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Ausgabe:

1989

Spalte:

531-533

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Göggelmann, Walter

Titel/Untertitel:

Christliche Weltverantwortung zwischen sozialer Frage und Nationalstaat 1989

Rezensent:

Grözinger, Albrecht

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Theologische Literaturzeitung 114. Jahrgang 1989 Nr. 7

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römischer Kirchen" zum Ausdruck (V, 647). Hartmut Boockmann
informiert über Ablaßfälschungen im 15. Jahrhundert". Der Erfurter
Theologe Johann von Paltz bestätigte dem Kurfürsten Friedrich
dem Weisen, daß man Gottes Gnade durch Ablaß erwerben könne (V,
659). Paltz berief sich dabei fälschlich auf Papst Gregor I. Ablaßfälschungen
waren „im ausgehenden Mittelalter außerordentlich selten"
(662). Boockmann nennt drei auf den Namen des Nicplaus Cusanus
gefälschte Ablaßurkunden (663 f)- Verdächtig waren mitunter Ablässe
vom Deutschen Orden. Die jüngere Wiener Tafel des Deutschen
Ordens enthält folgenden Ablaß: Papst Julius II. versprach „für drei
Gebete, für die ein Nikolaus von Cues bestenfalls zehn Tage Ablaß
gegeben hätte, dreißigtausend Jahre, und dieser Ablaß war gewiß
ebenso echt wie die eingangs erwähnten fast zwei Millionen Jahre
Ablaß in Wittenberg. Der Ablaß im mittelalterlichen Sinne ist nicht
an den Ablaß-Fälschungen zugrunde gegangen, sondern an seiner
Inflationierung . . ." (V, 667).

Rostock Gert Haendler

Kirchengeschichte: Neuzeit

Göggelmann, Walter: Christliche Weltverantwortung zwischen Sozialer
Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich Naumanns
1860-1903. Baden-Baden: Nomos 1987. 352 S. gr. 8" = Schriften
der Friedrich-Naumann-Stiftung. Wissenschaftl. Reihe. Kart.
DM 86,-.

Der Vf. versteht seine Untersuchung, die eine leicht veränderte Fassung
seiner Tübinger Dissertation aus dem Jahre 1984 darstellt, als
einen „Beitrag zur Geschichte der evangelischen Ethik an der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert" (19). Daß dies am Beispiel von Friedrich
Naumann versucht wird, erweist sich als höchst fruchtbar. Zum
einen ist für den angesprochenen Zeitraum Naumann einer der profiliertesten
Denker am Schnittpunkt von Theologie und Politik. Zum
anderen nötigt dessen an Selbstkorrekturen und Spannungen reiches
Denken jeder Generation eine eigenständige Auseinandersetzung ab.
Nicht von ungefähr grenzt sich der Vf. gleich zu Beginn gegen einige
geläufige Naumann-Interpretationen ab. In Karl Barths Aufsatz „Vergangenheit
und Zukunft" (1919) sieht er das Verständnis für die
authentische Problemsituation Naumanns hinter dem Pathos eines
theologischen Neuaufbruchs verschwinden. Die Naumann-Biographie
von Theodor Heuss (1937) versuche die Theologie als schnell
abgestoßene Eierschalen der Frühzeit Naumanns zu bagatellisieren.
Dies sei auch in Werner Conzes Naumann-Essay (1950) der Fall.
Gewichtigstes Gegenüber im Pro und Contra ist dem Vf. jedoch die
Studie von Hermann Timm aus dem Jahre 1967 „Friedrich Naumanns
theologischer Widerruf" (TEH NS 141). Timms Studie
komme einerseits das Verdienst zu, Naumann der Theologie wiedergewonnen
zu haben. Auf der anderen Seite wird kritisiert, daß Timm
Naumanns Denken einseitig aus der Mmjgeschichte des 19. Jh.
heraus verstehe. Dem setzt der Vf. eine pointierte These entgegen:
„Der ,Sitz im Leben' von Naumanns theologisch-ethischer Reflexion
bleibt die ständig unter den Anforderungen der Praxis stehende
soziale und politische Verantwortung. Das aber muß sich auch in der
inneren Struktur dieser Reflexion selbst ausprägen." (30) Damit hat
der Vf. zugleich auch über den methodischen Ansatz seiner Naumann
-Interpretation Auskunft gegeben. Wie sieht diese Analyse nun
im einzelnen aus?

Der Vf. verfolgt einen in der Naumann-Forschung gerne beschrit-
tenen und bewährten Weg der Darstellung: nämlich das Abschreiten
des biographischen Horizontes, der die Zäsuren auch des Denkens
von Naumann eindeutig markiert. Von hier aus erfährt die Interpretation
ihre innere und äußere Gliederung. Kap. I (45-64) skizziert die
Naumann vorausgehende Evangelisch-Soziale Bewegung anhand
ihrer Hauptvertreter Wichern, Todt und Stöcker, wobei der Vf.

zugleich zeigt, daß diesen kein hinreichendes analytisches Instrumentarium
zur Verfügung stand, die gesellschaftlichen und politischen
Veränderungen, kurz das, was die „Soziale Frage" genannt wurde,
wirklich zu begreifen. An diesem Defizit entzündete sich die theoretische
Leidenschaft Naumanns. Kap. II (65-116) stellt die ersten Versuche
Naumanns dar, einen denkerischen Ansatz zum Begreifen der
sozialen Wirklichkeit zu gewinnen: Reich-Gottes-Gedanke und
Innere Mission sowie ein Aufnehmen von Elementen der Theologien
Schleiermachers und Ritschis seien dafür kennzeichnend, wobei Naumann
an einem harmonischen Ideal der Integration von Gegensätzen
orientiert sei. Kap. III (117-171) analysiert die voll entwickelte
„Christlich-soziale Weltanschauung" Naumanns. Immer deutlicher
trete nun die Differenz zwischen Staat und Gesellschaft in das Blickfeld
Naumanns. Er erkenne zunehmend, daß die sozialen Realitäten
nicht mehr länger von einem konservativen Staatsgedanken aus zu
gestalten seien. An die Stelle des abstrakten Reich-Gottes-Gedankens
trete die historische Figur des (vor allem synoptischen) Jesus als
„Typus des Christlich-Sozialen" (128), wobei Naumann zweifellos in
die Gestalt Jesu seine eigenen Erfahrungen eingezeichnet habe.
Immerhin gelinge es Naumann, „die soziale Frage als Arbeiterfrage
und somit als Strukturfrage der Gesellschaft" (170) zu begreifen.
Kap IV (173-224) macht anschaulich, wie sich ab 1895 der christlichsoziale
Gedanke bei Naumann allmählich zu zersetzen beginnt. Bei
dieser Analyse setzt sich der Vf. am deutlichsten von der Interpretation
Timms ab, der die Krise in Naumanns Denken hervorgerufen
sieht durch die Konfrontation mit M. Weber und R. Sohm, die ihm
quasi von außen einen „theologischen Widerruf (Timm) abnötigen.
Demgegenüber behauptet der VfL, es stelle „sich der Abbau der
Christlich-sozialen Weltanschauung als ein Prozeß der endogenen
Selbstzersetzung in verschiedenen Schüben dar, in denen an verschiedenen
Punkten exogene Impulse von Weber und Sohm klärend, korrigierend
und weiterführend - eine Art Katalysatorfunktion ausübend -
eingreifen" (173)-und führt für seine These überzeugende Belege und
Argumente an. Kap. V (225-334) rückt die national-soziale Phase
Naumanns in den Mittelpunkt, die markiert ist durch die Wendung
weg vom Plärrberuf und hin zum (Partei-) Politiker. Zentraler Bezugspunkt
im Denken Naumanns wird - von M. Weber aktiv unterstützt
und gedrängt gleichermaßen - der Gedanke der nationalen Machtpolitik
, d. h. konkret: Naumann macht das Deutsche Reich in seiner
imperialistischen Ausprägung zur unhinterfragbaren Grundlage seiner
politischen Theorie und Praxis. Die Theologie, die - so der Vf.
- gleichwohl nicht vollständig verlorengehe, könne nur noch in der
Spannungzu den politischen Notwendigkeiten ausformuliert werden.

Das abschließende Kapitel VI (335-343) versucht kurz- wohl allzu
kurz!-so etwas wie eine Gesamtdeutung Naumanns. Der Vf. versteht
Naumanns Denken als einen „der letzten großen Versuche . . ., einem
ganz Mitteleuropa umfassenden, fast alle Lebensgebiete umgreifenden
inneren Auflösungsprozeß durch neue Synthesen entgegenzuwirken"
(335). Daran ist Naumann gescheitert, und daran mußte er wohl
scheitern - so die These des Vf., der der Rez. nur zustimmen kann.
Gerade in seinem Scheitern sei jedoch von Naumann zu lernen. Der
eindeutige Imperativ, der aus der Analyse von Naumanns Denken
folge, laute: „So kann nur die Entwicklung ethischer Modelle mit zeitlich
begrenzter Tragfähigkeit und einer entsprechenden Entwicklungsfähigkeit
die Verpflichtung cler christlichen Ethik gegenüber
Staat und Gesellschaft einlösen" (342). Wohl wahr! Doch ist hier der
Vf. nicht zu optimistisch? Haben wir wirklich unsere Lektion aus dem
Scheitern Naumanns schon gelernt? Der Rez. hat da seine Zweifel-
Vielleicht rächt es sich an dieser Stelle, daß der Vf. seine Analyse mit
dem Jahre 1903 enden läßt und so die Entwicklung von Naumanns
ästhetisch-individualistischer Innerlichkeits-Religion nur am Rande
in den Blick bekommt. Gerade diese von Naumann publikumswirksam
formulierte Form der Religion war ja ein wesentlicher Bestandteil
der von Thomas Mann so benannten „machtgeschützten Innerlichkeit
", die in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hineingeführt hat.
Und erleben wir gegenwärtig in unserer Welt an der Schnittstelle von