Einstellungen, Intentionen und Aktivitäten" (230- Da
es um ausschließliche Bindung an eine konkrete Führerperson geht,
hängt die Akzeptanz eines solchen charismatischen Führers von
seinem „Erfolg", der meist in Wundern, Zeichen und Wohlergehen
gesehen wird (24), sowie von seiner Vorbildwirkung (26) bzw. von
seiner Autorität als Prophet (27) ab. Eine so geleitete Gruppe kann
nur als eine-nicht auf Dauer angelegte - Bewegung begriffen werden,
die ihre charismatische Bestimmung durch Preisgabe der Stabilitas
Loci, durch Ausbruch aus den gewohnten Sozialbindungen und der
ökonomischen Vorsorge zum Ausdruck bringt.

Dieses Charisma-Konzept Webers verbindet Vf. mit den devianz-
soziologischen Thesen von W. Lipp, die den Zusammenhang von
„Stigma" und „Charisma" betonen, sowie der Stigma-Theorie von
E. Goffman, um dann diese Vorgaben in Kap. II zur Erhellung der
„Binnen- und Außenstruktur der charismatischen Gruppe um Jesus
von Nazareth" (53-110) anzuwenden. Eine zentrale Feststellung
lautet: „Nicht im Thema und Ziel der charismatischen Verkündigung
, sondern in alternativen Mitteln und Wegen der Zielerreichung
und darin im Gegensatz zu und im Bruch mit der Täuferbewegung
manifestierte und konstituierte sich ein entscheidendes Element der
kollektiven Identität der entstehenden Jesusbewegung, einschließlich
der neuen Identität des Jesus als prophetischer Führer" (70). In den
Unterabschnitten dieses Kapitels kommt Vf. auf die „charismatische
Rekrutierung der Jesusjünger" - ausgewählt wurden „solche Personen
, für die die kollektive Marginalitätserfahrung der galiläischen
Juden mit Marginalitätserfahrungen ihrer persönlichen Lebenssituation
zusammentraf, so daß „die spezifisch charismatische Rekrutierung
selbst... eine Stigmatisierung darstellte]" (83.85) - auf die
„charismatische Binnenstruktur" - „Aufrechterhaltung einer dicho-
tomen, autokratischen ... Struktur" als „soziale Konkretisierung
einer. . . ,theokratischen' Wertbindung" (93) - auf die „charismatischen
Binnen- und Folgeprobleme" sowie auf die mäzenatische
Konstellation und die Publikums-Konstellation zu sprechen und
erblickt in den „ortsansässigen mäzenatischen Jesus-Sympathisan-